| # taz.de -- Flüchtlingspolitik der EU: Europa im dritten Anlauf | |
| > Eine Familie wird vor der griechischen Insel Lesvos von der Küstenwache | |
| > aufgegriffen. Dort ließ die EU ein modernes Internierungslager bauen. | |
| Bild: „Wir respektieren die Menschenrechte“, sagt der Grenzpolizist – das… | |
| LESVOS taz | Es ist 16.40 Uhr, als ein blauer Polizeibus langsam die | |
| Auffahrt heraufkommt. Eine Polizistin steigt aus und öffnet die Hecktür. 26 | |
| Menschen treten heraus: vier Kinder, dreizehn Männer, neun Frauen – | |
| darunter vier sehr alte Menschen, alle stammen aus Afghanistan. Vor dem | |
| Mund tragen sie einen Infektionsschutz; die Polizei fürchtet, sie könnten | |
| Krankheiten verbreiten. Keiner hat mehr als eine Tasche dabei, manche bloß | |
| eine Plastiktüte. Nachdem die Flüchtlinge ausgestiegen sind, schlägt die | |
| Polizistin die Tür zu und fährt davon. | |
| Mohamed Sadiq, 32, die Haare gegelt, verschlammte Jeans, hält ein kleines | |
| Mädchen an der Hand. Er schaut sich im Hof um, der vom Zirpen der Zikaden | |
| erfüllt ist, dann stellt er seine Tasche ab. Im Schatten der Pinien setzt | |
| er sich an einen Tisch, hebt das Mädchen auf seinen Schoß und gießt ihm | |
| einen Becher Wasser ein. | |
| In Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, montierte er Abgasfilteranlagen für | |
| ECCI, eine Umwelttechnik-Firma aus Arizona. Sie zahlten gut, doch 2012 | |
| läuft das Entwicklungshilfsprojekt aus. Sadiq kehrte in die afghanische | |
| Provinz Wardak zurück. „Du bist ein Kollaborateur“, sagten ihm die Taliban. | |
| „Schließ dich uns an oder wir töten dich.“ Vier Wochen später verließ d… | |
| Familie Afghanistan. | |
| Um 14 Uhr am Vortag sind die Sadiqs in Istanbul in einen Bus gestiegen, | |
| Schlepper setzten sie in der Nacht in ein Schlauchboot. Es ist ihr dritter | |
| Anlauf, Europa zu erreichen. Vier Stunden später greift die Küstenwache sie | |
| auf. Jetzt möchte Mohammed Sadiq wissen, wo er ist. Und was nun geschehen | |
| wird. | |
| ## Pagani wurde geschlossen | |
| Noch vor einiger Zeit wären ihre nächsten Wochen auf der griechischen Insel | |
| Lesvos folgendermaßen abgelaufen: Die Polizei hätte ihn zu etwa 150 anderen | |
| Männern in eine vergitterte, leer stehende Fabrikhalle gesteckt, in der | |
| nicht genug Platz ist, um für jeden Gefangenen eine Matratze auszulegen. | |
| Sie müssten sich eine einzige Toilette teilen, viele würden krank, doch nur | |
| selten käme ein Arzt. Mohamed Sadiq würde nicht erfahren, warum er | |
| eingesperrt ist oder für wie lange. Er dürfte nicht mit seiner 23-jährigen | |
| Frau Samira, seiner 8-jährigen Tochter Sarah und der 3-jährigen Maryam | |
| sprechen, obwohl die nebenan in der Frauenzelle sitzen, in der es genauso | |
| aussieht wie in der Männerzelle. | |
| Irgendwann hätte ihnen die Polizei die Fingerabdrücke abgenommen und würde | |
| sie in die Datenbank Eurodac einspeisen. Vielleicht nach vier, vielleicht | |
| nach zehn Wochen würden die Polizisten Mohamed Sadiq ein Blatt Papier in | |
| die Hand drücken, auf dem steht, dass er innerhalb von 30 Tagen | |
| Griechenland verlassen muss, aber nicht in einen anderen EU-Staat ausreisen | |
| darf. Täte er es doch, könnte er wegen seiner registrierten Fingerabdrücke | |
| nach Griechenland zurückgeschoben werden. Dann säßen sie auf der Straße. | |
| Doch das ist Vergangenheit. | |
| Nach jahrelangen Protesten und mehreren Revolten wurde die EU auf die | |
| Situation in den griechischen Internierungslagern aufmerksam. Die | |
| Kommission machte Druck, ebenso die UN. Im Oktober 2009 besuchte Spyros | |
| Vouyia, der damalige frisch ins Amt gekommene Vizeminister für öffentliche | |
| Sicherheit, das Lager Pagani auf Lesvos; eines von vielen dieser Art in | |
| Griechenland. In einem Interview nannte er es „schlimmer als Dantes | |
| Inferno“. Pagani wurde geschlossen, Griechenland gelobte Besserung und | |
| ratifizierte die neuen EU-Vorschriften zur Aufnahme von Flüchtlingen. | |
| Die Gegenwart ist Nikolaos Ververis. Der junge Mann leitet die Grenzpolizei | |
| in der nördlichen Ägäis, er ist zuständig für die Inseln Lesvos, Limnos, | |
| Chios und Samos, die alle vor der türkischen Küste liegen. 2.800 Papierlose | |
| sind allein im Monat Juli auf den Inseln angekommen, seit Januar 10.000, | |
| doppelt so viele wie letztes Jahr. Jeder zweite stammt aus Syrien oder | |
| Afghanistan. „Sie reisen illegal ein“, sagt Ververis, „darauf stehen laut | |
| Gesetz bis zu drei Monate Haft.“ Gibt es denn einen legalen Weg? „Der Weg | |
| über das Meer ist eben illegal.“ | |
| ## Moderner Gefängnisbau | |
| Vier Flüchtlingsgefängnisse stehen auf den Inseln, die Nikolas Ververis | |
| verwaltet, das größte und neueste im Dorf Moria auf Lesvos. „Es ist anders | |
| als Pagani“, sagt Ververis. „In Moria werden die Menschenrechte | |
| respektiert. Das Gebäude ist modern, die Bedingungen sind human.“ | |
| An der Mauer von Moria hängt ein Schild. 3.103.866 Euro habe dieses | |
| Gefängnis gekostet, steht darauf; 75 Prozent der Summe hat die EU | |
| aufgebracht. Der frische Beton und das Metall der Gitter reflektieren das | |
| Sonnenlicht aus allen Richtungen; ein greller Fremdkörper in einem Wald aus | |
| Olivenbäumen, der sich im Osten im Meer verliert. Die äußere Mauer der | |
| einstigen Kaserne ist stehen geblieben, etwas weiter innen gibt es einen | |
| ersten Zaun mit Klingenkrone. | |
| Von kleinen Türmen blicken die Wachen, ausstaffiert mit blauen Uniformen | |
| und großen Sonnenbrillen, auf die beigefarbenen Container, umgeben von | |
| Stachel draht, Kameras und Scheinwerfern, als gelte es, Terroristen zu | |
| unterzubringen. „Es ist immer voll hier“, sagt der Schichtleiter. 100 von | |
| 200 geplanten Plätzen des Screening-Trakts sind bislang fertig. Etwa 40 | |
| Flüchtlinge sitzen auf dem Boden des Gefängnishofs in der Sonne. | |
| ## Zwölfmal Frau Malmström | |
| Vor drei Wochen war die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström hier. „Das | |
| ist mein zwölfter Besuch in Griechenland, und ich sehe klare Fortschritte | |
| bei der Asyl- und Migrationsarbeit“, twitterte sie. Moria sei „ein gutes | |
| Beispiel für die Kooperation zwischen der EU und Griechenland“. Dass man | |
| ihr versehentlich das gleiche mit Kolibakterien verseuchte Wasser zu | |
| trinken gab, das zu der Zeit auch die Gefangenen bekamen, twitterte sie | |
| nicht. | |
| Die klimatisierten Container messen schätzungsweise 40 Quadratmeter, je 14 | |
| Menschen teilen sich drei Zimmer plus Bad. „Wir versuchen, die Flüchtlinge | |
| aus einem Land zusammenzulegen, dann kommunizieren sie besser“, sagt der | |
| Wachmann. Minderjährige werden zusammen untergebracht, Mädchen und Jungen | |
| getrennt. | |
| Ein Container gehört der Hilfsorganisation Ärzte der Welt, hier werden die | |
| Migranten untersucht, daneben befindet sich das Büro des | |
| UN-Flüchtlingswerks UNHCR, das sie über ihre Rechte aufklären soll, der | |
| Staat stellt dafür Übersetzer, auch Anwälte haben Zugang zu Moria. Daneben | |
| steht der Frontex-Container, hier werden die Flüchtlinge verhört. „Wir | |
| wollen wissen, über welche Route sie kommen und wer die Schleuser sind“, | |
| erklärt der Polizist. Vor allem geht es darum, die Identität der | |
| Flüchtlinge zu prüfen – und ihre Fingerabdrücke zu speichern. 10 bis 15 | |
| Tage müssen die Gefangenen normalerweise im Screening-Center bleiben. Bei | |
| Syrern dauert die gleiche Prozedur nur einen Tag. | |
| ## Der Abschiebetrakt ist noch nicht fertig | |
| Das Einzige, was in Moria nicht aus Metall oder Beton ist, sind zwei gelbe | |
| Kartentelefone. „Die funktionieren noch nicht“, sagt der Polizist. | |
| „Deswegen dürfen sie ihre Handys noch behalten.“ Noch etwas ist derzeit | |
| noch nicht in Betrieb: das „Pre-Removal-Center“, der Abschiebeknast auf | |
| demselben Gelände mit 500 Plätzen. In der Dürreregion ist es schwierig, | |
| Wasser für so viele Gefangene zu pumpen. Doch das Problem sei bald gelöst, | |
| meint der Polizist. Dann eröffne auch der Abschiebetrakt. | |
| Bis dahin aber reichen die Plätze in Moria nicht mal aus, um alle | |
| Flüchtlinge sofort zu registrieren – was ebenso in Freiheit möglich wäre. | |
| Und so werden sie, wie Familie Sadiq, zunächst in einem leer stehenden | |
| Ferienlager abgeladen. Eine lokale Initiative, das „Dorf der alle zusammen“ | |
| – hat ein informelles Aufnahmezentrum eingerichtet. Sonst landeten die oft | |
| völlig erschöpften Flüchtlinge auf der Straße. | |
| So aber sitzen die Sadiqs mit den anderen Afghanen im Schatten der Pinien, | |
| trinken Tee und betrachten die erste Station ihres neuen Lebens. Fast 150 | |
| Menschen hat die Polizei heute hier geparkt. „Eigentlich wollten wir im | |
| Iran bleiben, schon wegen der Sprache“, sagt Sadiqs Frau Samira. „Aber die | |
| haben uns nach sechs Monaten kein neues Visum gegeben.“ Mohamed Sadiq will | |
| wissen, wie sie nach München kommen können. Dort leben zwei Schwestern | |
| seiner Frau. Er greift in seine Socken und in seine Zigarettenschachtel, | |
| zieht einige dünn zusammengerollte, eingeschweißte Bündel mit Euroscheinen | |
| hervor. „Die habe ich vor den Schleppern und der Polizei versteckt.“ | |
| Freiwillige erklären den Flüchtlingen, dass die Polizei bald kommen und sie | |
| nach Moria bringen werde. Nur wer sich dort registrieren lässt, darf auf | |
| die Fähre nach Athen. Doch dort erwartet sie nicht viel: Kaum ein | |
| Asylantrag wird anerkannt. Und wer doch bleiben darf, bekommt vom Staat | |
| keine Hilfe. Die Flüchtlinge sehen Knast, Abschiebung oder Obdachlosigkeit | |
| entgegen. | |
| Es ist 21.14 Uhr, als der blaue Polizeibus erneut auf den Hof einbiegt. 13 | |
| Menschen steigen aus. Sie kommen aus Syrien, sagen sie. | |
| 19 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| ## TAGS | |
| EU-Flüchtlingspolitik | |
| Griechenland | |
| Migration | |
| EU-Türkei-Deal | |
| EU | |
| Bayern | |
| EU | |
| EU | |
| Flüchtlingspolitik | |
| Rumänien | |
| Flüchtlingspolitik | |
| Goldene Morgenröte | |
| Flüchtlinge | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Flüchtlinge in Griechenland: Frau Gazis blieb | |
| Mit dem EU-Türkei-Deal sanken die Flüchtlingszahlen. Als tausende Helfer | |
| abreisen, gründet eine junge Griechin ihre eigene NGO. | |
| Anhörung der EU-Kommission: Junckers schwarze Schafe | |
| Ab Montag müssen sich Junckers Kandidatinnen und Kandidaten den Fragen des | |
| Parlaments stellen. Ungewöhnlich viele von ihnen wackeln. | |
| Steigende Flüchtlingszahlen in Bayern: CSU-Innenminister attackiert Italien | |
| Joachim Hermann wirft der italienischen Regierung vor, die | |
| EU-Asylbestimmungen zu missachten. Sie lasse die Flüchtlinge einfach | |
| weiterreisen. | |
| Kommentar EU-Freizügigkeit: Wer arbeitslos ist, der fliegt | |
| Sie war der Kern der europäischen Einigung, nun ist die Freizügigkeit | |
| gefährdet: Mit einer Lex Roma will die Union mehr Osteuropäer ausweisen | |
| können. | |
| Kommentar Juncker in Griechenland: Unter Freunden | |
| Von Junckers Besuch in Athen wird viel erwartet. Premier Samaras, der den | |
| neuen EU-Kommissionschef unterstützt hat, will nun etwas zurückhaben. | |
| Debatte Flüchtlingspolitik: Stellt sie gleich! | |
| Die Regierung will die Bezüge für Asylbewerber neu regeln. Warum diese | |
| nicht einfach Hartz IV bekommen können, erklärt sie nicht. | |
| Roma-Ausstellung in Bukarest: Hass und Homophobie | |
| In Bukarest haben Nationalisten versucht, eine Ausstellung des rumänischen | |
| Malers George Vasilescu mit Porträts von Roma-Musikern zu verhindern. | |
| Kommentar Reform des Flüchtlingsrechts: Schikane und Stigmatisierung | |
| Asylbewerber dürfen arbeiten, wenn Deutsche den Job nicht wollen. Dass die | |
| Union dies nun zur Disposition stellt, zeigt: Es ging um Abschreckung. | |
| Nazis in Griechenland: Goldene Morgenröte prügelt wieder | |
| Der Chef der rechtsextremen Partei steht erneut vor Gericht. Dutzende | |
| Anhänger haben dagegen demonstriert – und die Polizei angegriffen. | |
| UN-Direktor über Flüchtlinge: „Für Europa ist das händelbar“ | |
| Immer mehr Menschen werden über das Mittelmeer in die EU kommen, sagt | |
| Volker Türk vom Flüchtlingshilfswerk der UN. Von Asylverfahren in | |
| Nordafrika hält er nichts. |