| # taz.de -- UN-Direktor über Flüchtlinge: „Für Europa ist das händelbar“ | |
| > Immer mehr Menschen werden über das Mittelmeer in die EU kommen, sagt | |
| > Volker Türk vom Flüchtlingshilfswerk der UN. Von Asylverfahren in | |
| > Nordafrika hält er nichts. | |
| Bild: Dieses Foto der Pressestelle der italienischen Marine zeigt die Erstunter… | |
| taz: Herr Türk, derzeit kommen erheblich mehr Flüchtlinge nach Europa als | |
| sonst. Länder wie Griechenland und Italien warnen, ihre Belastungsgrenze | |
| sei bald erreicht. Ist das wahr? | |
| Volker Türk: Vom 1. Januar bis zum 16. Juni haben wir im Mittelmeerraum | |
| 57.000 Ankünfte von Flüchtlingen und Migranten registriert, darunter viele | |
| Syrer. Zum Vergleich: Im ganzen Jahr 2013 waren es 42.000. Wir erwarten, | |
| dass diese Zahlen weiter ansteigen, aber wir glauben, dass dies für Europa | |
| insgesamt händelbar ist. Das wird manchmal überdramatisiert. Europas | |
| Belastung ist nichts im Vergleich mit den Nachbarregionen. | |
| Man darf da die Perspektive nicht verlieren. Seit Beginn des Konfliktes vor | |
| drei Jahren sind in den Industrieländern knapp 96.000 Asylgesuche von | |
| Syrern gestellt worden. Libanon hingegen hat 4,5 Millionen Einwohner und | |
| sie haben mehr als eine Million Flüchtlinge. Man muss sagen: Hut ab vor der | |
| Bevölkerung und den politisch Verantwortlichen dort. Das gilt besonders | |
| auch für die Türkei und für Jordanien. | |
| Wie wird sich die Lage in den Nachbarstaaten Syriens entwickeln? | |
| Wir haben derzeit 2,8 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge, die | |
| meisten in den Nachbarländern. Wir gehen davon aus, dass es zu weiteren | |
| Fluchtbewegungen kommt, weil sich keine politische Lösung abzeichnet. | |
| Welche Rolle spielt die aktuelle Situation im Irak? | |
| Es gab Syrer, die dorthin geflohen sind. Weil das nun schwierig ist, wird | |
| die Lage komplizierter. | |
| Tut Europa genug? | |
| Aufgrund der geografischen Nähe ist es sehr wichtig, dass die EU-Länder | |
| Solidarität zeigen. Diese Solidarität kann in verschiedener Weise | |
| ausgedrückt werden. | |
| Wie zum Beispiel? | |
| Wir haben mit humanitären Organisationen einen regionalen Plan für die | |
| humanitäre Hilfe der Flüchtlinge vor Ort erarbeitet. Der ist aber leider | |
| nicht ausreichend finanziert – von den Kosten von 4,3 Milliarden US-Dollar | |
| haben wir insgesamt bislang gerade mal 27 Prozent erhalten. Wichtig sind | |
| auch Infrastrukturmaßnahmen. In manchen libanesischen oder jordanischen | |
| Gemeinden hat sich die Bevölkerungszahl von einem Tag auf den anderen | |
| verdoppelt oder verdreifacht. Dort herrscht ohnehin Wasserknappheit, da | |
| muss massiv investiert werden. | |
| Wir arbeiten dazu mit der Weltbank und dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP | |
| zusammen, benötigen aber vermehrt und dauerhaft internationale Hilfe. Die | |
| dritte Maßnahme ist die humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen. Deutschland | |
| spielt da eine führende Rolle. 20.000 Plätze wurden zugesagt, das ist die | |
| höchste Zahl in Europa – obwohl gerade ohnehin viele Flüchtlinge nach | |
| Deutschland kommen. Manche sagen: Im Vergleich zu den Nachbarländern | |
| Syriens ist das sehr wenig. Aber wir glauben, dass der deutsche Beitrag | |
| wichtig ist, auch als Vorbild. | |
| Das zeigt nicht überall Wirkung: 14 der 28 EU-Staaten stellen überhaupt | |
| keine Plätze für SyrerInnen bereit. | |
| Wir hoffen, dass die Weiterwanderung syrischer Flüchtlinge im europäischen | |
| Rahmen erleichtert wird: Mit Studenten- oder Arbeitsvisa etwa oder | |
| erleichterten Bedingungen für die Familienzusammenführungen. | |
| Die EU weigert sich, einen legalen Zugang für Flüchtlinge einzurichten. Ist | |
| dies angesichts der ständigen tödlichen Unfälle an den Außengrenzen weiter | |
| haltbar? | |
| Legale Möglichkeiten der Einreise in die EU wären für uns ein wichtiger | |
| Schritt. Nach unserer Einschätzung haben in diesem Jahr etwa 200 | |
| Flüchtlinge im Mittelmeer das Leben verloren. Das ist eine große Tragik. | |
| Allerdings führen die südeuropäischen Staaten verstärkt Rettungsmaßnahmen | |
| durch. Ein Beispiel ist die italienische Mission „Mare Nostrum“. Ich bin | |
| zuversichtlich, dass diese Maßnahmen robust fortgesetzt werden. | |
| Italien und Griechenland werden aber zunehmend unwillig. Sie fordern den | |
| Aufbau von Asyllagern in Nordafrika, um dort die Anträge von Flüchtlingen | |
| zu bearbeiten. Ähnliches hatte der deutsche Innenminister Otto Schily schon | |
| 2004 angeregt. Ein hoher UNHCR-Vertreter wurde kürzlich mit den Worten | |
| zitiert, er sei „nicht kategorisch gegen solche Überlegungen“, wenn dabei | |
| die Flüchtlingsrechte gewahrt würden. Menschenrechtsorganisationen halten | |
| aber genau dies für ausgeschlossen. Und Sie? | |
| Dazu wollen wir klarstellen, dass wir nichts von sogenannten Holding | |
| Centers halten. Das ist für uns keine Alternative, um die Herausforderungen | |
| dieser Fluchtbewegungen zu bewältigen. Es ist unrealistisch, so etwas in | |
| die Diskussion einzuführen. Trotzdem muss man natürlich die | |
| Transitregionen, etwa Nordafrika, stärker in den Blick nehmen. | |
| Inwiefern? | |
| Zu einem umfassenden Ansatz von Flüchtlingsschutz gehört, vor Ort | |
| Möglichkeiten für die legale Weiterwanderung anzubieten, etwa durch | |
| Resettlement. Aber auch die Asylpolitik in Nordafrika selbst spielt eine | |
| Rolle. Wir hatten uns sehr stark erhofft, dass es nach dem Arabischen | |
| Frühling, in dem Menschenrechte ein Ziel waren, der Aufbau von | |
| Asylstrukturen Teil der postrevolutionären Aufbruchstimmung sein würde. | |
| Das ist enttäuschenderweise nicht ganz gelungen. Nur Marokko verabschiedete | |
| kürzlich eine positive Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die Situation in | |
| Libyen aber ist besonders chaotisch. Solange sich die Lage dort nicht | |
| stabilisiert, kann das Land keinen Beitrag zum Flüchtlingsschutz leisten. | |
| Tunesien hat den Entwurf für ein Asylgesetz bislang nicht verabschiedet. In | |
| Ägypten gab es Verschlechterungen, das Land hat Flüchtlinge inhaftiert. | |
| Das ist nördlich des Mittelmeers nicht anders. Das neue EU-Recht ermöglicht | |
| die weitgehende Inhaftnahme von Asylsuchenden. Staaten wir Malta oder | |
| Griechenland nutzen das, in Deutschland wird gerade ein entsprechendes | |
| Gesetz vorbereitet. | |
| Wir beobachten diesen Trend. Unser Ziel ist, die Inhaftierung zur Ausnahme | |
| zu machen. Wir haben dafür letzte Woche unsere globale Strategie | |
| vorgestellt. In den nächsten fünf Jahren wollen wir vor allem verhindern, | |
| dass es weiter zur Inhaftierung von Kindern kommt. Insgesamt sollen | |
| Alternativen zur Haft ausgebaut werden. Und schließlich müssen die | |
| Standards der Hafteinrichtungen verbessert werden. Schließlich gibt es auch | |
| legitime Gründe für Inhaftierung, die sind aber klar die Ausnahme als die | |
| Regel. | |
| Die Staaten, die besonders exzessiv inhaftieren, argumentieren mit der | |
| Belastung durch das Dublin-III-System, das die Zuständigkeit für | |
| Flüchtlinge einzig nach dem Ort der Einreise in die EU regelt. | |
| Es ist ein Problem, wie in der EU teils mit den existierenden Instrumenten | |
| des Asylrechts umgegangen wird – etwa bei der Bewältigung der hohen Zahlen, | |
| die man in Italien sieht. Dort braucht es Unterstützung für | |
| Aufnahmemaßnahmen und eine Asylpolitik, die integriert, die Schutz eröffnet | |
| und nicht nur Weiterwanderung herbeiführt. Gleichzeitig muss es handfeste | |
| Solidaritätsmaßnahmen geben und die Länder Südeuropas müssen das Vertrauen | |
| haben, dass die kommen. | |
| Sie sprechen sich also für eine Neuregelung des Dublin-Systems aus? | |
| Es ist wichtig, alle existierenden Möglichkeiten des Dublin-Systems | |
| auszunutzen und sich vermehrt um einen funktionierenden internen | |
| Verteilungsschlüssel zu bemühen. | |
| 20 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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