# taz.de -- Gentrifizierung in Rio de Janeiro: Erst Drogenbosse, jetzt Spekulan… | |
> Die Befriedung von Rios Favelas zeitigt erste Früchte. Doch nun sind die | |
> Armenviertel ins Visier von Immobilienspekulanten geraten. | |
Bild: Von Spekulanten entdeckt: die Favela Morro da Providência in Rio de Jane… | |
RIO DE JANEIRO taz | Es ist einer dieser Postkartenblicke von Rio de | |
Janeiro: auf der einen Seite die dicht bebaute Stadtlandschaft mit den | |
grünen Hügeln, auf der anderen der blaue Atlantik, dazwischen ein weißer | |
Streifen, der Strand von Ipanema. Für ganze 12 oder 15 Euro kann man sich | |
daran sattsehen. So viel kostet die Nacht im Guesthouse Alto Vidigal. | |
Noch dazu ist es der ideale Ort zum Wandern, Klettern, Baden und für das | |
Sightseeing in der Millionenmetropole. Die schicken Stadtviertel der | |
Südzone mit ihren Stränden, Restaurants und Geschäften liegen gerade mal | |
fünfzehn Minuten entfernt. Und oberhalb locken die Gipfel der markanten | |
Felsen Dois Irmãos, umgeben von den Ausläufern des tropischen Regenwalds | |
Floresta da Tijuca. | |
Nur die Anfahrt ist unkonventionell: Am Fuß des Hügels steige ich auf ein | |
Motorrad, ein korpulenter Mann, dessen Gesicht ich unter dem Helm nur vage | |
erkennen kann, fährt mich für umgerechnet einen Euro den Berg hinauf, | |
vorbei an meist unverputzten Behausungen, bescheidenen Läden, Snackbars. | |
Hier und da steht Sperrmüll oder ein ausgeschlachtetes Auto am Straßenrand, | |
in regelmäßigen Abständen tauchen Polizeistationen auf. | |
Vidigal ist eine von rund 350 Favelas in Rio. Die ersten Hütten entstanden | |
hier in den 1930er Jahren, nach und nach kamen mehr dazu. Auch wenn es | |
immer wieder Versuche gab, die Menschen in der Nähe des eleganten | |
Stadtviertels Leblon und in unmittelbarer Nachbarschaft des Sheraton Hotels | |
umzusiedeln, haben sich die Bewohner standhaft zur Wehr gesetzt. | |
So drängen sich heute um die 35.000 Menschen auf dem Hügel. Dicht an dicht | |
schmiegen sich die Häuser aneinander, für Straßen und Plätze ist nur wenig | |
Platz. Doch für die mangelnde Lebensqualität entschädigt häufig der | |
Panoramablick. | |
Wie im Fall des Guesthouses Alto Vidigal. 2011 hat Andreas Wielend damit | |
begonnen, das Hostel zu betreiben – und damit offensichtlich ins Schwarze | |
getroffen. Nicht allein, dass seine Betten gut ausgelastet sind. Auch die | |
Partys, die hier regelmäßig stattfinden, finden regen Zuspruch. | |
Gleichzeitig sind die Gebäude, aus denen sich die eher bescheidene | |
Unterkunft zusammensetzt, um ein Vielfaches im Wert gestiegen. | |
## Ein Objekt der Begierde | |
„Von einst 40.000 Reais auf etwa eine Million oder mehr“, schätzt der | |
Österreicher. Demnach wäre sein Hostel heute statt 14.000 um die 350.000 | |
oder sogar 500.000 Euro wert. Jedenfalls steht außer Frage, dass | |
Grundstücke wie das Guesthouse Alto Vidigal, auf das vor zehn Jahren keiner | |
etwas gegeben hätte, zum Objekt der Begierde geworden sind. So sehr, dass | |
es sogar zu einem ernsthaften Zwist zwischen dem Österreicher und einem | |
Berliner gekommen ist, für den die brasilianische Zeitung O Globo sogar den | |
Vergleich mit der Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland herangezogen | |
hat. | |
Alles begann, als Rolf Glaser, Gründer der Berliner Pfandkredit-Anstalt | |
Exchange AG mit siebzehn Leihhäusern in Deutschland, vor einigen Jahren | |
etwa sechzig Gebäude in Vidigal erwarb. Als sich abzeichnete, dass in den | |
Favelas in absehbarer Zeit Frieden einkehren würde, wollte er hier | |
investieren. | |
## In den Sand gesetzt | |
„Deutscher Millionär Rolf Glaser kauft Armenviertel von Rio“, titelte | |
beispielsweise die Bild-Zeitung am 13. Februar 2009 und berichtete, dass | |
der Pfandhaus-König, der in Rio als „Retter der Armen“ gefeiert würde, aus | |
den Wellblechhütten ein Urlaubszentrum mit Luxushotels machen wolle. Was | |
dann offensichtlich an den Behörden scheiterte. „Rolf Glaser gibt auf – | |
Investition von 1,1 Millionen in Sand gesetzt“, hieß es daraufhin im Forum | |
[1][www.brasil-web.de]. | |
Glaser zog sich von dem Projekt zurück und verkaufte 2010 die Gebäude | |
wieder. Unter anderem an Andreas Wielend, der hier dann sein Hostel | |
eröffnete. Doch als der im September 2012 von einem Urlaub aus Österreich | |
zurückkam, erlebte er eine unangenehme Überraschung: Der deutsche | |
Vorbesitzer hatte versucht, erneut von dem Haus Besitz zu ergreifen. „Er | |
warf mir vor, es gar nicht bezahlt zu haben. Außerdem hat er mich bei der | |
Polizei als Drogendealer angezeigt. Ich fühlte mich auch persönlich von | |
seinen Leuten bedroht“, erinnert sich Wielend an den Beginn eines langen | |
Rechtsstreits, der noch immer nicht abgeschlossen ist. | |
## Die Konkurrenz schläft nicht | |
Immerhin kann er inzwischen sein Guesthouse wieder betreiben. Und nachdem | |
es geplündert, zum Teil zerstört worden war, hat er es hergerichtet und | |
verschönert. Denn die Konkurrenz schläft nicht: „Wir suchen Kellner, | |
Zimmermädchen, Rezeptionisten und Sicherheitsleute“ steht auf einem Schild | |
an dem Rohbau eines mehrstöckigen Gebäudes in seiner Nachbarschaft. | |
Dort verwirklicht Antônio Rodrigues, Besitzer der Restaurantkette Belmonte, | |
was Rolf Glaser vorschwebte: Gemeinsam mit dem Architekten Helio Pellegrini | |
baut er ein Fünf-Sterne-Hostel mit Swimmingpool und einer der schönsten | |
Aussichten von Rio. | |
Der Fall Vidigal ist beispielhaft für das, was zurzeit in vielen Favelas | |
von Rio passiert. Seitdem die UPP, die Befriedungseinheiten der Polizei, | |
die Viertel besetzt und die ausschließliche Machtstellung der Drogenbosse | |
gebrochen haben, sind in den Armensiedlungen friedlichere Verhältnisse | |
eingekehrt. So frei, wie ich mich in Vidigal zu Fuß oder mithilfe von | |
Mototaxis bewegen kann, kann ich auch im Complexo do Alemão in der Nordzone | |
von Rio mit der Gondelbahn von einem Hügel zum anderen schweben, mich in | |
dem großen Gebiet von vierzehn Favelas umsehen, hier einen Saft trinken, | |
dort ein Misto quente, einen gemischt belegten Toast, essen und mit den | |
Anwohnern reden. | |
## Satellitenschüsseln und Klimaanlagen | |
„Seit der Pacificação, der Befriedung der Favelas durch die | |
Polizeieinheiten, ist hier überall neues Leben mit kleinen Läden, Friseuren | |
oder Nagelstudios entstanden“, meint Arnaldo Bichucher, der in Rio als | |
Guide arbeitet und die Entwicklung in den Favelas genau beobachtet. Er | |
zeigt auf die vielen Satellitenschüsseln und Klimaanlagen, die aus dem | |
Häusermeer ragen – Zeichen für neue Kaufkraft und eine aufkeimende | |
Mittelschicht. Neben den Polizeistationen fällt ein 3-D-Kino ins Auge, | |
außerdem die Praça do Conhecimento, eine Art Bildungszentrum. | |
Wer sich bei Betreten des vorbildlich sauberen Gebäudes ausweist, kann hier | |
mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unter der Aufsicht ausgebildeter | |
Sozialarbeiter kostenlos an Computern der neuesten Apple-Generation | |
arbeiten, mit ihrer Hilfe Tanzschritte einstudieren oder Filme zu | |
produzieren lernen. | |
„Viele behaupten, die Befriedung der Favelas sei nur Kosmetik, mit der die | |
Stadt ihr Image für die Fußball-Weltmeisterschaft und die Olympischen | |
Spiele aufpolieren will“, weiß Arnaldo. „Mag sein, dass die Großereignisse | |
tatsächlich der Anlass waren, um nach Jahren der Untätigkeit etwas zu | |
unternehmen. Aber ich glaube nicht, dass danach wieder alles wie vorher | |
wird. Es gibt keinen Weg zurück.“ | |
Nicht allein, dass die Polizei weitgehend die Kontrolle über die | |
befriedeten Favelas hat – mit mehr oder weniger Akzeptanz der Bevölkerung, | |
die mit den Ordnungshütern oft genug schlechte Erfahrungen gemacht hat. | |
Gemeinsam mit den Touristen, die immer häufiger in Favela-Hostels | |
unterkommen, haben auch die Cariocas, die Bewohner von Rio, die Viertel für | |
sich entdeckt. | |
## Traumhafte Panoramen | |
Bei Ausflügen überzeugen sie sich von der neuen Entwicklung auf den Hügeln, | |
lassen sich von den traumhaften Panoramen und der Küche mancher Lokale | |
begeistern; inzwischen listet ein Restaurant-Guide die besten Adressen in | |
den Armensiedlungen auf. | |
Während sich beispielsweise die Besitzer der kleinen Lokale über neue | |
Kundschaft freuen, fördern die wiederum das friedliche Zusammenleben. „Wo | |
Besucher hinkommen, lassen sich die Banditen nicht blicken“, erklärt | |
Arnaldo. Zwar würde es hier weiterhin Kleinkriminalität, Taschendiebe und | |
dergleichen geben wie anderswo auch. Doch die Schwerverbrecher würden nur | |
da ihr Unwesen treiben, wo keiner hinschaue. Freilich würden die | |
friedlichen Verhältnisse auch dazu beitragen, dass nun Investoren und | |
Spekulanten ihre Hände nach den gut gelegenen Immobilien ausstrecken. | |
Auch angrenzende Viertel seien davon betroffen. Der Guide erwähnt den Fall | |
einer Wohnung in der Umgebung der Favela Rocinha, die aufgrund der | |
Befriedung und durch die Ankündigung einer neuen U-Bahn-Station in der | |
Nachbarschaft bis 2015 in kürzester Zeit von etwa 90.000 auf rund 380.000 | |
Euro hochgeschnellt ist. Aber das sei eben der Preis für die Befriedung. | |
## Eine angenehme Atmosphäre | |
„Muito legal – ganz toll“ findet auch Brenan die Entwicklung, die den | |
Favelas neue Lebensqualität beschere. Der Brasilianer, der in einem Hotel | |
in Leblon arbeitet, ist bewusst nach Vidigal gezogen, weil es sich seiner | |
Meinung nach jetzt gut dort leben lässt. „Mittlerweile gibt es überall | |
Internet und sogar eine geregelte Wasserversorgung“, meint er. Und die | |
Atmosphäre sei total angenehm. | |
Ganz anders sieht es die Argentinierin Julia, die als Bibliothekarin in der | |
Nichtregierungsorganisation Nós do Morro arbeitet. „Abgesehen davon, dass | |
ich mich hier nicht unbedingt sicherer fühle, weil ich der Polizei | |
misstraue, schnellen die Preise derart nach oben, dass viele langfristig | |
aus ihren Wohnungen verdrängt werden“, kritisiert sie. Vorher habe das | |
Gewaltszenario Immobilienspekulanten abgeschreckt. „Meiner Meinung nach hat | |
die Befriedung der Favelas vorrangig das Ziel, Investoren den Weg zu den | |
Toplagen zu ebnen“, sagt Julia. | |
„Jetzt geht es hier richtig ab“, räumt auch Andreas Wielend ein. „Nach d… | |
Drogenkrieg kommt der Immobilienkrieg. Zurzeit wird in den Favelas ein | |
Hostel nach dem anderen eröffnet, die Luxusobjekte werden folgen“, sagt | |
Wielend. Zwar könne er sich darüber freuen, dass sein Guesthouse inzwischen | |
viel mehr wert sei. „Aber das war schließlich auch ein harter Kampf.“ | |
16 Nov 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.brasil-web.de | |
## AUTOREN | |
Ulrike Wiebrecht | |
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