# taz.de -- Migration in die USA: Not this way, Niños! | |
> Seit zehn Jahren lebt Nancy aus El Salvador ohne Aufenthaltserlaubnis in | |
> Washington. Ihre Töchter sollen ihr folgen. Doch die Risiken sind enorm. | |
Bild: Internierungslager für Einwanderer in Nogales, Arizona. | |
WASHINGTON taz | „Zu gefährlich“, antwortet Nancy* immer noch, wenn ihre | |
jüngste Tochter am Telefon bittet: „Mami, hol mich zu dir“. Aber das | |
Drängen des inzwischen 14-jährigen Mädchens wird lauter. Und die Qualen der | |
Mutter, die das Heranwachsen ihrer beiden Töchter nur noch am Telefon | |
erlebt, nehmen zu. Bis zu 12.000 Dollar kassieren Schlepper von | |
ZentralamerikanerInnen, um ein Kind in die USA zu bringen. „Ich denke jeden | |
Tag darüber nach, ob ich das Wagnis eingehen soll“, sagt Nancy. Sie weint, | |
wie immer, wenn sie über ihre beiden „Niñas“, Töchter, spricht. | |
Seit Herbst 2013 sind mehr als 52.000 unbegleitete Kinder und minderjährige | |
Jugendliche an der Südgrenze der USA gefasst worden. 12.000 der kleinen | |
Einwanderer stammen aus Mexiko. Sie alle wurden von US-Grenzpolizisten | |
umstandslos in Busse gesetzt und zurückgeschickt. Das Gesetz in den USA | |
erlaubt diesen Umgang mit „illegalen“ Einwanderern aus dem Nachbarland. Die | |
anderen Kinder stammen mehrheitlich aus drei Ländern in Zentralamerika, die | |
zu den ärmsten der Welt gehören: Guatemala, El Salvador, Honduras. Diese | |
zentralamerikanischen Kinder werden von US-Grenzschützern in | |
Polizeistationen, Militärkasernen und anderen nicht für Kinder geeigneten, | |
überfüllten Notunterkünften untergebracht. Dort müssen die Kinder – oft | |
hinter Stacheldraht – bleiben, bis sie an Angehörige oder Pflegefamilien | |
übergeben werden; teilweise vergehen bis dahin 45 Tage. | |
Die kleinen Zentralamerikaner haben Anrecht auf ein Asylverfahren. Falls | |
sie glaubhaft machen können, dass ihnen Verfolgung oder Gewalt drohen, | |
haben sie eine Chance, in den USA zu bleiben. Aber die Wartezeit bei den | |
Einwanderungsgerichten beträgt derzeit mehr als ein Jahr. | |
Die Kindereinwanderung in die USA ist in den vergangenen drei Jahren | |
explodiert. Während die US-Grenzschützer bis 2011 jährlich rund 4.000 | |
unbegleitete Kinder aus den drei mittelamerikanischen Ländern aufgriffen, | |
waren es 2012 mehr als 10.000, 2013 fast 21.000. Für 2014 rechnen die | |
US-Behörden mit über 90.000. Menschenrechtsexperten glauben, dass die Armut | |
und die Zunahme von Mordquoten und Bandengewalt in den | |
zentralamerikanischen Ländern den Kinderexodus beschleunigen. | |
## Rund 12 Millionen „Undocumented“ leben in den USA | |
Womöglich stranden auch die Töchter von Nancy demnächst in einem dieser | |
Auffanglager. Als Nancy El Salvador verließ und ihre beiden Töchter in die | |
Obhut ihrer Mutter gab, um mithilfe eines Schleppers über die Grenze in die | |
USA zu gehen, dachte die junge Frau noch, es wäre eine Frage von ein paar | |
Monaten, bis sie eine Aufenthaltsgenehmigung und genügend Geld hätte, um | |
die Kinder nachzuholen. | |
Mehr als zehn Jahre und zigtausende Arbeitsstunden als Putzfrau in | |
Haushalten der US-Hauptstadt später ist sie in einer Sackgasse: Nancy ist | |
immer noch eine „Undocumented“, eine von fast 12 Millionen in den USA, die | |
meisten aus Lateinamerika. Sie zahlen Steuern, aber sie haben keine | |
Aufenthaltsgenehmigung und keine Rechte. | |
Nancy hat in den USA noch ein Kind bekommen. Ihr Sohn – der einzige | |
US-Staatsangehörige der Familie – wird in diesem Herbst eingeschult. Für | |
ihre beiden Töchtern hat Nancy bis heute keinen akzeptablen Weg gefunden. | |
Als Papierlose kann sie nicht selbst nach El Salvador reisen. Und bislang | |
ist sie nicht bereit, ihre Mädchen den Risiken einer illegalen Einreise in | |
die USA – die sie selbst als junge Frau erlebt hat – auszusetzen. | |
In das republikanisch regierten Murrieta, 75 Meilen nördlich der Grenze zu | |
Mexiko, brachten Grenzbehörden am 1. Juli drei Busse mit jungen Müttern und | |
zahlreichen Kindern zur vorübergehenden Unterbringung in die Stadt. Die | |
Busse wurden von fähnchenschwingenden und „USA, USA!“ skandierenden | |
Demonstranten so lange umzingelt, bis die Migranten in eine andere Stadt | |
gebracht wurden. In vielen Grenzorten, wo in den überfüllten Unterkünften | |
humanitärer Notstand herrscht, sind allerdings auch Ärzte und | |
Migrantengruppen mit Hilfe zur Stelle. Viele von ihnen werden von Kirchen | |
in den USA unterstützt. Und in Houston, Texas, sagt die demokratische | |
Kongressabgeordnete Sheila Jackson Lee: „Diese unbegleiteten Kinder sind | |
nicht der Feind Amerikas.“ | |
Fast 2.000 Meilen nordöstlich von der texanisch-mexikanischen Grenze ist | |
Pastor Thomas Healy immer wieder mit der Frage konfrontiert: „Soll ich | |
meine Kinder holen?“ Der 74-Jährige ist seit 23 Jahren in der katholischen | |
Kirche Nuestra Señora de los Dolores im New Yorker Stadtteil Queens tätig. | |
An Sonntagen feiert er ab 6 Uhr morgens Messen – mehrheitlich auf Spanisch. | |
Wenn er in seine Gemeinde schaut, denkt er an seinen eigenen Vater, der | |
einst als irischer Immigrant in die USA gekommen ist. „Diese Leute sind | |
unsere Zukunft“, sagt er, „sie arbeiten von früh bis spät, damit es ihren | |
Kindern besser geht.“ Doch wenn Mütter seiner Gemeinde ihn um Rat fragen, | |
ob sie ihre Kinder nachholen sollen, antwortet er: „Du musst selbst | |
entscheiden.“ | |
* Name geändert | |
10 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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