| # taz.de -- Literatin Poniatowska zur aktuellen Lage: „Mexiko erwacht jetzt“ | |
| > Elena Poniatowska, die Grande Dame der mexikanischen Literatur, über ihr | |
| > Land, das derzeit in Gewalt und Korruption versinkt. | |
| Bild: Proteste nach dem Mord an Studenten: Die mexikanische Schriftstellerin El… | |
| taz: Frau Poniatowska, Sie haben ein Buch über das Massaker geschrieben, | |
| mit dem das Militär die mexikanische Studentenbewegung von 1968 beendet | |
| hat. Ist das, was jetzt in Ayotzinapa passiert, ein Déjà-vu für Sie? | |
| Elena Poniatowska: Die Ähnlichkeit ist der Tod. Was jetzt anders ist: Ich | |
| glaube, dass Ayotzinapa der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen | |
| bringt. | |
| Es hat in Mexiko in den letzten Jahren viele Blutbäder gegeben. Woher | |
| nehmen Sie den Optimismus, dass nun, nach dem Verschwinden und der | |
| wahrscheinlichen Ermordung der 43 Studenten, etwas anderes folgt? | |
| Die Öffentlichkeit ist dieses Mal anders und der Protest. Es gibt heute | |
| viel mehr soziale Beteiligung. Ich bin eine positiv denkende Person – und | |
| ich liebe mein Land. Ich glaube an die Jugend. Die jungen Leute haben | |
| prächtige Demonstrationen organisiert, die nicht aggressiv waren. Und ich | |
| glaube, das ist erst der Anfang. Mexiko erwacht jetzt. Die Menschen wollen, | |
| dass sich die Situation ändert. | |
| Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle als Schriftstellerin in dieser Situation? | |
| Eine Schriftstellerin hat die Aufgabe, sich zu entrüsten. Sie muss anklagen | |
| und bekannt machen, was geschieht. Und sie muss sich auf die Seite der | |
| Opfer zu stellen. | |
| Sie sind in Mexiko eine verehrte und auf jeden Fall die höchstdekorierte | |
| lebende Schriftstellerin. In diesem Jahr haben Sie den Cervantes-Preis | |
| bekommen, die wichtigste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen | |
| Welt. In New York treten Sie beim spanischen und nicht beim mexikanischen | |
| Kulturinstitut auf. Wieso? | |
| Die mexikanische Regierung würde niemals eine Person einladen, die sie | |
| kritisiert. Das spanische Institut hingegen lädt Lateinamerikaner ein und | |
| verbindet so Spanien mit Lateinamerika. | |
| Wie kann man ein Land nennen, in dem die Polizei Studenten gefangen nimmt, | |
| um sie zum Zwecke ihrer Ermordung an eine Bande von Verbrechern | |
| weiterzugeben? | |
| Ein gescheitertes Land. Eines, in dem die Bürger keine Garantien haben. Es | |
| ist unerträglich und unannehmbar, dass Studenten einer Lehreruni | |
| „verschwinden“. Dass sie ermordet und verbrannt werden. Es ist sehr, sehr | |
| traurig. | |
| In Ayotzinapa – wie bei vorausgegangenen Verbrechen – sind die meisten | |
| Opfer extrem jung. Hat die mexikanische Regierung ein Problem mit der | |
| Jugend des Landes? | |
| Sie hat ein Problem mit Aufsässigkeit. Und wer aufsässig ist und gegen das | |
| Regime rebelliert, das sind in der Regel die Jungen. Nicht die Alten. | |
| Was erwarten Sie jetzt von der mexikanischen Regierung? | |
| Als Erstes muss sie überhaupt ein Bewusstsein für die Lage entwickeln. Auch | |
| in diesem Fall haben die enormen sozialen Klassenunterschiede eine Rolle | |
| gespielt. Lehramtsstudenten in Mexiko gehören zu den Ärmsten der Armen. Die | |
| einzigen Ausbildungsstätten, die ihnen offenstehen, sind die extrem | |
| schlecht ausgestatteten Escuelas Normales Rurales (Schulen für die | |
| Lehrerausbildung in ländlichen Gemeinden, d. Red.), wie die in Ayotzinapa. | |
| Nach dem Verschwinden der Lehramtsstudenten hat die Regierung extrem lange | |
| gebraucht, um überhaupt zu reagieren. Es ist mehr als ein Monat vergangen, | |
| bevor der Präsident die Eltern der Jungen empfangen hat. | |
| Nach Angaben der mexikanischen Regierung haben drei Kriminelle den Mord an | |
| den Studenten gestanden, Leichen wurden aber nicht identifiziert. Glauben | |
| Sie das, was jetzt allmählich über die Ermittlungen veröffentlicht wird? | |
| Die mexikanische Regierung versucht vor allem, die Sache herunterzuspielen, | |
| ihr die Bedeutung zu nehmen. Aber das Problem ist zu groß. Zu scheußlich. | |
| Kann Präsident Enrique Peña Nieto, dessen Uniformierte ein solches | |
| Verbrechen an der eigenen Bevölkerung begangen haben, im Amt bleiben? | |
| Unser erstes Problem ist die soziale Ungleichheit, der Abgrund, der | |
| zwischen den sozialen Klassen liegt. Wir in Mexiko müssen kämpfen, um ein | |
| anderes Land zu werden. Es gibt eine Korruption, die mit der Macht | |
| zusammenhängt. Wer nach oben kommt, betrachtet sein Amt als Quelle, um sich | |
| zu bereichern. Die großen Vermögen entstehen in Mexiko an politischen | |
| Positionen. | |
| Mexiko hat sich in den letzten Jahrzehnten institutionell verändert. Unter | |
| anderem hat es heute ein Mehrparteiensystem. | |
| Ja, aber alle Parteien entspringen einer einzigen Partei: der PRI, der | |
| Partei der institutionalisierten Revolution. Als ob es möglich wäre, eine | |
| Revolution zu institutionalisieren (lacht). Auch jene, die heute in der | |
| Linken sind, kommen aus der PRI. | |
| Seit 1994 hat Mexiko einen gemeinsamen Binnenmarkt mit den USA und Kanada. | |
| Und die USA sind der Markt, wohin die Drogen gelangen, die Mexiko | |
| zerstören. Was erwarten Sie von Mexikos großem Nachbarn im Norden? | |
| Es stimmt, dass die Drogen aus Mexiko in den USA konsumiert werden. Aber | |
| was in Mexiko passiert, ist eine innere Angelegenheit. Ich glaube nicht, | |
| dass die USA intervenieren sollten. | |
| Es muss ja nicht unbedingt eine Intervention sein. Ich denke an die | |
| Schusswaffen, die in Mexiko töten, aber aus den USA kommen. | |
| Der Schusswaffenhandel ist schrecklich. Wenn es nach mir ginge, gäbe es | |
| überhaupt keine Waffen in der Welt. Sie sind das große Übel der der | |
| Menschheit. Aber in Mexiko existierte die Schießwütigkeit schon in der | |
| mexikanischen Revolution. Auch damals liefen viele Leute bewaffnet herum. | |
| Ohne Schusswaffen können Schießwütige nicht denselben Schaden anrichten. | |
| Es ist sehr schwierig, sich ein Land ohne Waffen vorzustellen. In | |
| Lateinamerika gibt es nur ein einziges, das zumindest die Armee abgeschafft | |
| hat: Costa Rica. | |
| Was können Menschen außerhalb von Mexiko tun? | |
| Ich sehe das vor allem auf der individuellen Ebene. Wo immer Menschen guten | |
| Willens sind und helfen wollen, ist das nützlich. Aber ich denke, dass | |
| Mexiko jetzt zunächst Zurückweisung erleiden wird. Das Bild des Landes, das | |
| bekannt ist für seine unglaublichen Strände, ist beschädigt. | |
| Sollten ausländische Touristen die Strände von Acapulco – die nur 200 | |
| Kilometer von Ayotzinapa entfernt sind – nun boykottieren? | |
| Das will ich nicht sagen. Mexiko braucht die Devisen. Was mir große Sorgen | |
| macht, ist die Gleichgültigkeit in meinem Land. Selbst in Mexiko-Stadt gibt | |
| es viele, die nicht empört sind. Diese Gleichgültigkeit müssen wir | |
| aufbrechen. So etwas gibt es ja überall auf der Welt. Denken Sie an Hitler. | |
| Da gab es auch viele, denen es egal war. Die Wichtigeres zu tun hatten. | |
| Wollen Sie die Lage in Mexiko heute tatsächlich mit Deutschland im | |
| Nationalsozialismus vergleichen? | |
| Was mich als Schriftstellerin interessiert, ist die Gleichgültigkeit. Die | |
| Gleichgültigkeit angesichts der Armut, die ich auch hier in New York auf | |
| der Straße sehen kann. Gleichgültigkeit lässt sich nicht messen. Sie ist | |
| abhängig vom Grad individuellen Bewusstseins jeder Person. Ein Beispiel: In | |
| Paris im Jahr 1968 hat ein Minister über Daniel Cohn-Bendit gesagt, dass er | |
| nicht verstehe, was ein deutscher Jude den Studenten zu sagen habe. Da sind | |
| sie am nächsten Tag auf die Straße gegangen, haben sich untergehakt und | |
| haben gerufen: „Wir sind alle deutsche Juden.“ | |
| Heute skandieren Demonstranten weltweit: „Wir sind Ayotzinapa“ und halten | |
| Schilder mit den Namen und Bildern der verschwundenen Studenten hoch. | |
| Trotzdem schafft es Lateinamerika kaum in die Medien. Auf der Weltkarte | |
| existieren wir nicht. | |
| Was machen Sie selbst mit der Gleichgültigkeit in ihrem Land und außerhalb? | |
| Ich schreibe und spreche. Bei meiner Rede auf dem Zocalo in Mexiko-Stadt im | |
| Oktober habe ich etwas aus dem Leben jedes einzelnen der verschwundenen | |
| jungen Männer erzählt. Aber Sie dürfen nicht vergessen: Ich bin 82 und | |
| herzkrank. | |
| 16 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Hahn | |
| ## TAGS | |
| Mexiko | |
| Drogenhandel | |
| Schusswaffen | |
| Schwerpunkt Femizide | |
| Mexico | |
| Mexiko | |
| Mexiko | |
| Mexiko | |
| Mexiko | |
| Mexiko | |
| Mexiko | |
| Gabriel García Márquez | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Legalisierte Abtreibungen in Mexiko: Ein Anfang ist gemacht | |
| Der Bundesstaat Oaxaca in Mexiko hat Schwangerschaftsabbrüche legalisiert. | |
| Dennoch bleibt es schwer, einen zu bekommen. | |
| Guadalupe Nettel über ihren Roman: „Das Leben verläuft nicht linear“ | |
| Die mexikanische Schriftstellerin erzählt in „Nach dem Winter“ von | |
| lateinamerikanischen Literaten, Alltagscodes und Freundschaft im Exil. | |
| Organisierte Kriminalität in Mexiko: Massengräber entdeckt | |
| Erneut haben Angehörige von Vermissten im Bundestaat Veracruz Massengräber | |
| entdeckt. Bisher sind 28 Leichen gefunden worden. | |
| Journalist in Mexiko ermordet: Kopfschuss wegen Kritik? | |
| Rubén Espinosa war wegen Morddrohungen nach Mexiko-Stadt gezogen. Nun wurde | |
| er dort erschossen aufgefunden – mit vier anderen. | |
| Protest und Streiks in Mexiko: Mut und Unmut | |
| Der Fall der 43 vermissten und vermutlich ermordeten Studenten bewegt das | |
| Land. Der Ruf „Es war der Staat“ wird immer lauter. | |
| Nach Studentenmassaker in Mexiko: Eltern auf Protesttour | |
| Hunderte Unterstützer verabschiedeten einen ersten Buskonvoi mit | |
| Angehörigen. Sie glauben, dass die Studenten noch am Leben sind und wollen | |
| sie finden. | |
| Menschenrechtler über Morde in Mexiko: „Die Mafia tötet Sozialaktivisten“ | |
| Die Ermittlungen im Fall der 43 mexikanischen Studenten sind unzureichend. | |
| Und die Angehörigen sind skeptisch, sagt Menschenrechtsaktivist Abel | |
| Barrera. | |
| Proteste im mexikanischen Acapulco: Die Wachen gegen die Müden | |
| Nach dem Massaker an 43 Studenten in Mexiko werden die Verstrickungen von | |
| Staat und Kriminalität immer deutlicher. Die Menschen fordern Konsequenzen. | |
| Postkoloniale Chronik Lateinamerikas: Roman der Realität | |
| „Verdammter Süden“ ist eine Anthologie neuer lateinamerikanischer | |
| Chroniken. Interessant darin ist vor allem ein Beitrag Leila Guerrieros. | |
| Mexikos Grande Dame: Vom Unvorstellbaren erzählen | |
| Die mexikanische Autorin Elena Poniatowska, elegante Streiterin gegen den | |
| Machismo, wird mit dem Premio Cervantes geehrt. |