# taz.de -- Gewalt bei Protesten in Brasilien: Volksfest gegen den Staat | |
> In Brasilien protestieren mehr als eine Million Menschen gegen | |
> Korruption. Bei Kämpfen mit der Polizei werden Hunderte verletzt. | |
Bild: Größte Demo des Landes: Protest in Rio de Janeiro. | |
RIO DE JANEIRO/SÃO PAULO taz | Für Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff | |
wird die Lage langsam brenzlig. Die Protestwelle in ihrem Land ebbt nicht | |
ab: 1,2 Millionen Menschen gingen am Donnerstagabend auf die Straße, über | |
hundert Städte im ganzen Land waren Schauplatz immer größerer | |
Demonstrationen. Die Spiele des Confed Cup, der Fifa-Generalprobe ein Jahr | |
vor der Fußball-WM, geraten in den Hintergrund. | |
Die Protestmärsche verliefen zumeist friedlich, erst gegen Ende oder beim | |
Eingreifen der Polizei kam es zu teils heftigen Ausschreitungen. Hunderte | |
Menschen wurden verletzt, viele wurden festgenommen. Ein Mann starb während | |
der Proteste in der Stadt Ribeirão Preto, als ein Fahrer sein Auto in die | |
Demonstration lenkte. | |
In der Hauptstadt Brasilia verhinderten Polizisten einen Sturm auf das | |
Außenministerium. In Rio de Janeiro fand erneut der größte Protestzug mit | |
300.000 Teilnehmern statt. In vielen Städten wurden Autos angezündet und | |
Fensterscheiben eingeschmissen. Die Polizei ging mit Tränengas und | |
Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor. Journalisten wurden bei ihrer | |
Arbeit behindert, ein Fernsehreporter wurde von einem Gummigeschoss an der | |
Stirn getroffen. | |
Rousseff vermied es den ganzen Abend über, sich zum Ausnahmezustand in | |
ihrem Land zu äußern. Allerdings sagte sie eine Reise nach Japan ab und | |
richtete einen Krisenstab ein. Seit Monaten steht sie unter Druck von | |
rechts, sowohl aus der Opposition wie aus der eigenen Koalition. Nun muss | |
sie auch nach links schauen. Die Kritik der Demonstranten erinnert an die | |
Rhetorik ihrer Arbeiterpartei PT in der Zeit, als sie noch nicht an der | |
Regierung war. | |
## Kampf für kostenlosen Nahverkehr | |
Vielleicht hoffen Rousseff und ihre Arbeiterpartei darauf, dass sich der | |
Protest mangels konkreter Forderungen und baldiger Ermüdung von alleine | |
auflöst. Ein Blick auf Sao Paulo, die größte Stadt des Landes, zeigt, dass | |
die einst kämpferische Stimmung vorerst umgeschlagen ist. Vor einer Woche | |
ist dort die Polizei massiv gegen Demonstranten vorgegangen, jetzt hat die | |
Demo fast schon Volksfestcharakter. Zehntausende Menschen laufen die | |
Avenida Paulista entlang, den achtspurigen Boulevard im Zentrum der | |
Megastadt. Die meisten sind Anfang 20, meist Studenten, aber auch Senioren | |
sind da und sogar Familien mit Kindern. | |
Es gibt ja auch etwas zu feiern: Die Preiserhöhung der U-Bahntickets um 20 | |
Centavos (7 Eurocent), die der ursprüngliche Anlass für die Proteste war, | |
wurde zurückgenommen. Dass das nur ein Zwischenziel des „Movimento Passe | |
Livre“ war, wird gerne vergessen. Die Organisation kämpft mit einer | |
überschaubaren Anzahl von Aktivisten bereits seit acht Jahren für einen | |
völlig kostenlosen Nahverkehr. Dass es einmal so große Proteste geben wird, | |
haben sie sich nicht träumen lassen. | |
Aber es geht längst nicht mehr um 20 Centavos. Es geht auch längst nicht | |
mehr nur um den öffentlichen Nahverkehr, der in São Paulo gnadenlos | |
überlastet ist. Gemeinsame Ziele haben die Demonstranten bislang nicht | |
formuliert. Viel Kritik kreist um unzureichende öffentliche | |
Dienstleistungen und korrupte Politiker. Hinzu kommt der Unmut über | |
milliardenschwere Ausgaben für die Fußball-WM im kommenden Jahr und die | |
Olympischen Spiele 2016. | |
## Jeder will etwas anderes | |
Auf der Straße wünscht sich dann jeder auch was anderes. „Wir brauchen | |
jetzt bessere Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem“, sagt die | |
19-jährige Nydia. Ein Mann fordert mehr Rechte für Homosexuelle, ein | |
anderer hat „Steuern sind Diebstahl“ auf eine Pappe geschrieben, zwei | |
Männer halten ein Schild in die Luft: „Verkaufe mein Motorrad“. | |
Genauso vielfältig sind die Menschen, die protestieren. Bislang | |
Unpolitische laufen neben jungen Antifas, die gegen Nationalismus | |
anschreien. Und daneben wird die brasilianische Nationalflagge geschwenkt. | |
Dass verschiedene politische Gruppen versuchen, die Proteste für sich zu | |
nutzen, sehen manche gar nicht gern, vor allem gegen die Arbeiterpartei | |
richtet sich der Unmut. Auf der Avenida Paulista kam es deshalb zu | |
Auseinandersetzungen, Parteiflaggen wurden verbrannt. | |
Polizisten sind den ganzen Abend ganz wenige zu sehen. Die Polizei hat ihre | |
Strategie geändert. Denn die Gewalt hat die Leute erst zum Demonstrieren | |
gebracht. | |
So war es bei Sergio Tercaçarolli. „Ich habe die Gewalt gesehen, da konnte | |
ich nicht zu Hause bleiben.“ Früher nämlich, sagt der 22-jährige Student, | |
habe er nur träge auf der Couch herumgelegen. Jetzt steht er mit Freunden | |
am Straßenrand und hält ein Transparent in die Höhe. „Wir wollen | |
Krankenhäuser nach Fifa-Standard“, steht darauf. | |
## Erst der Anfang | |
Er gerät richtig ins Schwärmen. Es sei doch gut, dass es nicht mehr ein | |
einziges Ziel gebe, sondern viele. Endlich meckern die Leute nicht nur zu | |
Hause, sagt er, sondern sagen, was ihnen nicht passt. „Wir haben jetzt viel | |
Macht, die Dinge zu ändern.“ Er will in den kommenden Tagen auf jeden Fall | |
wieder auf die Straße gehen. [1][#vemprarua] („Komm auf die Straße“), das | |
Motto der Bewegung, die sich lose in den sozialen Netzwerken im Internet | |
organisiert, das ist sein persönliches Motto geworden. | |
An dem jungen Mann ziehen weiter die Demonstranten vorbei. „Wenn ihr auf | |
unserer Seite seid, gebt ein Zeichen“, rufen sie den Leuten zu, die hinter | |
den Fenstern der Hochhäuser stehen, die die Straße säumen. Blinkt ein Licht | |
auf, johlt die Menge. „Das ist erst der Anfang“, singen die Leute. | |
21 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://twitter.com/search/realtime?q=%23vemprarua&src=hash | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
Sebastian Erb | |
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