| # taz.de -- Postkoloniale Chronik Lateinamerikas: Roman der Realität | |
| > „Verdammter Süden“ ist eine Anthologie neuer lateinamerikanischer | |
| > Chroniken. Interessant darin ist vor allem ein Beitrag Leila Guerrieros. | |
| Bild: „Ein halbes Jahr tauchte der Autor in ein Leben am Existenzminimum ein.… | |
| Als die Spanier auf der Suche nach einer westlichen Schiffspassage nach | |
| Indien eher zufällig 1492 auf die Bahamas und später das amerikanische | |
| Festland stießen, ignorierten sie zunächst die Tatsache, dass es sich | |
| hierbei um einen eigenen Kontinent handelte. Und so nannten sie ihre | |
| Berichte über die in Mittel- und Südamerika vorgefundenen Bewohner und | |
| Landschaften auch „Crónicas de Indias“. Diese frühen Chroniken der | |
| Kolonisatoren sollten in der Folge maßgeblich das Bild der neuen Welt in | |
| Europa prägen. | |
| Eine zeitgenössische, postkoloniale Interpretation der Chronik | |
| Lateinamerikas findet sich nun in der soeben erschienenen Anthologie | |
| „Verdammter Süden. Das andere Amerika“. Die Herausgeber Carmen Pinilla und | |
| Frank Wegner stellen damit ein spezifisch iberoamerikanisches Format der | |
| literarischen Reportage vor. Ursprünglich erschienen die meisten der | |
| gegenwärtigen Beiträge in Zeitschriften und Magazinen, wie dem | |
| kolumbianischen SoHo oder dem argentinischen Rolling Stone. | |
| Mit viel Empathie für die Protagonisten berichten die Autoren in ihren | |
| journalistischen Erzählungen vom Alltag in Argentinien, Brasilien, | |
| Bolivien, Kolumbien, Mexiko, Peru oder Panama und geben so einen sehr | |
| persönlichen Blick auf die sozialen und politischen Realitäten vor Ort. | |
| Viele der dreizehn hier vertretenen Autorinnen und Autoren gehören zur | |
| Gruppe der „Nuevos Cronistas de Indias“, der neuen Chronisten. | |
| Dieser Zusammenschluss lateinamerikanischer Journalisten ist eng verbunden | |
| mit der 1994 von dem kolumbianischen Schriftsteller und einstigen Reporter | |
| Gabriel García Márquez gegründeten Fundación para el Nuevo Periodismo | |
| Iberoamericano, der Stiftung für einen neuen iberoamerikanischen | |
| Journalismus. Mitstreiterinnen hatte García Márquez auf dem ganzen | |
| lateinamerikanischen Subkontinent. | |
| „Besser als jedes andere Genre reflektiert die Chronik die sozialen | |
| Probleme, die Korruption eines Landes und die Situation der immer | |
| Vergessenen“, hebt beispielsweise die mexikanische Autorin Elena | |
| Poniatowska, renommiertes Mitglied der „Cronistas“, die besondere Qualität | |
| der literarischen Reportage hervor. In diesem Sinne ist eine der | |
| eindrücklichsten Chroniken des Suhrkamp-Bands die Erzählung von Andrés | |
| Felipe Solano, „Sechs Monate auf Mindestlohn“. Ein halbes Jahr lang tauchte | |
| der Autor in ein Leben am Existenzminimum ein und arbeitete als | |
| Lagerarbeiter in der Textilfabrik „Tutto Colore“ in Medellín. | |
| ## Menschen mit Menschlichkeit und Würde | |
| In der zweitgrößten kolumbianischen Stadt, die noch von der Gewalterfahrung | |
| des Drogenkriegs gekennzeichnet ist, trifft Solano auf Menschen, die ihm | |
| mit Menschlichkeit und Würde begegnen und denen er – sich seiner eigenen | |
| privilegierten Situation bewusst – uneingeschränkten Respekt zollt. In | |
| „Verdammter Süden“ findet sich auch eine Reportage von Leila Guerriero, | |
| „Die Stimme der Knochen“. Diese ist auch in Guerrieros versammelten | |
| Chroniken der Jahre 2001 bis 2008 enthalten, die der Ullstein-Verlag unter | |
| dem Titel „Strange Fruit“ in einem eigenen Band veröffentlicht hat. | |
| In „Die Stimme der Knochen“ betritt die Journalistin Guerriero quasi durch | |
| die Nebentür ein traumatisches Kapitel der jüngeren argentinischen | |
| Geschichte. Sie erzählt von den Anfängen der Gruppe „Forensische | |
| Anthropologie“, die sich 1984 in Buenos Aires aus einer Handvoll Studenten | |
| gründete. Diese einte der Wunsch, Familien auf der Suche nach ihren | |
| verschwundenen Angehörigen zu unterstützen. In der Zeit der argentinischen | |
| Militärdiktatur (1976–1983) wurden Zehntausende Regimegegner heimlich | |
| ermordet, ihre Leichname wurde oftmals bis heute nicht gefunden. | |
| Guerriero verfolgt die detektivische, oft minutiöse Arbeit dieser | |
| couragierten Forensiker und lässt sie dabei über ihre Empfindungen Auskunft | |
| geben. In dreihundert Fällen gelang dem Team die Identität von Ermordeten | |
| nachträglich zu rekonstruieren. Aufgrund dieser in Argentinien gesammelten | |
| Erfahrungen, wurden Mitglieder der Gruppe später zur Dokumentation von | |
| Völkermord- und Kriegsverbrechen in dreißig weiteren Staaten auf der ganzen | |
| Welt hinzugezogen – in Osttimor oder Exjugoslawien. | |
| Andere Beiträge aus „Verdammter Süden“ widmen sich kleineren, alltäglich… | |
| Ereignissen: dem Leben auf einer aus Müll errichteten Insel in der Karibik, | |
| zwei entflohenen Nilpferden aus dem Privatzoo Pablo Escobars oder einer | |
| Leihbücherei, die auf Eseln zu seinen Lesern kommt. Nicht alle dreizehn | |
| Chroniken sind literarische Perlen, doch zusammen ergeben sie ein | |
| vielfältiges und lebendiges Bild des südlichen Amerikas, das zwar von | |
| Gewalt, Armut und Korruption geprägt ist, aber auch von seinem | |
| zivilgesellschaftlichen Streben dieses Unrecht zu benennen. | |
| Der im April verstorbene Gabriel García Márquez nannte das Genre der | |
| Chronik „den Roman der Realität“. Doch gerade ein literarischer | |
| Journalismus lebt auch von seiner Aktualität. In dieser Hinsicht jedoch | |
| schenken die Herausgeber der Anthologie dem Aspekt der Dringlichkeit zu | |
| wenig Bedeutung. Sie greifen auf Beiträge zurück, die schon vor vielen | |
| Jahren auf Spanisch erstveröffentlicht wurden. Das ist unverständlich, | |
| sprechen Pinilla und Wegner in ihrem Nachwort doch selbst von der Chronik | |
| als einer „genuin iberoamerikanischen Textart“ und besonders gegenwärtigen | |
| Praxis. | |
| 3 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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