# taz.de -- Europa und Migration: Jenseits der Staatsbürgerschaft | |
> Das Versprechen der Freizügigkeit ist Europas größte Eigenwerbung. Damit | |
> Migranten auch etwas davon haben, verschieben sie selbst die Grenzen. | |
Bild: Viele Migranten verkörpern die Grenze buchstäblich in Form ihrer eigene… | |
Europa ist kein vollendetes, irreversibles Projekt. Es ist und war immer | |
schon ein Projekt mit Ambivalenzen. Der Soziologe Hauke Brunkhorst entdeckt | |
diese Ambivalenzen im „verdrängten Ursprung“ der Europäischen Union. Es s… | |
nicht der technokratische Konsens der Eliten, die die Römischen Verträge | |
durchgesetzt haben, die zur Gründung der Union geführt haben. Sondern eine | |
Antwort dieser Eliten auf einen militanten, gesamteuropäischen | |
Antifaschismus, der ein sozialer Aufbruch war und am Ende des Faschismus | |
den Eintritt in ein sozial gerechtes und vereintes Europa erkämpft hatte. | |
Die Römischen Verträge, so Brunkhorst, verdrängten auch die Rolle der | |
Soldaten aus den europäischen Kolonien, etwa in Nordafrika. Diese hatten | |
nach ihrer Beteiligung am antifaschistischen Krieg vergeblich auf den | |
versprochenen Eintritt in die staatsbürgerliche Gleichstellung, in den | |
dekolonialen Prozess gehofft. Auch sei verdrängt worden, dass die | |
Ausdehnung Kerneuropas in den Süden nicht wegen seiner wirtschaftlichen | |
Prosperität stattgefunden habe. Der eigentliche Grund sei gewesen, die | |
reale Option eines eurokommunistischen Projekts in Portugal, Griechenland | |
und Italien zu blockieren. | |
Doch das Verdrängte kehrt zurück. Als Albtraum oder als Utopie. Heute zeigt | |
es sich in den Ambivalenzen der europäischen Freizügigkeit und Mobilität. | |
In Zeiten eines virulenten Euroskeptizismus scheinen Realität und | |
Versprechen der binneneuropäischen Freizügigkeit das stärkste | |
identitätsstiftende Moment eines Europas von unten zu sein. Eines Europas, | |
wie es auch an seinen sozialen und geografischen Rändern gesehen wird. | |
Dieses Pandämonium von Erfahrungen, Erwartungen, Erinnerungen und | |
Entscheidungen für ein besseres Leben kann als Methode dienen, um auch die | |
Zukunft Europas von seinen Rändern aus zu denken. Das trifft auf die | |
Akzeptanz der armen, mobilen Südeuropäer, die schon in Berlin sind, so wie | |
auf jene, die, vom Mobilitätsversprechen angelockt, sich auf den Weg | |
hierher gemacht haben. | |
## Paradoxon der Mobilität | |
Der Soziologe John Urry hat eine imposante Zeitdiagnostik formuliert: „Die | |
Mobilität ist die Ideologie und zugleich die Utopie des 21. Jahrhunderts.“ | |
Diese Ideologie denkt die Mobilität der Waren und des Kapitals als | |
schrankenlose, barrierefreie Zirkulation. Die damit verbundene Zerstörung | |
lokaler Ökonomien und Lebensressourcen in anderen Teilen der Welt | |
verschleiert sie. Das utopische Moment ist das global artikulierte | |
Versprechen des Wohlstands durch Mobilität: die Verheißung, die am Ende | |
einer angeeigneten Bewegungsfreiheit steht. | |
Am deutlichsten zeigte sich dieses Paradoxon der Mobilität an der Migration | |
nach Europa während der nordafrikanischen Revolutionen. Zu besichtigen war | |
es etwa im Frühjahr 2011 in Igoumenitsa. Es ist das letzte griechische | |
Hafenstädtchen zu Italien, nahe der Grenze zu Albanien. Transit-Migranten | |
hatten dort eine informelle Siedlung errichtet. Sie lag am Rande der Stadt, | |
direkt über der Zugangsstraße zum Hafen. Die Bewohner nannten sie „the | |
mountain“. Auf die Mauer hatten sie in roter Farbe das Wort „Marokko“ | |
gesprüht. Hiermit hatten die aufständischen Migranten selbstbewusst | |
markiert, dass die Freiheit des Arabischen Frühlings an einer europäischen | |
Grenze abprallte. | |
Die Migranten gingen am Hafen und an der Mauer entlang und warteten auf den | |
richtigen Moment für den Sprung auf einen Lastwagen. „Das hier ist nicht | |
Europa, das ist der Mülleimer Europas“, klagten sie. Sie selbst seien zwar | |
hier, in Griechenland, aber gleichzeitig noch immer unterwegs. Unterwegs | |
nach Europa. | |
## Grenzen werden erweitert | |
Die Grenze zwischen Europa und Afrika überwinden sie, indem sie sie | |
übertreten. Gleichzeitig ist ihnen diese Grenze schon eingeschrieben | |
worden: Die Fingerabdrücke der meisten von ihnen haben die griechischen | |
Behörden registriert. Jeder legale Weg in andere Schengen-Staaten ist damit | |
unmöglich gemacht. Sie verkörpern die Grenze buchstäblich in Form ihrer | |
eigenen Fingerspitzen. | |
Mit jeder ihrer nächsten Stationen in Europa, die sie illegal erreichen, | |
tragen sie einerseits die Grenze dorthin und verstoßen zugleich gegen sie. | |
In dieser Missachtung reterritorialisierten sie die Grenze. Sie stoßen in | |
das profundere Europa vor und drängen die Grenze tiefer in das Territorium: | |
Wien, Amsterdam, Berlin, Lyon, Paris, Hamburg. | |
Wir beginnen zu verstehen, dass die Transit-MigrantInnen– ähnlich wie eine | |
oder zwei Generationen davor die „GastarbeiterInnen“ – nichts Geringeres | |
herausfordern als die Demokratie. Die Schengener Grenze ist die | |
undemokratischste Institution Europas. Das betrifft sowohl ihre | |
organisatorische Transparenz als auch die Schwierigkeiten der | |
demokratischen Kontrolle und die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem Ziel: | |
dem Aufhalten irregulärer Migration und der Folge: den Toten. | |
## Körperliches Eintreten | |
Die Migranten hingegen realisieren ihr Europa: ein Europa der Kommenden. | |
Mit ihrem körperlichen Eintreten wird so etwas wie eine Demokratisierung | |
von Grenzen möglich. Die Erschaffung neuer Rechte wird denkbar, jenseits | |
von Politiken der Staatsbürgerschaft. | |
Man ist nie allein in der Migration. Die autoritären Formen der | |
Staatsbürgerschaft jedoch kennen nur die Inklusion der Vereinzelung. Sie | |
werfen die vielen, die kommen, stets auf einen individuellen Status zurück. | |
Die Mannigfaltigkeit der Lebensformen wird so vernichtet. | |
In der transnationalen Migration manifestiert sich deshalb auch eine | |
konkrete Herausforderung für unser Verständnis von Staatsbürgerschaft. Die | |
Person, die die Reise antritt, ist an deren Ende nicht dieselbe. Man kommt | |
nie dort an, wo man ursprünglich gedacht hat, anzukommen. Die Dokumente | |
verweisen nicht darauf, wer man ist oder war, sondern wer man im Verlauf | |
der Reise wird. Die Antwort lautet: Man wird viele. Und das Viele-Werden | |
ist die reale und demokratische Utopie des postnationalen Europas. | |
25 May 2014 | |
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