# taz.de -- Neuer Brasil-Pop: Das Pferd im Spiegel | |
> In der Heimat ein Star, hierzulande noch zu entdecken: Rodrigo Amarante | |
> und sein großartiges Debütalbum „O Cavalo“ | |
Bild: Auch beim Foto ohne brasilianische Klischees: Rodrigo Amarante. | |
Auf der Website von Rodrigo Amarante zeigt ein Video in anheimelnder | |
Super-8-Ästhetik eine reifere Dame, die verlegen in die Kamera albert. Dann | |
sieht man, wie lachende Menschen, junge und auch ältere, sich gegenseitig | |
schminken, in selbstgemachte Kostüme schlüpfen, herumtollen und sich | |
vergnügt zu einer frenetischen, hüftschwingenden Straßenparade formieren. | |
Immer wieder grüßen die Leute dabei in die Kamera, als wäre eine große | |
Familie versammelt. | |
Die verwackelten, nostalgischen Sequenzen sind authentisch: Rodrigo | |
Amarantes Vater hat sie in den Siebzigern in Brasilien aufgenommen – | |
während des Karnevals in Saquarema, einem Städtchen unweit von Rio, wo | |
Amarante 1976 geboren wurde. Seine ganze Familie und der engste | |
Freundeskreis seien da zu sehen, erläutert der Multiinstrumentalist und | |
Sänger in einem kurzen Text unter dem Video. Und sobald er alt genug war, | |
um selbst einen Drumstick halten zu können, habe er mitgetrommelt, | |
mitgetanzt, mitgefeiert – schreibt er. | |
Den Film aus dem familiären Fundus hat Amarantes Schwester Marcela | |
geschnitten. Den mitreißenden Samba-Song „Maná“, der ihn untermalt, hat | |
Rodrigo wiederum für sie persönlich komponiert, als sie sich in einer | |
Lebenskrise befand. Der Song beschwört die heilende Kraft der Musik herauf. | |
## Therapeutischer Zweck | |
Das gesamte Album, aus dem „Maná“ stammt, ist durch und durch persönlich … | |
zu selbsttherapeutischen Zwecken, wie Amarante mitteilt. „O Cavalo“ (das | |
Pferd) – so heißt das Album – ist das erste Musikprojekt, dessen Zügel | |
Amarante ganz allein in der Hand hält. | |
Es verarbeitet bedeutende Brüche im Leben des Musikers: 2008 zog es ihn von | |
seiner Heimat nach Kalifornien, nachdem sich im Jahr zuvor seine Band Los | |
Hermanos aufgelöst hatte. Los Hermanos (Spanisch für Brüder) war nicht nur | |
irgendeine Rockband: 1997 von vier bärtigen Studenten in Rio de Janeiro | |
gegründet, avancierte sie zielsicher zur Kultband des Landes, die innerhalb | |
einer Dekade mehr als 1.000 Konzerte gab und vier gefeierte, millionenfach | |
verkaufte Alben produzierte. | |
Mit anderen Worten: Rodrigo Amarante war und ist in Brasilien ein absoluter | |
Superstar. Doch selbst wenn die zwei letzten Los-Hermanos-Alben in den Top | |
100 der „besten brasilianischen Alben aller Zeiten“ des Rolling Stone | |
rangieren, selbst wenn die Band 2009 nebst prominenter Begleitung à la | |
Radiohead noch mal ein Comeback auf den Konzertbühnen feierten, und selbst | |
wenn der talentierte Songwriter Amarante von der US-Elite der Rock- und | |
Folkszene umgarnt und nach Kalifornien gelockt wurde, so ist es doch eher | |
unwahrscheinlich, dass Amarante auf den Straßen San Franciscos nach einem | |
Autogramm gefragt wird. Geschweige denn erkannt. | |
## Fernab vom Medienrummel | |
„The ribbon is cut / Now cameras are gone“, singt er im Song „The Ribbon�… | |
das von einer akustischen Gitarre und einer Art Summen einer | |
vorbeifliegenden Hummel begleitet wird. Fernab vom Medienrummel seziert | |
Amarante darin sich selbst und beobachtet den Fremden im Spiegel, „den Raum | |
zwischen dir und mir“, wie er unaufgeregt im Schmachtfetzen „Nada Em Vão“ | |
singt, der nicht von ungefähr zum eng zu tanzenden Stehblues animiert. | |
Rodrigo Amarante singt auf Portugiesisch und Englisch. Eine dritte Sprache, | |
Französisch, hat er ausgewählt, um das dem Exil geschuldete Fremdsein zu | |
thematisieren: „Ich bin der Fremde / Das kann man sehen / Ich spreche nicht | |
/ So ganz wie du“, singt er in „Mon Nom“ (Mein Name). Er klingt dabei ein | |
wenig wie ein Kind, verwundert, aber vergnügt zugleich. Doch diese | |
Leichtigkeit trügt: Schon bald führen das Fremdsein und die „Saudade“ –… | |
Sehnsucht nach seinem Zuhause – zum eigentlichen Thema des Albums. | |
Von der Gitarre und einem rhythmischen, kaum wahrnehmbaren Kratzen | |
untermalt, knüpft beispielsweise das Lied „Irene“ an den gleichnamigen Song | |
des brasilianischen Sängers und linken Aktivisten Caetano Veloso an. 1969 | |
besang der vor der brasilianischen Militärdiktatur nach England geflüchtete | |
Veloso darin das Lächeln seiner Schwester Irene. | |
## Einfach unvergesslich | |
Amarante hingegen besingt das Gesicht einer ungenannten, geliebten Frau, | |
die er nicht vergessen kann. Die Exil-Beweggründe beider Stars könnten | |
dabei kaum unterschiedlicher sein: Veloso drohte in Brasilien der sichere | |
Tod, Amarante – wenn man so will – eine kleine Midlife-Crisis. Ganz so | |
ernst muss man den jungen Mann mit unverkennbarem Hipster-Look samt Bart | |
und Karohemd in Kalifornien aber auch nicht nehmen. | |
Vor allem bestechen seine melancholischen Songs durch ihre unaufgeregte | |
Schlichtheit – und eine radikale Langsamkeit. „Tardei, tardei, tardei / Mas | |
cheguei, enfim“, verabschiedet er sich im letzten Track: Obgleich es | |
gedauert hat, sei er nun angekommen. | |
Aus dem Video des eingangs erwähnten Samba „Maná“ bleiben vor allem die | |
älteren Herren in Erinnerung, wie sie sich mit zerknitterten Pappkrönchen, | |
rutschenden BHs und ausgelassenem Hüftschwung gegenseitig veräppeln. Über | |
sie schreibt Amarante: „Sie sind der Beweis, dass trotz unserer Annahme, | |
wir seien im 21. Jahrhundert ungewohnt frei und modern, unsere Großeltern – | |
oder zumindest meine – weniger spießig waren als wir.“ | |
Amarante kann dankbar sein: Von ihrer charmanten Unverfrorenheit hat er ein | |
wenig geerbt. | |
15 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
## TAGS | |
Brasilien | |
Brasilien | |
HipHop | |
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