# taz.de -- Die WM 2014 naht: Großspurig sechsspurig | |
> Es gibt viele brasilianische Baustellen und Bauvorhaben, die auf dem | |
> WM-Ticket laufen. Nicht alles wird fertig, nicht alles ist sinnvoll – wie | |
> die Linha Viva. | |
Bild: „Es ist, als ob sie hier die Berliner Mauer errichten“, sagt ein Bewo… | |
SALVADOR taz | „Für uns hört die WM nicht mit der WM auf“, sagt Adriana | |
Nogueira. Leicht entnervt steuert sie ihren Kleinwagen durch den dichten | |
Verkehr. Es ist Mittagzeit, die Klimaanlage kommt kaum gegen die brütende | |
Hitze an. „Seit Brasilien den Zuschlag für die Austragung der Spiele | |
bekommen hat, verändert sich die Stadt: Die Altstadt wird herausgeputzt, | |
überall werden schicke Hochhäuser und neue Straßen gebaut.“ Bis zum ersten | |
Spiel im Juni wird nur das Stadion fertig sein. Der Umbau der Stadt aber | |
wird noch viele Jahre weitergehen. | |
Die Stadt scheint auf tausend Hügeln errichtet. Durch kurvenreiche Täler | |
schlängeln sich Straßen, an den Hängen liegen die Wohnviertel. Mal sind es | |
schicke Wohnanlagen, die aus umzäunten Hochhäusern bestehen, mal eine | |
Ansammlung unverputzter Häuschen, das typische Bild der Favelas, der | |
Armenviertel. Ein wildes Durcheinander. Und dann der Strand. Fast 30 | |
Kilometer Küste umsäumen Salvador. | |
Die drittgrößte Stadt Brasiliens ist einer von zwölf Austragungsorten der | |
Fußball-Weltmeisterschaft 2014, die deutsche Mannschaft wird hier zu ihrem | |
ersten Vorrundenspiel gegen Portugal antreten. Salvador da Bahia liegt im | |
Nordosten, der ärmsten Region des Landes, ist aber eine der ältesten Städte | |
des Kontinents. Die portugiesischen Eroberer hatten hier ihre erste | |
Verwaltungszentrale. In Salvador sind vier von fünf Einwohnern Schwarze, | |
nirgendwo sonst in Brasilien leben mehr Nachfahren der hierher | |
verschleppten Sklaven. | |
In unzähligen Terreiros – kleine, oft improvisierte – werden die Orixás | |
verehrt, die Götter der afrobrasilianischen Religionen. Auch der Tanzkampf | |
Capoeira und die Perkussionsmusik, die durch Gruppen wie Olodum oder Ilê | |
Aiyê weltbekannt geworden ist, gehören zu Salvador wie der Samba zu Rio de | |
Janeiro. | |
## Ausschließlich für Privatverkehr | |
Adriana schaut auf die Hochbahntrasse, die auf hässlichen Betonpfeilern dem | |
Lauf der Durchgangsstraße folgt. „Das ist unsere neue U-Bahn.“ Seit über | |
zehn Jahren werde daran gebaut, die Gleise seien sogar schon verlegt. „Aber | |
keiner weiß, wann sie fertig wird. Wahrscheinlich nie. Das ist es, was wir | |
Korruption nennen.“ | |
Adriana – in Brasilien benutzt niemand den Nachnamen, selbst die | |
Präsidentin wird Dilma genannt – ist Lehrerin. Nebenbei promoviert sie in | |
Stadtentwicklung. Ihr Thema: die Favela Saramandaia. „Ich hatte mir dieses | |
Stadtviertel ausgesucht, um mich ganz auf die Stadtplanung konzentrieren zu | |
können.“ Die Politik sollte draußen bleiben. | |
Aus dem Plan wurde nichts. Mit der WM holte die Stadtregierung den Plan | |
einer Schnellstraße wieder aus der Schublade. Die Linha Viva soll das | |
Stadtzentrum mit den Außenbezirken verbinden, ein sechsspuriger Korridor – | |
gebührenpflichtig und nur für den Privatverkehr, damit keine Busse die | |
freie Fahrt behindern. | |
## In Saramandaia hat niemand ein Auto | |
Die Favela Saramandaia würde durch das Bauvorhaben in zwei Teile | |
zerschnitten. 3.000 Menschen sollen aus ihren Häusern vertrieben werden. | |
Die Bewohner haben begonnen, sich gegen das Projekt zu wehren. Sie wissen: | |
Die Schnellstraßen werden für andere gebaut, für die Autobesitzer, die | |
woanders wohnen und die Maut bezahlen können. In Saramandaia profitiert | |
davon niemand. Im Gegenteil, Bauschutt und Lärm würden das Leben erheblich | |
erschweren. | |
So ist Adriana wieder zur Aktivistin geworden. „Stadtplanung live“, scherzt | |
sie. Am Eingang der Favela hat sie neben einem übel riechenden | |
Müllcontainer geparkt, holt Stapel von Flugblättern und Plakaten aus dem | |
Kofferraum und stapft die steile Straße bergauf. | |
Hoher Besuch ist angesagt. Diese Woche soll Raquel Rolnik kommen, die | |
UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen. Sie besucht Salvador, | |
um einige der umstrittenen Baumaßnahmen in Augenschein zunehmen: die | |
Modernisierung der Altstadt, in der die alteingesessenen Bewohner um ihren | |
Verbleib bangen. Zwei Stadtviertel, in denen die Gemeinden der Quilombolas | |
– die Nachfahren einst entflohener Sklaven – im Zuge der Stadterneuerung | |
vertrieben werden sollen. Und Saramandaia, wo um die Linha Viva gestritten | |
wird. | |
Adriana ist in Saramandaia bekannt, die 42-Jährige wird nicht kritisch oder | |
gar feindselig beäugt wie andere, die nicht zur Favela gehören. Dennoch | |
fällt sie auf. Ihr schulterlanges Haar ist dunkelblond, ihre Hautfarbe | |
weiß. Oder „nichtschwarz“, wie Leute aus der Anti-Rassismus-Bewegung gern | |
sagen. | |
## Die meisten Favelabewohner sind unpolitisch | |
In der ersten Eckkneipe wird Adriana schon erwartet. Aktivisten aus dem | |
Stadtteilkomitee, in der Mehrzahl Frauen, nehmen ihr einige Papierstapel | |
ab. Es sei wichtig, viele Leute zu mobilisieren, damit die Veranstaltung | |
mit Raquel auch in der Presse Erwähnung findet, murmelt Isabel. Sie ist | |
Studentin, hat lange, geflochtene Haare und trägt ein Top, ganz kurze | |
Jeansshorts und Gummilatschen. So gehe sie auch in die Fakultät, obwohl | |
dann alle sähen, dass sie aus einer Favela komme. „Wir verstecken uns nicht | |
mehr“, sagt sie stolz. „Sie wollen uns immer unsichtbar machen, und in den | |
Medien tauchen wir nur auf, wenn es um Kriminalität geht. Aber wir sind die | |
Mehrheit, da wird sich Brasilien dran gewöhnen müssen.“ | |
Die Straßen sind eng, oft nur Gänge, die in Treppenstufen übergehen. Trotz | |
der Nachmittagshitze sind viele Menschen unterwegs oder sitzen vor den | |
Hauseingängen. Einige nehmen die Flugblätter höflich entgegen, andere | |
schauen bewusst weg. Die Aktivisten sind nur eine kleine Minderheit in | |
Saramandaia, die meisten sind unpolitisch. Die Veranstaltung mit Raquel | |
Rolnik soll dem Widerstand neuen Schwung bringen. „Viele Leute haben Angst, | |
sich zu organisieren“, kommentiert Adriana. Das läge vor allem an der | |
Polizei, die mit Willkür und brutalen Einsätzen die Bewohner einschüchtere. | |
In einer Grundschule ist gerade Pause, die Kids toben auf dem engen, | |
umzäunten Schulhof. Die Linha Viva soll nur rund hundert Meter entfernt von | |
hier längs gehen, das Schulgebäude müsste abgerissen werden. Luis da Silva | |
ist dort Hausmeister, er zeigt hoch zu den Hochspannungsmasten. „Die Straße | |
soll genau unter den Stromkabeln gebaut werden. Damit werden auch noch die | |
letzten Grünflächen verschwinden.“ Luis lebt seit 30 Jahren in Saramandaia. | |
„Was wir hier brauchen, sind Abwasserversorgung, Investitionen in | |
Gesundheit und Bildung.“ | |
## "Wir nutzen die WM" | |
Die Linha Viva diene nur den Interessen der Immobilienspekulanten, ist er | |
überzeugt. Neue Einkaufszentren in zentraler Lage. „Aber wir werden uns | |
nicht vertreiben lassen. Statt wie früher den schönen Versprechungen der | |
Politiker zu glauben, gehen wir auf die Straße und nutzen die WM, um auf | |
die verfehlte Stadtpolitik aufmerksam zu machen.“ Möglich, dass die | |
Stadtverwaltung vor der WM die Konfrontation vermeiden wird. | |
In einer anderen Schule, die von der katholischen Kirche Italiens | |
unterstützt wird, ist der Empfang verhaltener. Dort soll die Veranstaltung | |
mit der UN-Sonderberichterstatterin stattfinden, doch im Sekretariat weiß | |
niemand etwas davon. Die Plakate seien doch schon gedruckt, argumentiert | |
Adriana. Mit wem das vereinbart worden sei? Fast kommt es zum Streit. | |
Kopfschüttelnd zieht Adriana weiter. „Politikmachen ist mühsam, man beginnt | |
immer wieder von vorn.“ | |
Ein paar hundert Meter weiter hat das Kulturprojekt „Arte Consciente“ | |
(„Bewusste Kunst“) seinen Sitz. Hier können Kinder und Jugendliche Trommeln | |
lernen, es gibt Akrobatik- und Capoeirakurse. In dem dreistöckigen Haus | |
wurden zwei Sporträume improvisiert und notdürftig mit Matten ausgelegt. | |
Trotz der offenen Fenster ist es stickig und riecht nach Schweiß. „In | |
Saramandaia gibt es kaum einen Ort, wo sich Kinder austoben können“, | |
erklärt Alex Pereira Lima. „Viele kommen einfach zum Spielen hierher.“ | |
## Wie die Berliner Mauer | |
Als Jugendlicher lernte Alex in einem ähnlichen Projekt Zirkuskunst und | |
wurde später Musiker. Jetzt leitet er selbst das Kulturprogramm bei „Arte | |
Consciente“. „Ich liebe diese Arbeit. Oft bleiben die Jugendlichen | |
jahrelang bei uns und geben ihr Wissen dann an andere weiter. Doch | |
eigentlich ist es Aufgabe des Staates, solche Bildungsarbeit zu machen.“ | |
Alex rückte seine Rasta-Frisur zurecht. Mehrere Tätowierungen schmücken | |
seine muskulösen Arme. In Gedanken versunken faltet er eines der | |
Flugblätter, die Adriana mitgebracht hat. Er zählt auf: kein Geld für | |
Bildung, kein Geld für Gesundheit, kein Geld für öffentliche Verkehrsmittel | |
und auch keines für Sicherheit. „Aber für eine Schnellstraße, die das Leben | |
bei uns zur Hölle machen wird.“ | |
Nicht nur in Saramandaia, auch in den anderen 27 Favelas, die von der Linha | |
Viva zerschnitten würden. „Es ist, als ob sie hier die Berliner Mauer | |
errichten.“ Alex ist die Wut anzumerken. „Wenn die Jugendlichen auf der | |
Straße gammeln und in Kontakt mit dem Drogenhandel kommen, dann heißt es, | |
sie seien kriminell, gewalttätig. Dabei ist es die Regierung, die hier | |
Gewalt ausübt.“ | |
Adriana hat ihren Rundgang beendet. Sie bedauert, dass sie nicht mehr | |
Flugblätter und Plakate mitgebracht hat. Jetzt muss sie ihren Sohn abholen, | |
nicht weit weg, aber doch mindestens 30 Minuten, wegen des Verkehrs. Ist | |
sie fußballbegeistert? Ja, immer noch, alle Spiele will sie sich anschauen, | |
im Fernsehen, zu Hause. „Trotzdem beginnen wir nachzudenken. Es ist auch | |
die Fußballbegeisterung, die es möglich macht, uns vorzugaukeln, dass solch | |
absurde Vorhaben wie die Linha Viva notwendig sind“, sagt Adriana. Sie | |
zitiert die jüngste Umfrage. Mittlerweile sind 38 Prozent der Brasilianer | |
gegen die Fußball-WM im eigenen Land. | |
15 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
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