# taz.de -- Proteste in Brasilien: „Wir sind endlich aufgewacht“ | |
> Seit den 1980er Jahren gibt es keine Investitionen in die Infrastruktur | |
> und doch folgt ein Großevent aufs nächste. Etwas läuft total falsch in | |
> Brasilien. | |
Bild: Ein Demonstrant springt über eine Barrikade in Brasilia. | |
In Brasilien hört man oft, dass das Land eine noch junge Demokratie sei und | |
man deshalb bitte etwas nachsichtig mit ihr sein möge. Schließlich kehrte | |
Brasilien nach der von 1964 bis 1985 dauernden Militärdiktatur erst in den | |
achtziger Jahren zur demokratischen Staatsform zurück. Es passt zu dem | |
alten Bild von der zurückgebliebenen Peripherie, die erst noch nachholende | |
Entwicklung betreiben muss. | |
Die Lage in den brasilianischen Millionenmetropolen ist immer noch von der | |
ökonomischen Krise und dem Sparzwang der achtziger und neunziger Jahre | |
gezeichnet. Viel zu spät wurde wieder in den öffentlichen Nahverkehr | |
investiert. Überhaupt findet Stadtplanung heute zum ersten Mal unter | |
stabilen demokratischen Bedingungen statt. | |
Auf den seit zwei Wochen andauernden Protesten, die durch das | |
Fußballturnier Confed Cup auch international wahrgenommen werden, geht es | |
auch darum, ob die Institutionen dieser Aufgabe gerecht werden – von der | |
Politik über die Medien hin zur neoliberalen Ideologie von Individualismus | |
und Wettbewerb. Die Demonstranten treibt eine ganz [1][allgemeine | |
Unzufriedenheit auf die Straßen]. | |
Auslöser waren die in verschiedenen Städten gleichzeitig durchgesetzte | |
Erhöhung der Fahrpreise. Aber das war nur der Tropfen, der ein ganzes Fass | |
zum Überlaufen gebracht hat. Es ist aber kein Zufall, dass sich die | |
Proteste am relativ teuren und absolut disfunktionalen Bussystem der | |
Millionenstädte entzündeten, das dem wachsenden Verkehrsaufkommen der | |
letzten Jahrzehnte nicht gewachsen ist. Inzwischen fahren viele Brasilianer | |
mit dem Auto zur Arbeit, wenn sie es sich irgendwie leisten können. Das hat | |
die Straßen nur noch mehr verstopft. Das tägliche Verkehrschaos trifft | |
alle, Reiche wie Arme. Denn nur ganz wenige, unter ihnen viele Politiker, | |
können es sich leisten, mit dem Helikopter zur Arbeit zu fliegen. | |
## Im Zeichen des Sparzwangs | |
Weil den Kommunen in Brasilien in den achtziger Jahren das Geld ausging, | |
legten sie dringend nötige Investitionen in die Infrastruktur auf Eis. In | |
den siebziger Jahren hatte der Staat noch in gigantische Projekte wie | |
Wasserkraftwerke, Autobahnen und Brücken investiert, unter den politischen | |
Bedingungen der Militärdiktatur. Dann kam die Wirtschaftskrise und die | |
Militärs dankten ab. Die Rückkehr zur Demokratie in den achtziger Jahren | |
stand im Zeichen des Sparzwangs. Und so wurde das Thema öffentlicher | |
Nahverkehr wieder auf die lange Bank geschoben, auch von dem linken | |
Präsidenten Lula, der von 2004 bis 2011 an der Regierung war. | |
Noch immer gibt es zu den Flughäfen von Rio de Janeiro oder Guarulhos in | |
São Paulo keine U- oder S-Bahnen. Wer fliegt, kann überhaupt nicht | |
einschätzen, wie lange die Anreise zum Flughafen dauern wird. Man muss sich | |
viele Stunden vor dem Abflug auf den Weg machen. Ein Verkehrsunfall kann | |
den Tagesablauf von Millionen durcheinanderbringen. Zugleich sind die | |
Städte neben dem Agrobusiness die Zentren der brasilianischen Ökonomie. São | |
Paulo hat die meisten Fabriken, Rio de Janeiro die meisten Touristen. | |
In Rio löst gerade ein Großevent das nächste ab. Die Stadt ist für viele | |
sicherer geworden, seit die Polizei ganze Viertel von den Drogengangs | |
zurückerobert hat. Viele innerstädtische Favelas verwandeln sich von | |
No-go-Areas in hippe Ausgehviertel, Immobilienpreise steigen und viele | |
können sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten. Wer nicht zwangsweise | |
umgesiedelt wird, um Platz für neue Schnellstraßen und touristische Ziele | |
zu machen, geht freiwillig, auf der Suche nach billigeren Mieten. Und | |
findet sich dann natürlich in den überfüllten Bussen wieder. Es gibt gerade | |
mal zwei U-Bahn-Linien in Rio de Janeiro, für 11 Millionen Einwohner in der | |
Metropolregion. | |
Wenn also Hunderttausende strategisch gut ausgewählte Hauptverkehrsstraßen | |
zur Rush-Hour blockieren, die ab fünf Uhr ohnehin für Stunden von Autos und | |
Bussen verstopft sind, dann verhalten sie sich wie früher die Arbeiter in | |
der Fabrik, die zu einem wilden Streik aufrufen. | |
Und die Politiker verhalten sich wie Manager, die sich Sorgen um ihre | |
Kunden machen. Wie steht man da, vor der Fifa, der Weltöffentlichkeit? In | |
Rio hat gerade die Copa de Confederações begonnen, bald kommt der Papst, | |
dann ist Weltmeisterschaft und 2016 schließlich die Olympiade. Die Stadt | |
hat sich verpflichtet, für sichere Anfahrtswege und reibungslose Abläufe zu | |
sorgen. Proteste sind in der Lage, diese Abläufe zu stören. | |
## Die Institutionen funktionieren nicht | |
Erst spät und zögerlich bestätige Präsidentin Dilma Rousseff am Montag | |
Abend, als mehr als 200.000 auf die Straße gingen, dass Proteste in einer | |
Demokratie legitim sind. Anfangs nannte die Presse die Demonstranten | |
Vandalen. Jetzt sind auch andere Argumente in den Mainstream-Medien zu | |
vernehmen: Vielleicht ist es der Alltag, der gewaltsam ist und nicht (nur) | |
die paar Vermummten, die auf den Protesten Fensterscheiben einschlagen und | |
Müll anzünden. Immerhin raubt dieser Alltag allen, die täglich in der Stadt | |
unterwegs sind, viel Zeit und den letzten Nerv. Die Brasilianer haben das | |
Gefühl, dass die etablierten Institutionen – von der Politik über die | |
Medien hin zur Polizei, deren Gewaltbereitschaft letzte Woche viele empört | |
hat – nicht mehr funktionieren. Etwas läuft total falsch. | |
Diese Sensibilität könnte auch mit den schlechten Wirtschaftsdaten der | |
letzten Monate zusammenhängen. Der Staat macht Schulden und gibt das Geld | |
noch nicht mal für Maßnahmen aus, die den Alltag erträglicher machen | |
würden. Im Gegenteil, alles wird nur noch teurer. | |
Es geht in Brasilien heute ebenso wenig nur um die Fahrpreise, wie es in | |
der Türkei nur um einen Park geht. Es ist die generelle Stimmung, die den | |
Leuten nicht passt. Trotzdem ist es überraschend, dass nun Hunderttausende | |
auf die Straße gehen. Denn Brasilien ist nicht gerade für eine | |
zivilgesellschaftliche Protestkultur bekannt. Tatsächlich hatten die | |
gesammelten Erfahrungen der letzten Jahre mit der Besetzung von Plätzen und | |
Straßen einen Einfluss auf die Selbstimagination der Protestierenden. | |
Das war am Anfang besonders wichtig, als die Polizei sofort mit Tränengas | |
und Gummigeschosse auf die Protestierenden losging. „Jetzt ist Schluss mit | |
Liebe,“ sangen die Demonstranten trotzig, „das wird die nächste Türkei!�… | |
klang, als wollten sie sich Mut machen, gegen Tränengas und Gummigeschosse. | |
Am Montagabend lautete eine der Losungen: „Das hier ist weder die Türkei | |
noch Griechenland. Wir Brasilianer sind endlich aufgewacht.“ | |
19 Jun 2013 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kusser | |
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