| # taz.de -- Lage der Opposition im Bundestag: Die Suchenden | |
| > Linke und Grüne verzweifeln über fehlende Kernthemen, Personal und | |
| > Zwistigkeiten. Wie wollen sie das ändern? | |
| Bild: Suchen immer noch nach Kernthemen für die Grünen: Anton Hofreiter im Ge… | |
| BERLIN taz | Die Opposition, freut sich ein SPD-Spitzenpolitiker, sei | |
| schwach wie keine zuvor. In Fachausschüssen, höhnt der Genosse, der lieber | |
| namenlos bleiben möchte, säßen mitunter ahnungslose Neulinge. Ein | |
| SPD-Minister macht sich bereits Sorgen um die parlamentarische Demokratie. | |
| Statt ständig übereinander herzufallen, müssten Grüne und Linkspartei | |
| dringend die Regierung schärfer angehen. Fast klingt Mitleid mit der | |
| Konkurrenz an – die Höchststrafe im politischen Geschäft. Ist das nur die | |
| Selbstgefälligkeit der Großen Koalition? Oder sind Linke und Grüne nach dem | |
| ersten halben Jahr Oppositionsarbeit wirklich in so desolater Verfassung? | |
| Gregor Gysi steht am Montagnachmittag im Reichstag und schaut gut gelaunt | |
| wie fast immer in die TV-Kameras. Noch zwei Wochen, dann beginnt die | |
| Sommerpause. Am Mittwoch wird er, formal Oppositionsführer, Kanzlerin | |
| Angela Merkel in der Generaldebatte als Erster Kontra geben. Dafür läuft | |
| sich der Fraktionschef warm: „Die soziale Spaltung nimmt zu“, sagt er. Und: | |
| „Die Eurokrise kommt in vollem Umfang bei uns an.“ | |
| Bekannte Sätze, die bekannte Rolle der Linkspartei als soziales Gewissen | |
| der Nation. Doch die Große Koalition hat inzwischen zwei Themen der Linken | |
| gekapert: Rente und Mindestlohn. Jahrelang haben die Genossen damit | |
| Regierungen vor sich hergetrieben, nun ist die Luft raus. | |
| Immerhin kann Gysi das Komplizierte einfach machen. Er fragt: „Warum soll | |
| die Lidl-Verkäuferin mit ihren Rentenbeiträgen die Mütterrente bezahlen, | |
| aber ich und Volker Kauder nicht? Verstehe ich nicht.“ Keiner im Bundestag | |
| forderte Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel in den vergangenen sechs | |
| Monaten besser als Gysi. Und: Niemand kann die Widersprüche der Linkspartei | |
| so gekonnt versöhnen wie Gysi, oder zumindest lustig darüber | |
| hinwegplaudern. | |
| ## Revanche und Beleidigungen innerhalb der Linkspartei | |
| Die Frage ist, wie lange er diese Rolle noch erfüllt. Nach der Wahl gab es | |
| in einem Berliner Restaurant ein Krisentreffen der Linksparteispitze. Die | |
| linke Flügelfrau Sahra Wagenknecht drängte in die erste Reihe. Gysi gab | |
| nach. Im Herbst 2015 soll er, so die Verabredung, für Wagenknecht und den | |
| Ostrealo Dietmar Bartsch Platz machen. Wird er? Und vor allem: Was dann? | |
| Bereits jetzt geht es intern wild her. Der Zwist tobt nicht etwa zwischen | |
| den Linksfundamentalisten und Ostpragmatikern, sondern zwischen Reformern | |
| des Forums demokratischer Sozialismus (FdS) um Stefan Liebich und der | |
| Parteichefin Katja Kipping. | |
| Der Streit hat etwas von einer Ehekrise im Endstadium. „Wenn das so | |
| weitergeht, halten uns viele für nicht mehr wählbar“, fürchtet der | |
| Brandenburger Linksparteimann Thomas Falkner, inzwischen aus dem FdS | |
| ausgetreten. Dort spiele „Revanche“ für die Niederlage von Dietmar Bartsch | |
| gegen Katja Kipping vor zwei Jahren eine zu große Rolle. Revanche, Rache, | |
| Beleidigungen. Damit hält sich die Linkspartei gerade auf. | |
| Auch bei den Grünen ist die Stimmung nach dem ersten Halbjahr angeknackst. | |
| Einige Medien haben sich auf ihren Fraktionschef eingeschossen: Anton | |
| Hofreiter, der im Herbst den Posten von Jürgen Trittin an der | |
| Fraktionsspitze übernahm, hält als Sündenbock für vieles her, was | |
| schieflief. Anders als die Linksfraktion mit ihrem erprobten Frontmann Gysi | |
| haben die Grünen den Generationswechsel schon vollzogen. Seither lasten | |
| enorme Erwartungen auf „Toni“. Hofreiter versprach, der taumelnden | |
| Bundestagsmannschaft eine gewisse Unverwechselbarkeit zu garantieren mit | |
| seiner kumpeligen Art, der bayerisch-deftigen Sprache und der aus der Zeit | |
| gefallenen Langhaarfrisur. | |
| ## Niemand füllt das Vakuum | |
| Doch der Bayer blieb blass, seine erste große Rede im Bundestag wirkte | |
| ungeübt, der Neue kassierte zunehmend Spott und Dresche. Ein Satiremagazin | |
| besang ihn als „Kleinen grünen Hanswurst“, dann kam auch noch die | |
| Zweitwohnungssteuer-Affäre – Hofreiter hatte vergessen, diese zu bezahlen. | |
| Die drei anderen aus dem grünen Spitzenquartett – Kofraktionschefin Katrin | |
| Göring-Eckardt sowie die Parteichefs Simone Peter und Cem Özdemir – duckten | |
| sich dankbar weg. Denn Hofreiter lenkte als Blitzableiter vortrefflich von | |
| ihren Schwächen und den inhaltlichen Lücken bei den Grünen ab. | |
| Die Lage ähnelt der nach einer Palastrevolution. Die gefürchteten Herrscher | |
| sind weg. Endlich Freiheit für alle Kleingehaltenen. Doch nach der ersten | |
| Euphorie wird klar: Niemand kann das Vakuum füllen. „Selbst bei Grünen ist | |
| ganz tief der Wunsch nach Führung verwurzelt“, sagt ein einflussreicher | |
| grüner Landespolitiker. Seit Trittins Rückzug fehle seiner Partei „die eine | |
| Person, die intellektuell und strategisch vorangeht“. | |
| Wer vorangehen will, muss eine Route kennen. Doch auch die ist unklar. Im | |
| Parlament haben sie sich einen „konstruktiven“ Oppositionskurs verordnet. | |
| Also keine Kritik um der Kritik willen. Noch schriller als die | |
| Linksfraktion ginge es ohnehin nicht. Inzwischen jedoch hört man den | |
| Spitzenleuten an, wie sie die Regler hochdrehen. | |
| ## Mangelnde Haltung trifft auf personelle Probleme | |
| Am Dienstag, dem Tag vor seiner Rede in der letzten Generaldebatte vor den | |
| Parlamentsferien, tritt Hofreiter ziemlich krachledern auf. Ein paar Flure | |
| weiter im Reichstag spitzt sich gerade der Streit um die Energiewende zu. | |
| Hofreiter überbietet sich mit Tiraden: frech, unverschämt, skandalös sei | |
| der Umgang der Regierung mit dem Parlament. „Wir können nicht verhindern, | |
| dass die Unsinn beschließen“, poltert er. „Aber wir können immerhin dafür | |
| sorgen, dass der Unsinn sichtbar wird.“ | |
| Doch auch bei ihrem früheren Knallerthema haben es die Grünen schwer. Sie | |
| verorten sich irgendwo zwischen Mitmachen und Opponieren, und das ist keine | |
| einfache Lage. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärte im | |
| Frühjahr, die Grünen müssten „versuchen, die Energiewende im Konsens | |
| voranzutreiben“. Die Bundesländer hatten zuvor stundenlang im Kanzleramt | |
| über das EEG-Gesetz verhandelt. „Das ist uns heute gut gelungen“, | |
| versicherte Kretschmann. | |
| Zwölf Stunden später klang das bei Hofreiter komplett anders. Die Reform | |
| bleibe falsch, schimpfte er: „Das Tempo der Energiewende wird verringert, | |
| die Ausbauziele sind zu niedrig.“ Was ankam war: Die Grünen haben bei ihrem | |
| Kernthema keine klare Haltung. | |
| Auch personell ist es schwierig. Wichtige Energieexperten flogen aus dem | |
| Bundestag. Andere wechselten die Seiten – darunter Rainer Baake, früher als | |
| Staatssekretär bei Jürgen Trittin Architekt grüner Energiepolitik. Im Jahr | |
| 2013 holte ihn SPD-Minister Sigmar Gabriel wieder als Staatssekretär – was | |
| allzu wütenden Protesten der Grünen die Glaubwürdigkeit nimmt. | |
| ## AKW-Protest ging immer | |
| Früher half den Grünen notfalls ihr Anti-Atom-Selbstverständnis. Doch der | |
| AKW-Protest hat sich erledigt. Ein neues Herzensthema ist nicht in Sicht. | |
| „Da gibt’s ein großes Spektrum an Ideen und Möglichkeiten“, sagte Hofre… | |
| kürzlich bei einem Podiumsauftritt. Übersetzt heißt das: Den Grünen fehlt, | |
| wie der Linkspartei, das identitätsstiftende Großthema. Flügelstreitereien | |
| schwelen vor sich hin. Nachdem die Partei kürzlich einen Fahrplan zur | |
| Kanalisierung des Steuerkonflikts verabschiedete, zoffen sich Spitzengrüne | |
| jetzt halböffentlich über dessen Auslegung. Landesfürsten beklagen, die | |
| Partei trage zu viele ungeklärte Fragen mit sich herum, die eigentlichen | |
| Kontroversen würden nicht ausgetragen. | |
| „Wir sind noch nicht aus dem Gröbsten raus“, konstatiert Malte Spitz, 30 | |
| Jahre, Nachwuchsvertreter im einflussreichen Parteirat. Man sei in der | |
| Findungsphase, „wer wir sind und wohin wir wollen“. Seine Partei brauche | |
| jetzt grundsätzliche Diskussionen: „Mit welcher Haltung treten die Grünen | |
| auf? Welche Inhalte stellen wir nach vorne?“ | |
| Kein Wunder, dass bei einer Umfrage nach der Europawahl im Mai 70 Prozent | |
| der Wähler zugaben: Sie kapieren gerade nicht, wofür die Grünen stehen. Die | |
| Fraktion überprüft inzwischen ihre inhaltlichen Prioritäten. Nach der | |
| Sommerpause wird sie vermutlich einen weiteren Schwerpunkt setzen. Ein | |
| „mögliches Thema“, sagt Anton Hofreiter, sei das umstrittene | |
| Freihandelsabkommen TTIP. | |
| Dabei kann es ja auch gut laufen, so wie zuletzt im Untersuchungsausschuss | |
| zur NSA-Affäre. Der grüne Altlinke Christian Ströbele und | |
| Realo-Fraktionsvize Konstantin von Notz treiben munter die Regierung vor | |
| sich her, flankiert von der Linkspartei-Obfrau Martina Renner. Das Gezerre | |
| um Edward Snowden macht seit Wochen Schlagzeilen. Inzwischen bereiten die | |
| Fraktionen gemeinsam eine Klage beim Verfassungsgericht vor. | |
| Eine solche Kooperation ist die Ausnahme. Es fehle oft ganz einfach an | |
| „Absprachen in den Ausschüssen, um zusammen effektive Oppositionsarbeit zu | |
| machen“, analysiert Linkspartei-Mann Liebich. Die Zusammenarbeit mit den | |
| Grünen müsse sich verbessern. Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit. | |
| Doch spätestens seit der Ukrainekrise ist es das Gegenteil davon. | |
| 24 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| Astrid Geisler | |
| Malte Kreutzfeldt | |
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