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# taz.de -- Krise in der Ukraine: Klassenkampf auf der Krim
> Prorussische „Volksmilizen“ übernehmen die Kontrolle im ukrainischen
> Simferopol. Die Krimtataren fürchten um ihre Existenz.
Bild: Krimtataren beim Freitagsgebet in der Nähe von Simferopol
SIMFEROPPOL taz | Eine drückende Atmosphäre herrscht während der Nacht in
Simferopol, der Hauptstadt der Autonomen Republik Krim in der Ukraine. Kein
Polizist patrouilliert mehr in den oft heruntergekommen Wohngebieten.
Andere haben diese Aufgabe übernommen und verbreiten unter den Krimtataren
Angst und Schrecken. Sie nennen sich „Volksmiliz“. Mittlerweile existieren
auf der Krim elf „Brigaden“, jeweils aus 150 Mann bestehend. Ihr
Erkennungszeichen sind Tarnkleidung, Springerstiefel und Russlandfahnen.
Oleg, ein bulliger und forscher Mann Mitte 40, ist der Anführer der 6. und
10. „Brigade“ in Simferopol. In nur wenigen Tagen haben sie die Kontrolle
über alle wichtigen öffentlichen Plätze in der Innenstadt übernommen und
die Zentrale der ukrainischen Küstenwache umstellt. Doch die dort
stationierten ukrainischen Soldaten haben sich geweigert, sich zu ergeben.
Selbst der tagelange Druck der „Volksmiliz“ sowie ihrer Verbündeten, der
schwer bewaffneten vermeintlich russischen Soldaten, haben die Treue zur
Übergangsregierung in Kiew nicht erschüttern können.
Während Oleg seinen Männern befiehlt, sich ordentlich am Straßenrand
aufzustellen, erklärt er, warum die „Volksmilizen“ auf der Straße sind:
„Wir wollen unsere Heimat, die Krim, gegen die Banditen von Kiew schützen.
Diese Aktivisten auf dem Maidan sind doch alle nur Faschisten und
antirussische Rassisten.“ Dann versucht er, den Unterschied zwischen der
„Volksmiliz“ und den Demonstranten in Kiew zu verdeutlichen: „Sie tragen
Sturmmasken, um ihre Gesichter zu verstecken, und bekommen Geld von reichen
Einzelpersonen. Wir aber zeigen unsere Gesichter offen – und uns
unterstützen einfache Bürger mit Lebensmitteln und Zigaretten.“
Seine Ansichten bleiben nicht unwidersprochen. Direkt neben der
„Volksmiliz“ sitzt ein Dutzend Personen, überwiegend Frauen. Auf Postern
zeigen sie ihre Solidarität mit den ukrainischen Soldaten und der neuen
Regierung in Kiew. „No War“ oder „Putin, Hände weg von der Ukraine“ st…
darauf. Maxim, einer der wenigen Männer unter den Aktivistinnen, sagt: „Wir
wollen zeigen, dass nicht alle Leute auf der Krim Putin und die russische
Invasion unterstützen. Russisch ist meine Muttersprache, aber meine Nation
ist die Ukraine. Diese prorussischen Milizen sind die wirklichen
Kriegstreiber.“
Plötzlich kochen die Emotionen hoch. Auslöser sind die Milizionäre. Einer
beschimpft eine proukrainische Frau als dreckige Prostituierte und versucht
sie unsanft vom Bürgersteig zu schieben. Hinter ihm skandieren weitere
Männer lautstark Parolen wie „Russland, Russland“. Oleg scheint nicht
willens, jetzt einzuschreiten. Im Gegenteil ermutigt er sie. Und die Miliz
hat Erfolg – die Kiew-Treuen müssen die Straßenseite wechseln, während die
„Volksmiliz“ das Gebäude der Küstenwache endgültig abriegelt. Aljona, die
Frau, die als Prostituierte beschimpft wurde, sagt: „Letzte Nacht haben
diese Schläger die Polizei gerufen, um uns unter Druck zu setzen. Die
Polizei hat die Seite gewechselt und arbeitet nun für Russland. Aber wir
sind geblieben. Daher greifen sie jetzt zu Drohungen und Gewalt.“
## Schläge und Siege
Während beide Gruppen immer mehr Zulauf erhalten und sich unversöhnlich
gegenüberstehen, spitzt sich die Lage zu. Ein weiterer Milizführer, Samvel
H., schlägt brutal auf den stellvertretenden Parlamentspräsidenten von
Odessa, Aleksei Goncharenko, ein. Der ist nach Simferopol gekommen um seine
Solidarität mit den proukrainischen Aktivisten zu bekunden. Die wenigen
Polizisten vor Ort sind mit der Situation überfordert und tendieren eher
dazu, der „Volksmiliz“ recht zu geben. Am Ende müssen sich die
Maidan-Unterstützer zurückziehen, und die „Volksmiliz“ erringt einen
weiteren Sieg in der Stadt.
Während sich die Nachrichten meist auf die geopolitische Spannung zwischen
Russland und dem Westen konzentrieren, ist vor Ort die Spaltung der
Gesellschaft die Hauptbedrohung. Diese spiegelt jedoch nicht nur eine
politische Teilung wider, sondern vielmehr einen Klassenkampf: Die
„Volksmilizen“ rekrutieren sich überwiegend aus der Arbeiterschicht,
während die Kiew-Treuen meist gut gebildete Mittelständler und Studenten
sind. Doch eine dritte Kraft ist mittlerweile zum entscheidenden Faktor
geworden; das sind die Krimtataren.
Bis zu Stalins Herrschaft lebten die „Ureinwohner“ der Krim problemlos mit
ihren russischen und ukrainischen Nachbarn. 1944 änderte sich das radikal:
Alle Krimtataren wurden in Arbeitslager im Ural und in Sibirien deportiert.
Bis 1947 starb etwa die Hälfte der Deportierten. Dieses Verbrechen hat die
ethnische Zusammensetzung auf der Krim für immer verschoben: Die einst
dominierenden Tataren sind jetzt in der Minderheit, die Russen bestimmen
den Alltag. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine konnten die Tataren
zurückkehren, wurden aber weiter diskriminiert.
Abduraman Egiz, der westlich ausgebildete und herzlich wirkende Leiter der
Abteilung für Internationale Zusammenarbeit der Krimtataren, besteht
darauf, dass die Diskriminierung eine rein politische, keine ethnische sei:
„Seit der Unabhängigkeit lebten wir in Frieden mit allen unseren Nachbarn
hier. Das einzige Problem waren immer die politische Diskriminierung und
die Weigerung, uns das Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen.“ Das
ukrainische Parlament blockiere einen Gesetzesvorschlag für ein Friedens-
und Versöhnungskomitee seit Jahren. „Und jetzt behaupten diese
prorussischen Schläger, dass die Russen auf der Krim diskriminiert werden.
Das ist völliger Quatsch“, meint er.
## Ruf nach dem Westen
„Besonders alte Menschen trauen sich jetzt nachts nicht mehr auf die
Straße. Nur der Westen oder die Türkei können jetzt helfen, durch
Diplomatie und Sanktionen.“ Er macht eine kurze Pause, seine Stimme wird
drängender: „Aber der Westen muss schnell handeln, um einen richtigen Krieg
zu verhindern!“
Bis jetzt steht die gesamte Gemeinschaft der Tataren hinter ihren
politischen Führern und boykottiert die neu vereidigte prorussische
Krimregierung wie auch den neu eingesetzten Ministerpräsidenten Sergei
Axjonow. „Wenn die Diplomatie versagt und die Gewalttaten zunehmen“, fährt
Abduraman fort, „hängt unser Überleben, sowohl physisch als auch kulturell,
von einer echten Intervention des Westens ab. Nur er kann uns jetzt helfen,
denn die Übergangsregierung in Kiew hat keine Mittel, um uns zu
beschützen.“
Obwohl ein Krieg im Moment unwahrscheinlich ist, bleibt die Spirale der
Gewalt in Bewegung. Denn die schnelle Umformung der Krim unter russischer
Führung läuft nicht überall so glatt wie geplant. Die ukrainischen Soldaten
in den umzingelten Militärbasen geben sich resolut und sind bereit zu
kämpfen.
Der Führer der „Volksmiliz“, Oleg, fordert von ihnen: „Sie können entwe…
kapitulieren und sich später der neu zu errichtenden Krim-Armee
anschließen“, oder sie nähmen als Zivilisten die russische
Staatsbürgerschaft an. Mit einem harten Lachen hebt er seinen dritten
Finger: „Oder sie erhalten eine sichere Passage, um in die Westukraine
auszuwandern. Natürlich ohne Waffen oder Ausrüstung.“
Und diese stetige Eskalation erscheint genau geplant: Die prorussischen
Milizen sehen sich berechtigt, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen und
Gewalt anzuwenden. Damit vertiefen sich die Spannungen weiter. Und dann, in
einem letzten Schritt, wenn Ausschreitungen und Gewalt außer Kontrolle
geraten, hat Russland die notwendige Legitimation, um die Krim vollständig
militärisch zu besetzen und von der Ukraine abzuspalten. Am Ende stünde
eine Umordnung des geopolitischen Raums auf Kosten der lokalen Bevölkerung.
Oder, wie Oleg es formulieren würde, werden damit endlich das russische
Recht und die russische Ordnung zurück auf die Krim gebracht.
7 Mar 2014
## AUTOREN
Benjamin Hiller
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