# taz.de -- Psychiatrie in Mexiko: Stimmen aus dem Schatten | |
> Ihre Familie schickte sie in die Psychiatrie. „Es war die Hölle“, sagt | |
> Natalia Santos. Immer noch werden psychisch Kranke in Mexiko | |
> weggeschlossen. | |
Bild: Ausgegrenzt, ruhig gestellt, sich selbst überlassen | |
MEXIKO-STADT taz | Am Anfang war sie traurig. So traurig, dass sie ihr | |
Zimmer nicht mehr verlassen wollte. Ihr Leben schien in dunkle Nacht | |
getaucht. Sie schluckte Pillen, doch statt Sonnenschein kamen Stimmen. | |
Unendlich viele Stimmen zerrissen sich das Maul über sie, lästerten, bis | |
Natalias Kopf zu zerspringen drohte. | |
Als sie sich immer mehr in ihrem Kinderzimmer vergrub, bekamen ihre Eltern | |
Angst und brachten sie zu einem Priester. „Ich sah, wie sich sein Gesicht | |
in das des Teufels verwandelte, und schrie und trat um mich“, berichtet | |
Natalia Santos, „so lange, bis mein Vater mich nach Hause brachte.“ In | |
dieser Nacht fesselte Celedonio Santos seine Tochter mit Seilen ans Bett, | |
legte ein Kruzifix auf ihren Körper und betete. | |
Als der Katholizismus versagte, holten Natalias Eltern eine spirituelle | |
Heilerin ins Haus. „Eure Tochter ist vom Teufel besessen“, lautete ihre | |
Diagnose, Kräutertees sollten helfen. Doch Natalias Stimmen redeten ihr | |
ein, ihre Eltern wollten sie vergiften. Sie verweigerte das Essen und | |
versuchte zu fliehen. Also wurden sie weggesperrt, die Stimmen. Und | |
Natalia. Hinter die dicken Mauern der Anstalt. | |
Wenn Natalia Santos von dieser Zeit erzählt, stockt ihre Stimme. „Einmal, | |
als ich nicht essen wollte, banden mich die Pfleger mit Hundeleinen ans | |
Bett, ich schwitzte, zitterte und hatte so große Angst.“ Vier Mal wurde sie | |
eingewiesen, schwamm ein Jahr lang wie betäubt im Drogenmeer und versuchte | |
drei Mal mit einer Überdosis darin zu ertrinken. „Keinem wünsche ich, dass | |
er so leben muss wie die Patienten in der Psychiatrie.“ | |
## Schweres Eisentor | |
Ihre Erfahrungen von der anderen Seite der Mauer haben Natalia Santos | |
geholfen, zu verstehen, dass vieles falsch läuft. Und kaum einer versucht | |
es zu ändern. Die 27-Jährige hat gelernt, mit der Schizophrenie und ihren | |
Ängsten zu leben, und nutzt die neue Chance im Colectivo Chuhcan, einer | |
Organisation von und für psychisch Kranke. Durch die Organisation fühlt sie | |
sich normal in einem Land, in dem psychische Krankheiten noch immer stark | |
stigmatisiert sind. Natalia Santos bekämpft Ausgrenzung und Benachteiligung | |
der Betroffenen, indem sie gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation | |
Disability Rights International (DRI) die Einhaltung der Menschenrechte in | |
mexikanischen Psychiatrien überwacht. | |
Ein sonniger Freitagnachmittag im Juli. Die ersten Wochenendurlauber | |
rauschen aus dem Megamoloch Mexiko City stadtauswärts in Richtung | |
Ferienhaus. Auch Natalia Santos und vier Mitarbeiter von DRI fahren an den | |
Stadtrand, so weit draußen, dass sich niemand zufällig hierher verirrt. Ihr | |
Ziel ist die Psychiatrie „Samuel Ramírez“. „Vielleicht hat sich ja etwas | |
getan“, sagt Robert Okin, ein amerikanischer Psychiater, der seit Jahren | |
für DRI die Einrichtungen in Mexiko begutachtet. „Ja, vielleicht“, sagt | |
sein Begleiter Humberto Guerrero, Leiter von DRI in Mexiko, während er das | |
Auto parkt. Seiner Stimme merkt man an, dass er mehr hofft, als dass er | |
daran glaubt. | |
Die Klinik liegt hinter Steinmauern, in die ein schweres Eisentor Einlass | |
gewährt. Doktor César Bañuelos begrüßt die Besucher. Die Gruppe trottet | |
los, ein Wachmann schleicht hinterher, damit niemand vom rechten Weg | |
abkommt. Grüne Palmen, Blumenbeete, neu angelegte Pfade – hübsch sieht es | |
aus. „Beginnen wir mit dem Positiven“, sagt der Klinikleiter, „unserer | |
neuen Tagesklinik.“ | |
## Einmal im Monat ins Restaurant | |
Blitzblank ragt hinter ihm ein rot-weißer Neubau in den Himmel. 200 | |
Millionen Pesos (11,3 Millionen Euro) habe die Regierung in die | |
Modernisierung der Ambulanz investiert, verkündet Bañuelos stolz. Seine | |
Schritte hallen, während er durch die Gänge geht, Baustaub wirbelt durch | |
die Luft. „Da bleibt doch nichts mehr für die chronisch Kranken“, wundert | |
sich der amerikanische Psychiater mit rauchig-weicher Stimme. „Sollten wir | |
nicht eher über die Modernisierung des Behandlungssystems statt der Gebäude | |
reden?“ Bañuelos zuckt die Achseln, nickt, schweigt. Natalia Santos | |
schreibt mit. | |
Die Bedingungen in Mexikos Psychiatrien zählen laut Experten wie Robert | |
Okin zu den schlechtesten weltweit. Noch immer werde das | |
institutionalisierte Modell des 19. Jahrhunderts praktiziert. In Gesprächen | |
mit den Patienten haben die Mitglieder von DRI festgestellt, dass Folter | |
und unmenschliche Behandlung nicht selten sind, dass kaum eine individuelle | |
Einstellung der Medikamente erfolgt und die bisher einzige | |
Reintegrationsmaßnahme in die Gesellschaft ein monatlicher Restaurantbesuch | |
ist. | |
Die Gruppe lässt den Neubau hinter sich. Farblos und grau winden sich die | |
Gänge hin zu schmucklosen Betonbauten. Natalia Santos’ braune Augen | |
registrieren alles, ihre Hände halten die Eindrücke schriftlich fest und | |
geraten gelegentlich ins Stocken. | |
## Brabbeln statt sprechen | |
Ein Patient liegt barfuß auf dem Steinboden. Ein zweiter hockt am | |
Gebäudeeingang, die Hände mit Klebeband gefesselt. Ein dritter kauert im | |
Schneidersitz unter einem Baum, schlägt seinen Kopf ein ums andere Mal auf | |
die Erde. Sie brabbeln statt zu sprechen, torkeln statt zu laufen. | |
Vollgepumpt, ruhig gestellt, fern gesteuert. Drinnen stehen die Pfleger und | |
plauschen. | |
Vor vier Jahren haben Natalia Santos und DRI die Psychiatrie „Samuel | |
Ramírez“ schon einmal besucht. Damals beschrieb ihr Leiter César Bañuelos | |
das Leben in der Klinik als „Hölle“. Wenn er abends heimkäme, würde er s… | |
wie zerschmettert fühlen. Heute sagt er, es mangele an ausgebildetem | |
Personal und einer Regierung, die einen wirklichen Wandel unterstützt, | |
statt neue Gebäude zu bauen. | |
In den vergangenen Jahren hat sich Mexiko der Öffentlichkeit als einer der | |
Hauptverfechter der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit | |
Behinderung“ von 2008 präsentiert. Im September muss das | |
lateinamerikanische Land seine Entwicklungen und Fortschritte vor der | |
UN-Kommission in Genf vorstellen. „Neubauten wie der im ’Samuel Ramírez‘ | |
sind kosmetische Verschönerungen, die nach außen hin gut aussehen, das | |
wahre Problem jedoch nicht angreifen“, sagt Humberto Guerrero und streicht | |
sich mit der Hand über die Glatze. Eine der dringendsten Forderungen von | |
DRI und dem Colectivo Chuhcan ist es, endlich in die Integration psychisch | |
kranker Menschen in die Gesellschaft zu investieren. | |
## Verlust des Zeitgefühls | |
Therapiezeit im „Samuel Ramírez“. Natalia Santos und Humberto Guerrero | |
stehen vor einem Dutzend Männer, alle über vierzig. Vor dem Fernseher | |
geparkt, schauen sie gemeinsam eine Telenovela. „Unsere | |
Sozialisierungstherapie“, erklärt die Therapeutin Aracely Domínguez. | |
Natalia fragt, warum die Therapie nicht im Park oder außerhalb der | |
Psychiatrie stattfinde. „Draußen würden sie sich nur verletzen“, sagt die | |
Therapeutin und streicht dem Patienten vor ihr über den Kopf. Santos | |
notiert ihre Antwort. | |
Die Regierung von Mexiko-Stadt betont, dass die Integration und | |
Resozialisierung der Patienten oberste Priorität habe. „Wir arbeiten hart | |
an einem Wandel weg von den psychiatrischen Anstalten und Langzeitpatienten | |
hin zu sozialen Maßnahmen und alternativen Betreuungsmodellen“, versichert | |
der Regierungsmitarbeiter Eduardo Madrigal. Bis 2015 soll der Wandel | |
abgeschlossen sein. Nach Fertigstellung der Tagesklinik blieben für soziale | |
Maßnahmen in Mexiko-Stadt allerdings weniger als eine Million Euro übrig. | |
Dabei könnten die meisten Langzeitpatienten mit angemessener Betreuung | |
außerhalb der Psychiatrien leben, sagt Experte Robert Okin. | |
Wie viele Jahre sie hier sind, wissen die meisten nicht mehr. Nach zehn | |
oder zwanzig Jahren haben sie aufgehört zu zählen. Zeit spielt keine Rolle | |
mehr, sie verpassen nichts, schaffen nichts, machen nichts. Sie sind nur, | |
verlassen und vergessen. | |
## Wie im Waisenhaus | |
In den Schlafsälen des „Samuel Ramírez“ beißt sich der Uringeruch in den | |
Nasenflügeln fest. Kein Bild, kein Erinnerungsstück zeugen von einem | |
früheren Leben der Vergessenen. Ein Mann sitzt mit durchnässter Jogginghose | |
im Rollstuhl, wippt unablässlich vor und zurück – Jaktation nennen | |
Mediziner dieses Zeichen von Vernachlässigung und Vereinsamung, erklärt | |
Robert Okin. Seine Augen suchen die des Mannes, er nimmt dessen Hand in die | |
seine und sie schweigen gemeinsam. | |
Roberto steht still im Gang. Er ist gelernter Buchhalter, 62 Jahre alt und | |
einer der wenigen, der noch Sätze spricht. Humberto Guerrero fragt ihn, wie | |
sein Tagesablauf aussieht. Einmal pro Woche darf er raus, erzählt Roberto, | |
und seine Augen leuchten auf, dann kauft er sich eine Limo oder einen | |
Schokoriegel am Stand vor der Psychiatrie. Auf die Frage, wie lange er | |
schon hier lebt, grinst er. „Seit Deutschland zum letzten Mal Weltmeister | |
war“, sagt er und meint 1990. Genauso lang hat er seine Familie nicht mehr | |
gesehen. Die Psychiatrien in Mexiko sind auch Waisenhäuser für Erwachsene. | |
Im Haus der Familie Santos sitzt ein paar Tage später Natalias Vater | |
Celedonio am Mittagstisch und hört zu, wie sie von ihrem Besuch in der | |
Psychiatrie erzählt. Was aus seiner Tochter wird, wenn er einmal nicht mehr | |
ist, daran will der 78-Jährige nicht denken. Seine Augen füllen sich mit | |
Tränen. 340 Euro zahlen sie jeden Monat für Natalias Medikamente – ihr | |
Bruder unterstützt sie, der Staat nicht. | |
Es klappert, Natalias Mutter räumt die Teller ab, die Tochter verdrückt | |
sich in ihr Zimmer. Durch die schweren Vorhänge dringt kaum Licht, die | |
Wände sind mit selbst gemalten Bildern tapeziert. Natalia Santos hockt auf | |
dem Bett und blickt auf ihren Altar mit den Engel-Statuen. Nach dem Besuch | |
im „Samuel Ramírez“ hat sie sich eingeschlossen und geweint. Aus Mitgefühl | |
für die Vergessenen, die keine Familie wie sie haben. Und aus Dankbarkeit, | |
der „Hölle“ entkommen zu sein. | |
6 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Lisa Hagen | |
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