# taz.de -- Gewalt in Brasilien: Ende der Befriedungseuphorie | |
> In den befriedeten Favelas von Rio wird wieder geschossen. Betroffene | |
> hinterfragen das Sicherheitskonzept der Regierung. | |
Bild: In Rocinha, Rios größter Favela, folterte die Polizei 2013 einen Bauarb… | |
RIO DE JANEIRO taz | Die vielgerühmte Befriedung der Armenviertel in Rio de | |
Janeiro zeigt erste Risse. Nach Jahren zumindest oberflächlicher Ruhe kommt | |
es in den von der Polizei besetzten Favelas immer häufiger zu Schießereien. | |
Allein Ende vergangener Woche wurden zwei Militärpolizisten erschossen. | |
Seit Juli 2012 sind es bereits zehn Uniformierte, die im Dienst der UPPs, | |
der Befriedungspolizei namens Unidade de Polícia Pacificadora, getötet | |
wurden. | |
Sicherheitssekretär José Beltrame lässt sich nicht beirren und verteidigt | |
das UPP-Programm: „Die Reaktion der Drogenbanden zeigt, dass unser | |
Sicherheitskonzept ihren Nerv getroffen hat.“ Unter keinen Umständen werde | |
jetzt klein beigegeben, so Beltrame. | |
Für diesen Donnerstag kündigte er die Besetzung einer weiteren Favela an, | |
der berüchtigten Vila Kennedy, weit im Westen von Rio de Janeiro. Dort | |
kommt es seit Wochen zu Zusammenstößen zwischen verfeindeten Gangs, Busse | |
werden angezündet, über die Opfer in der Bevölkerung gibt es kaum | |
Nachrichten. | |
Vor 50 Jahren wurde das Stadtviertel im Bezirk Bangu gegründet. Eine | |
endlose Reihe von Sozialbauten für diejenigen, die damals in Favelas nahe | |
dem Stadtzentrum wohnten und im Zuge einer Modernisierungswelle geräumt | |
wurden. Inzwischen leben in der Vila Kennedy über hunderttausend Menschen. | |
## Polizei und korrupte Politiker profitierten | |
Die UPP in der Vila Kennedy wird die 38ste in Rio de Janeiro sein. 2008 | |
begann das Befriedungsprogramm der Armenviertel, mittlerweile sollen 1,5 | |
Millionen Menschen offiziellen Angaben zufolge unter der Regie des neuen | |
Sicherheitskonzeptes leben. Zuvor kontrollierten Drogengangs die Gebiete, | |
und der Staat ließ die Willkürherrschaft der schwerbewaffneten Kriminellen | |
jahrzehntelang gewähren. | |
Kaum jemand bezweifelt, dass Teile der Polizei und korrupte Politiker von | |
dem Handel mit Drogen und Waffen profitierten. Der Status Quo war für viele | |
ein gutes Geschäft und diente zugleich der Stigmatisierung der Armen als | |
potenzielle Verbrecher - auf Kosten der Menschen in den Favelas, die | |
entweder von den Banden oder der Polizei gegängelt oder auch umgebracht | |
wurden. | |
Erst als Brasilien den Zuschlag für die Fußball-WM und Rio für die | |
Olympischen Spiele bekam, musste gehandelt werden. Fast die Hälfte der | |
Einwohner von Rio de Janeiro lebte in Stadtvierteln außerhalb der | |
staatlichen Kontrolle und ohne öffentliche Dienstleistungen wie | |
Abwasserversorgung oder angemessene Transportmittel. Die UPPs sollten das | |
in arm und reich, in Favelas und Asphalt gespaltene Rio de Janeiro wieder | |
vereinen. Kaum ein Schuss fiel bei der Besetzung der angeblich | |
uneinnehmbaren Festungen des Drogenhandels. | |
Die Anfangseuphorie dauerte nicht lange. Zwar gelang es, die Territorien | |
zurückzugewinnen und die Gewalt durch strikte Waffenkontrollen einzudämmen. | |
Doch die Bewohner erwarteten vom Staat mehr als bloße Polizeipräsenz. Eine | |
Verbesserung der Lebensqualität, Sozialleistungen oder auch nur mehr | |
Respekt gegenüber den mehrheitlich schwarzen Menschen in den Favelas haben | |
die UPPs kaum gebracht. Vor allem fehlt es an Mitbestimmung, denn der Staat | |
kam als eine Art Besatzungsmacht in die Favelas. Die Bewohner werden nur | |
selten befragt, was ihre dringendsten Wünsche sind. | |
Auch das Image der UPP-Mitglieder als bessere, ehrlichere Polizisten ist | |
längst vergangen. In der Rocinha, der größten Favela der Stadt, haben sie | |
Mitte vergangenen Jahres einen Bauarbeiter zu Tode gefoltert und das | |
Verbrechen vertuscht. Der UPP-Kommandant und über zehn Untergebene wurden | |
festgenommen, nachdem der Druck in der Öffentlichkeit zu groß geworden war. | |
„Der Fall Amarildo ist kein Einzelfall,“ sagt Rita de Castro, eine | |
Menschenrechtsaktivisten in der Rocinha. „Sie wollten ihn einfach | |
verschwinden lassen, so wie viele andere auch, die vermisst werden.“ Immer | |
wieder gebe es illegale Hausdurchsuchungen, viele Bewohner würden einfach | |
festgenommen und misshandelt. „Wir leiden hier seit Jahrzehnten unter | |
Polizeigewalt. Daran hat auch die UPP nicht viel geändert,“ erklärt Rita de | |
Castro. | |
13 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
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