| # taz.de -- Ein brasilianischer Blick auf die WM: Größenwahn und Ahnungslosig… | |
| > Ex-Präsident Lula hat sich von Fußball-Bossen verführen lassen, seine | |
| > Nachfolgerin agiert hilflos. Vom brasilianischen Volk ist die WM weit | |
| > entfernt. | |
| Bild: Vorne Favelas, hinten WM: das Maracanã-Stadion | |
| SAO PAULO taz | Lula da Silva, der bis 2011 Präsident Brasiliens war und | |
| die WM in seine Heimat geholt hat, hat sich von den brasilianischen | |
| Fußballbossen stets verführen lassen. Dilma Rousseff, die aktuelle | |
| Präsidentin und wie Lula in der Arbeiterpartei PT, hält dagegen Distanz zu | |
| den Funktionären. | |
| Das Verhältnis des Staates zur Führung des brasilianischen Fußballs ist | |
| irgendwie schizophren. Lula wusste ganz genau, wer diese bedauernswerte | |
| Figur Ricardo Teixeira, bis 2012 Chef des Fußballverbandes, war. Ein | |
| sinistrer Typ, der den Posten 2011 wegen der Verstrickung in | |
| Korruptionsaffairen verlassen musste. Und doch ließ er sich auf ihn ein. | |
| Warum war Lula Arm in Arm mit Teixeira zu sehen und warum hat er dazu noch | |
| eine Lotterie gegründet, die Timemania, damit die Vereine ihre | |
| astronomischen Schulden beim brasilianischen Staat, etwa zwei Milliarden | |
| Euro, begleichen können? Warum hat Lula nicht mit Teixeira gebrochen, | |
| obwohl er doch wusste, dass er dafür auf der Straße gefeiert werden würde? | |
| Selbst wenn Lula zum Pragmatismus gezwungen war, um die brasilianische | |
| Oberschicht nicht zu verschrecken, dafür, dass er nicht mit dem Fußballpack | |
| gebrochen hat, gibt es keine Entschuldigung. Er hätte es tun müssen. | |
| Doch Lula hoffte zunächst auf einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat wegen der | |
| hübschen Idee, 2003 die brasilianische Nationalmannschaft in das verwüstete | |
| Haiti zu verfrachten. Dann übte er den Schulterschluss mit Teixeira, | |
| nachdem der Fußballpate Stars in den Präsidentenpalast geschleppt hatte, um | |
| dort grün-gelbe Bälle und Trikots zu signieren. Als schließlich Brasilien | |
| den Zuschlag für die WM bekommen hatte, schwelgte Lula in der Illusion, der | |
| Welt ein aufstrebendes Brasilien vorzuführen. | |
| ## Das teuerste Turnier aller Zeiten | |
| In seinen Reden behauptete er wider besseres Wissen, private Geldgeber | |
| würden die WM bezahlen. In Wahrheit öffnete er die öffentlichen Kassen für | |
| die Ausrichtung des teuersten Turniers aller Zeiten. Gebaut wurden | |
| mindestens fünf Stadien, die nach der WM nicht mehr wirklich gebraucht | |
| werden: in Brasília, Cuiabá, Natal, Manaus und Recife. | |
| Er ließ zu, dass São Paulo, wo bereits das Morumbi-Stadion steht, eine neue | |
| Arena bekommt, und zwar für seinen Leib-und-Magen-Verein Corinthians. Er | |
| hat zugesehen, wie das Maracanã in Rio de Janeiro und der Mineirão in Belo | |
| Horizonte praktisch abgerissen wurden, damit man sie in moderne und | |
| belanglose Arenen verwandeln konnte, ganz nach dem Geschmack der Fifa und | |
| vor allem der Baukonzerne. | |
| Dilma Rousseff muss das nun ausbaden. Obwohl sie in der achtjährigen | |
| Regierungszeit Lulas eine einflussreiche Ministerin war, ist sie als | |
| Staatschefin auf die fahrende Trambahn aufgesprungen und muss jetzt dafür | |
| sorgen, dass diese ohne größere Unfälle ans Ziel kommt. | |
| Sie hat sich nie mit Teixeira verstanden und war darauf bedacht, ihn nie im | |
| Planalto-Palast zu empfangen. Das spielte vermutlich eine gewichtige Rolle | |
| bei der Entscheidung des Verbandschefs, alles aufzugeben, um nach Boca | |
| Ratón, Florida abzuhauen. | |
| ## Funktionär mit Diktaturerfahrung | |
| Doch die Präsidentin muss noch eine dickere Kröte schlucken. Sie macht | |
| keinen Hehl daraus, dass sie Teixeiras Nachfolger ebenfalls nichts | |
| abgewinnen kann, dem vielseitigen José Maria Marin, der während der | |
| Diktatur Gouverneur von São Paulo war. Sie mag ihn nicht und sie empfängt | |
| ihn nicht, aber sie wird Marin aushalten müssen, zum Beispiel am 12. Juni | |
| bei der Eröffnung der WM im Corinthians-Stadion. | |
| Da wird sie neben dem Mann stehen, der einst den Polizisten Sérgio Paranhos | |
| Fleury lobte. Fleury hat Rousseffs Ex-Mann Carlos Araújo foltern lassen, | |
| einen Widerstandskämpfer gegen die Militärs. Als sie im Juni 2013 an der | |
| Seite von Sepp Blatter und Marin den Confederations Cup eröffnete, da wurde | |
| Dilma trotzdem gnadenlos ausgepfiffen. Das Duo Lula/Dilma ist | |
| verantwortlich für eine WM in Brasilien, die nicht annäherungsweise eine WM | |
| für Brasilien sein wird. | |
| Das Fest, das die Welt in den Stadien sehen wird, wird meilenweit von dem | |
| entfernt sein, was auf den Straßen des Landes passiert. Die werden | |
| wahrscheinlich von einer neuen Protestwelle überflutet werden, genauso wie | |
| letztes Jahr während des Confed-Cups. In dem Maß, wie die Bevölkerung von | |
| der prachtvollen Ausstattung der WM-Arenen Wind bekam, war sie auf die | |
| Straße gegangen, um Krankenhäuser, Schulen und einen öffentlichen | |
| Nahverkehr „auf WM-Niveau“ zu fordern. | |
| ## Ein fauler Deal | |
| Die WM in Brasilien wird also die teuerste der Geschichte werden. Sie | |
| kostet so viel wie die drei letzten Championate zusammen. Die Rechnung für | |
| Brasilien wird sich auf 40 Milliarden Dollar belaufen. Diese Daten stammen | |
| aus einer Studie des brasilianischen Bundessenats. Das Turnier wird fast | |
| vollständig durch öffentliche Mittel finanziert. Schlimmer noch: Die | |
| Stadien werden zwar direkt oder indirekt mit dem Geld der Bevölkerung | |
| gebaut, aber die versprochenen Infrastrukturprojekte wurden eins nach dem | |
| anderen aufgegeben, weil sie so groß und die Mittel dafür so gering waren. | |
| Diese WM ist zudem das Ergebnis eines faulen Deals zwischen Blatter und | |
| Teixeira: Der Funktionär verpflichtete sich, nicht für den Vorsitz der Fifa | |
| zu kandidieren, und sorgte zusammen mit seinem großen Fußball-Verbündeten | |
| Julio Grondona aus Argentinien dafür, dass sich auch kein anderes | |
| südamerikanisches Land um die WM bewarb. So ermöglichte er die Wiederwahl | |
| des Schweizers und erhielt im Gegenzug die WM. | |
| Es war der Größenwahn der Regierung Lula, die zur absurden Situation der | |
| übers Land verteilten Stadien, die bald schon Weiße Elefanten sein werden, | |
| führte, in einer ironischen und tragischen Wiederholung dessen, was die | |
| Diktatur in den 70er Jahren tat. Mit dem Unterschied, dass damals die | |
| Proteste verboten und militärisch verhindert wurden – 1970 unter dem | |
| Vorwand, Brasilien solle durch den Fußball zusammengebracht werden. | |
| ## Absurder Pelé | |
| Jenes Fiasko dürfte sich nun wiederholen. Stimmen wie die von Pelé erheben | |
| sich gegen die WM-Proteste, doch ihre Aussicht auf Erfolg ist gering. Der | |
| König, wie man ihn aufgrund seiner Spielkünste nennt, ging sogar soweit zu | |
| behaupten, dass Fußball und Politik nichts miteinander zu tun hätten und | |
| dass der Fußball nicht von der chronischen Korruption in Brasilien | |
| betroffen wäre. Wie absurd! | |
| Rousseff ist verloren – und sie hat obendrein keine Ahnung von Fußball. Sie | |
| hat Anfängerfehler begangen und wurde deshalb von der Fachpresse verhöhnt. | |
| Im Januar sagte sie, dass Brasilien fünf Mal den Jules-Rimet-Cup errungen | |
| hat und ließ dabei die Tatsache außer acht, dass dieser Pott just 1970 mit | |
| dem dritten Erfolg endgültig in den Besitz Brasiliens übergegangen ist. | |
| Ihre Kulturministerin Marta Suplicy, die in Sachen Fußball ebenso unbedarft | |
| ist, erklärte, die Kritik an den Kosten für das neue Maracanã in Rio sei | |
| fehl am Platze, da es sich um den ersten Umbau des Stadions seit 60 Jahren | |
| handle. In Wirklichkeit wurde das Maracanã seit 1999 bereits zweimal | |
| umgebaut – für den Fifa-Vereinsweltpokal 2000 und die Panamerika-Spiele | |
| 2007. | |
| ## Zwei verschiedene Weltmeisterschaften | |
| Die Fifa hat Angst, dass sich die WM in einen Irrtum verwandeln könnte. Sie | |
| setzt darauf, dass die Fußballverrücktheit der Bevölkerung die Proteste | |
| eindämmen könnte. Doch alles deutet darauf hin, dass sich die Stimmung von | |
| 2013 wiederholen wird, womöglich in noch größerem Ausmaß. Was zu zwei | |
| verschiedenen Weltmeisterschaften führen wird: einer in den Stadien mit | |
| einer ausgelassenen Stimmung – und einer anderen außerhalb mit Protesten. | |
| Vielleicht lernt die Fifa ja auf diese Weise dazu, wer weiß. Denn es | |
| springt ins Auge, dass der Verband bei der WM-Kür Länder mit einem prekären | |
| Sozialgefüge vorzieht – Südafrika, Brasilien und Russland. Ganz zu | |
| schweigen von Katar, wo das Geld ganz leicht aus den Ölquellen sprudelt. | |
| Das alles zum Nutzen der Baukonzerne und Politiker. | |
| Die Überraschung liegt im Falle Brasiliens in der Fehleinschätzung der | |
| Geschichte des Landes, dessen Image mit Karneval, Fußball, schönen Stränden | |
| und halbnackten Frauen assoziiert wird. Nichts ist verkehrter: Brasiliens | |
| Vergangenheit ist durch Volksaufstände gekennzeichnet. Alleine in den | |
| letzten 30 Jahren sind die Brasilianer immer wieder auf die Straße | |
| gegangen, zuerst, um direkte Präsidentschaftswahlen und dann die Absetzung | |
| eines gewählten, aber in Korruptionsfälle verwickelten Präsidenten zu | |
| fordern. | |
| Lulas und Rousseffs Arbeiterpartei spielte dabei eine entscheidende Rolle. | |
| Heute ist die Partei freilich das Opfer einer Realpolitik, die sie vehement | |
| betrieben hat. Sie unterscheidet sich nicht mehr von den anderen Parteien. | |
| Die Bevölkerung hat profitiert von der Sozialpolitik der PT, aber jetzt | |
| will sie mehr. | |
| Gekürzter Vorabdruck aus: Gerhard Dilger/Thomas Fatheuer/Christian | |
| Russau/Stefan Thimmel (Hg.), [1][Fußball in Brasilien. Widerstand und | |
| Utopie], erscheint im Mai im VSA-Verlag. | |
| 6 Apr 2014 | |
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