| # taz.de -- Fußball-WM 2014 in Brasilien: Die neue Schutzmacht | |
| > Der Staat installiert Polizeieinheiten in den Favelas. „Wir wurden nicht | |
| > gefragt, ob wir diese Art von Frieden haben wollen“, sagen die Einwohner. | |
| Bild: Befriedung oder Einschüchterung? Großeinsatz zur Einrichtung einer Befr… | |
| RIO DE JANEIRO taz | Jacarezinho liegt gerade mal acht U-Bahn-Stationen vom | |
| Stadtzentrum entfernt. Der Eingang in die Favela wirkt wie eine | |
| Fußgängerzone, eine Straße, gesäumt von kleinen Läden für Obst und Gemüs… | |
| Gummilatschen, Klamotten, von Friseurläden und kleinen Restaurants. | |
| Menschen drängeln vor den Geschäften, ständig braust hupend ein Motorrad | |
| durch die Menge. Die „Motoboys“ sind hier das öffentliche Transportmittel, | |
| nur sie schaffen es, sich ihren Weg durch die engen, verwinkelten Gassen zu | |
| bahnen. Alle anderen gehen zu Fuß. Auch die Polizei. | |
| „Dort hinten, am höchsten Punkt unseres Viertels, haben sie ihr | |
| Hauptquartier“, sagt Rumba Gabriel und zeigt auf den steil ansteigenden | |
| Teil des Armenviertels. Der stämmige Mann, dessen Kurzhaarschnitt – ein | |
| breiter Iro über rasierten Schläfen – gerade auch bei vielen Fußballern in | |
| Mode ist, spricht von der UPP (Unidade de Polícia Pacificadora), der | |
| Befriedungspolizei, die in Jacarezinho seit Januar dieses Jahres im Einsatz | |
| ist. „Über 500 Mann sind es, die uns den Frieden bringen sollen.“ Rumba | |
| Gabriel lächelt, sein Gesichtsausdruck wird grimmig: „Man hat uns nicht | |
| gefragt, ob wir diese Art von Frieden haben wollen. Wir nennen es eine | |
| Invasion. “ | |
| Jahrzehntelang hat der brasilianische Staat die Favelas sich selbst | |
| überlassen. Armenviertel waren rechtsfreie Territorien, in denen kriminelle | |
| Banden eine machistische, geradezu feudalistische Herrschaft ausübten, mit | |
| Schnelljustiz,Todesstrafe und brutalen Morden. | |
| Der lukrative Handel mit Drogen und Waffen hatte Bandenkriege zur Folge, | |
| unter denen die Bewohner litten und von denen die Polizei profitierte, da | |
| die Drogenhändler für das Wohlwollen der Uniformierten viel Geld zahlten. | |
| Gab es Probleme, marschierten die Ordnungshüter mit Panzerwagen ein und | |
| erschossen willkürlich Menschen. In den letzten 13 Jahren sind im Schnitt | |
| jährlich tausend Favelabewohner solchen Einsätzen zum Opfer gefallen, heißt | |
| es in einer Studie der Bundesuniversität URFJ – das macht drei Tote am Tag. | |
| ## 35 neue Einheiten | |
| Zustände, die in Zeiten einer Fußball-WM oder von Olympischen Spielen kein | |
| gutes Bild abgeben. So entstand die Idee der Befriedungspolizei (UPP), ein | |
| bereits in Kolumbien erprobtes Konzept: Zuerst erobern Spezialeinheiten die | |
| Favela zurück und hissen feierlich eine Fahne – fast nie fällt dabei ein | |
| Schuss, da beide Seiten wissen, dass ab jetzt neue Spielregeln gelten. Dann | |
| wird eine UPP installiert – 35 solche Einheiten gibt es in Rio. | |
| Ist denn wirklich seither nichts besser geworden? Rumba Gabriel grummelt. | |
| „Doch, schon. Es gibt keine täglichen Schießereien mehr, das ist für die | |
| Menschen hier ganz wesentlich“, räumt der Präsident des Stadtteilkomitees | |
| ein. Nun bekämen die Menschen in Jacarezinho wieder Besuch, man fühle sich | |
| sicherer. Der Weg zu Gabriels Büro führt durch den flachen Teil der Favela. | |
| Am Flussufer hängt Wäsche, aus den oft unverglasten Fenstern in den | |
| mehrstöckigen, unverputzten Fassaden schallt Musik. Es stinkt. Die Abwässer | |
| fließen als offene Rinnsale oder durch Rohre direkt in den Fluss. Ein | |
| Polizist koste den Staat pro Monat 5.500 Reais, rechnet Rumba Gabriel vor, | |
| knapp 2.000 Euro. „Aber für ein Abwassersystem oder sauberes Trinkwasser | |
| gibt es noch immer kein Geld.“ | |
| Das Stadtteilkomitee ist eine selbstorganisierte Interessenvertretung der | |
| Bewohner, wie es sie in fast jeder der etwa 300 Favelas von Rio gibt. | |
| Favela bedeutet in Brasilien nicht unbedingt Armenviertel, sondern hieß | |
| ursprünglich Landbesetzung. Hier lebten diejenigen, für die es keinen Platz | |
| im Stadtgebiet gab: zuerst die freigelassenen Sklaven, die weder Wohnung | |
| noch Einkommen hatten, später die Arbeitsmigranten aus dem Nordosten des | |
| Landes. Sie besetzten die Hänge der schroffen Felshügel, die die | |
| einzigartige Landschaft der Stadt am Zuckerhut ausmachen. Deswegen – und | |
| weil die Reichen ungelernte Arbeitskräfte in der Nähe brauchten – liegen in | |
| Rio Slums und Edelviertel oft dicht aneinander. | |
| ## Keine Ansprechnpartner | |
| Vom Fluss bis zum UPP-Hauptquartier sind es 15 Minuten Fußweg. In den | |
| Gassen stehen Fenster und Türen offen. Es wirkt, als gehe man durch die | |
| Wohnzimmer anderer Leute. Fast überall läuft der Fernseher, aber kaum | |
| jemand sitzt davor. Die Leute grüßen sich. „Meine Kinder haben heute wieder | |
| keine Schule – Streik,“ sagt eine Frau, die sich als Carla vorstellt und | |
| mit einer Freundin vor einem Hauseingang plaudert. „Ich komme wieder nicht | |
| dazu, meinen Kram zu erledigen.“ | |
| Drei klimatisierte Container vor einer hohen, weißen Mauer beherbergen die | |
| neue Schutzmacht von Jacarezinho. Außer den Schnellfeuergewehren einiger | |
| Beamter wirkt alles ganz friedlich. Ein Wellblechdach schützt vor der | |
| starken Sonne. Es ist ein heißer Tag, die Stimmung träge. Ein | |
| Wasserspeicher aus Zement, der hinter der Mauer aufragt, ist übersät mit | |
| Einschusslöchern. Er erinnert an die wilden Schießereien, die in | |
| Jacarezinho früher zum Alltag gehörten. | |
| Die Kneipe gegenüber der Wache ist leer, nur selten kommen Fußgänger | |
| vorbei. Der Kommandeur ist nicht zu sprechen, er sei beschäftigt, heißt es. | |
| Eine Telefonnummer hat er auch nicht. „Mit uns reden sie auch kaum“, sagt | |
| Rumba Gabriel auf dem Rückweg. „Obwohl ein großer Teil der Polizisten | |
| selbst aus Favelas stammt, halten sie sich für was Besseres. Sie sind keine | |
| Ansprechpartner für uns, offenbar betrachten sie uns als Feinde.“ | |
| ## Der Fall Amarildo | |
| Als Beispiel führt der Stadtteilaktivist den Fall Amarildo an, der in Rio | |
| für Aufsehen gesorgt hat. Der Maurer Amarildo de Souza war im Juli in | |
| Rocinha, einer Favela in der reichen Südzone von Rio, verhaftet worden und | |
| danach spurlos verschwunden. Seit Anfang Oktober befinden sich zehn lokale | |
| UPP-Beamte in Untersuchungshaft, unter ihnen der bisherige Kommandeur der | |
| Einheit. Ihnen wird vorgeworfen, Amarildo zu Tode gefoltert zu haben. 22 | |
| weitere Bewohner sagten laut Polizeibericht aus, sie seien in den | |
| UPP-Containern der Rocinha gefoltert worden. | |
| Um den Imageschaden zu begrenzen, wurde Major Pricilla de Oliveira Azevedo | |
| mit der Leitung der UPP in Rocinha beauftragt. Vor fünf Jahren war sie die | |
| erste UPP-Kommandantin, in der Favela Santa Marta. Major Pricilla, klein, | |
| die langen Haare zurückgekämmt, ist das Aushängeschild der | |
| Befriedungsstrategie, bürgernah, offen. Frauen bei der Polizei sind in | |
| Brasilien keine Seltenheit, eine dunkelhäutige Kommandantin schon. | |
| „Natürlich steht das, was hier geschehen ist, im Widerspruch zu unserem | |
| Auftrag“, sagt sie. Deswegen werde ermittelt, dass die Sache Konsequenzen | |
| haben werde, verspricht sie. „Aber die Polizisten, mit denen wir arbeiten, | |
| sind nun einmal Menschen. Sie bringen eine Kultur mit, die sich nicht so | |
| einfach ändern lässt.“ | |
| ## Immer wieder Prügel | |
| Auch Rumba Gabriel erklärt die Probleme mit der Vergangenheit. Die | |
| Geschichte der brasilianischen Polizei sei geprägt von autoritärem | |
| Verhalten, Willkür und Folter. „Nur wer sie nicht kennt oder ignoriert, | |
| sieht die UPPs als Hoffnungsträger. Warum sonst“, fragt er weiter, „sind | |
| sie immer noch schwer bewaffnet, wenn doch der angebliche Gegner entwaffnet | |
| und vertrieben wurde?“ | |
| Gerade stattet Rossino de Castro Diniz, Präsident der stadtweiten | |
| Favela-Organisation Faferj, dem Stadtteilkomitee von Jacarezinho einen | |
| Besuch ab. Er kennt die Problematik aus anderen Favelas. „Sie nehmen ohne | |
| Grund Leute fest, durchsuchen Häuser ohne Durchsuchungsbefehl. Immer wieder | |
| verprügeln UPP-Beamte Bewohner“, berichtet er. Zwei Menschen seien vor | |
| kurzem in Jacarezinho erschossen worden. Diniz’ Fazit: „Die Willkür der | |
| Polizisten ist nicht viel besser als vorher die Herrschaft der Banden.“ | |
| ## So vieles fehlt | |
| Der Arbeiter Eduardo zuckt mit den Schultern. Zu Mittag isst er Bohnen und | |
| Reis, etwas Salat, dazu ein Stück durchgebratenes Fleisch. Das grelle Licht | |
| der Neonröhren wird von den weißen Bodenkacheln des kleinen Restaurants | |
| reflektiert. Dass wenige Tische weiter vier UPP-Soldaten speisen, stört ihn | |
| nicht. „Mich haben sie bisher in Ruhe gelassen.“ Eduardo, der Rumba Gabriel | |
| seit klein auf kennt, geht seiner Arbeit nach, hält sich von den Ecken | |
| fern, wo gedealt wird. „Drogen gibt es hier immer noch“, sagt Eduardo, aber | |
| weniger offensichtlich. Seit 40 Jahren lebt er in Jacarezinho, er ist arm, | |
| aber nicht unzufrieden. Er versteht nicht, warum die Menschen kriminell | |
| werden. Oft seien es Kids, die sich schicke Turnschuhe kaufen wollten. | |
| Zum Nachtisch gibt es Karamellpudding oder Papayamus. Eduardo nimmt den | |
| Klassiker, Karamellpudding. Er muss los, die Mittagspause ist heilig, aber | |
| kurz. „Das Problem ist nicht die Polizei, sondern dass hier vieles fehlt“, | |
| sagt er. Spielplätze, Parks, zählt er auf, Schulen, Gesundheitsposten, eine | |
| Müllabfuhr. | |
| Rund um Jacarezinho waren einst hunderte Fabriken in Betrieb, heute gleicht | |
| die Gegend einem Meer von armseligen Behausungen und Werkruinen. Über | |
| 40.000 Menschen leben in Jacarezinho. Die Bewohner von Rio kommen selten | |
| hierher, Touristen schon gar nicht. Die sehen die Gegend meist zweimal, von | |
| der Autobahn aus, auf dem Weg vom oder zum Flughafen. Im nächsten Jahr ist | |
| WM. | |
| 29 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Behn | |
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