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# taz.de -- Legalisierte Abtreibungen in Mexiko: Ein Anfang ist gemacht
> Der Bundesstaat Oaxaca in Mexiko hat Schwangerschaftsabbrüche
> legalisiert. Dennoch bleibt es schwer, einen zu bekommen.
OAXACA taz | Mörder, Mörder, Mörder!“, schallt es aus der rechten Ecke des
Plenarsaals. Und: „Ja zum Leben, Nein zur Abtreibung.“ Es sind Rufe der
Verzweiflung – denn zunehmend sieht es schlechter aus für die Gruppe von
Religiösen, die sich auf den Zuschauerbänken des Parlaments niedergelassen
hat. Mit jeder abgegebenen Stimme zeigt der Großbildschirm im Saal
deutlicher, dass sie keine Chance mehr haben.
Als dann ein Sprecher der Abgeordneten das Ergebnis verkündet, werden die
Religiösen von der anderen Seite des Saals übertönt. Mehrere Dutzend Frauen
recken die Fäuste, tanzen, schwenken ihre grünen Halstücher. Sie haben es
geschafft: Die Mehrheit des Kongresses im südmexikanischen Bundesstaat
Oaxaca hat beschlossen, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche
künftig unter allen Umständen straffrei bleiben.
„Das Gefühl in diesem Moment war einfach unbeschreiblich“, erinnert sich
die Aktivistin Viri an jenen Tag im September 2019. Zunächst mussten die
Feministinnen ihre Euphorie zurückhalten und reckten nur die Arme in die
Höhe, ohne einen Ton von sich zu geben. „Wir wollten nicht, dass die
Sitzung abgebrochen wird“, sagt Viri. Denn darauf hätten ihre Gegner
abgezielt.
Seit Jahren hatten sich Frauen aus den verschiedensten feministischen
Gruppen für das Recht eingesetzt, über ihren Körper selbst zu bestimmen.
„Jetzt war der richtige Moment. Wer weiß, ob die Stimmung später gekippt
wäre“, sagt auch Pilar Muriedas von der feministischen Organisation
Consorcio. Sie hatte viele Stunden damit verbracht, die Abgeordneten zu
überzeugen.
## Holzstangen gegen Angriffe
[1][Immer wieder mussten sich die Feministinnen] gegen katholische
Oberhäupter, evangelikale Sekten und rechte Politikerinnen wehren. Bis zum
letzten Moment machten die Gegner mobil. Wenige Tage vor der Entscheidung
gingen in der Landeshauptstadt Oaxaca de Juárez 2.000 Menschen auf die
Straße, angeführt vom örtlichen Erzbischof. In den Medien polterte der
Gouverneur. Doch nichts, auch nicht die letzte Messe vor dem Parlament, die
Statue der Jungfrau Guadalupe am Eingang des Kongresses oder das
Transparent mit dem Bild eines Embryos konnte die Abgeordneten umstimmen.
Oaxaca wurde nach Mexiko-Stadt zum zweiten von 32 Bundesstaaten, in denen
Frauen nicht mehr wegen eines Schwangerschaftsabbruchs im Gefängnis landen
können.
Viri, um die 30 Jahre alt, blau geschminkte Lippen, will nicht zu viel über
sich in der Öffentlichkeit preisgeben, auch nicht ihren Nachnamen. Die
Psychologin begleitet indigene Frauen, die ihre Schwangerschaft
unterbrechen wollen, und das stößt unter Männern nicht nur auf Wohlwollen.
Aber auch viele ihrer Mitstreiterinnen der feministischen Bewegung Marea
Verde sind vorsichtig. Auf Demonstrationen vermummen sie sich, gegen
Angriffe wappnen sie sich mit Holzstangen.
Schließlich sind [2][brutale Angriffe gegen Frauen] in Oaxaca alltäglich.
Allein 2020 wurden 232 Frauen umgebracht. Die Aggressionen können sich auch
gegen Aktivistinnen richten: Vergangenes Jahr legten Unbekannte vor dem
Gebäude von Consorcio eine Tüte mit einem abgeschnittenen Tierkopf ab. Auf
einem daneben liegenden Zettel hieß es: „Halt dich zurück, Hündin, der
nächste ist deiner.“
Dennoch ist die Frauenbewegung stärker geworden. „Feministinnen
beschäftigen sich in Oaxaca mit vielen Themen, aber der Kampf für die
Entkriminalisierung der Abtreibung war am stärksten sichtbar“, sagt Viri.
Motiviert durch ihre Genossinnen in Argentinien, wo Marea Verde den Anfang
nahm, und durch große Frauendemonstrationen in Mexiko-Stadt sind auch Viri
und ihre meist jungen Gefährtinnen auf die Straße gegangen. Dass bei den
Demonstrationen der „Colectivas“ auch mal Scheiben von Regierungsgebäuden
zu Bruch gingen und Kirchen beschädigt wurden, kam nicht bei allen gut an,
die sich für eine Gesetzesreform stark machten.
## Sie tragen das grüne Tuch
Viele haben aber Verständnis. „Diese Frauen sind nicht Feministinnen, weil
sie Simone de Beauvoir gelesen haben, sondern weil sie die Gewalt
alltäglich sehen oder erleben“, sagt Charlynne Curiel, die an der Autonomen
Universität in Oaxaca Genderstudien lehrt. Die sexuellen Belästigungen, der
Machismus, [3][die Frauenmorde], das mache Frauen, die in Mexiko
aufwüchsen, extrem wütend.
„Ich verstehe sie sehr gut“, sagt die Anthropologin und betont die große
Bedeutung der jungen Bewegung für die Entscheidung im Parlament. „Diese
Frauen hätten vielleicht nie mit einer Parlamentarierin verhandelt, aber
sie gaben den Abgeordneten eine gewisse Rückendeckung.“ Durch sie habe eine
Entstigmatisierung stattgefunden. „Tausende Frauen haben ihre Scham vor
Schwangerschaftsabbrüchen abgelegt und tragen das grüne Tuch, das Symbol
für eine legale und sichere Abtreibung, um den Hals, an ihren Rucksäcken,
Taschen oder Handgelenken“, sagt Curiel.
Doch die Reform wäre nicht zustande gekommen, wenn sich niemand um die
politische Ebene gekümmert hätte, sagt die 65-jährige Feministin Pilar
Muriedas, die schon mehr als ihr halbes Leben gegen die Kriminalisierung
der Abtreibung kämpft. „Entweder du hast dort Verbündete oder du schaffst
es nicht.“ Auch ihr hat die argentinische Frauenbewegung viel Kraft
gegeben.
## Chance für ein Exempel
Vor allem aber sei die politische Konstellation günstig gewesen: Mit dem
Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und seiner Partei Morena waren 2018
viele Feministinnen an politische Posten gekommen und übten Einfluss auf
ihre männlichen Mitstreiter aus. Sie wollten endlich damit Schluss machen,
dass Abtreibungen außerhalb der Hauptstadt nur erlaubt sind, wenn eine
Schwangerschaft durch Vergewaltigung verursacht wurde oder das Leben der
Schwangeren in Gefahr ist.
„In Oaxaca, wo Morena im Kongress die Mehrheit stellen, bestand die Chance,
ein Exempel zu statuieren“, sagt Muriedas. Das wollten die Feministinnen
nutzen. „Die Rückendeckung aus Mexiko-Stadt war eine große Hilfe, um die
Abgeordneten zu überzeugen.“
Und so sprachen die Consorcio-Frauen und andere mit jeder und jedem
einzelnen. Sie erinnerten sie daran, dass Oaxaca die Region mit der
höchsten Müttersterblichkeit ist und luden die Organisation „Katholikinnen
für das Recht zu entscheiden“ ein, um Überzeugungsarbeit zu leisten. „Das
war wichtig, schließlich müssen sich die Abgeordneten vor ihrer religiösen
Wählerschaft rechtfertigen“, sagt Muriedas.
## Ablehnung aus moralischen Gründen
Der Präsident selbst war jedoch keine große Hilfe. López Obrador führt
selbst einen religiösen Diskurs und propagiert ein Familienleben, in dem
Frauen der Platz am Herd zugedacht ist. „Er ignoriert die immense
Müttersterblichkeit, Gewalt in der Ehe und die Tatsache, dass Frauen zur
Prostitution gezwungen werden“, kritisiert die Wissenschaftlerin Curiel.
„Es scheint, als habe er wenig Ahnung von den Gründen, aus denen Frauen
abtreiben.“
Mehr noch besorgt die Feministinnen, dass bislang wenig für die Umsetzung
des neuen Gesetzes getan wird. Nur sehr wenige Frauen konnten problemlos
abtreiben. „Wir sind noch nicht weit vorangekommen, unter anderem, weil
sich der Gouverneur querstellt“, bedauert Muriedas. Krankenhäuser,
Gesundheitszentren und das medizinische Personal seien nicht vorbereitet.
„Viele Ärztinnen und Ärzte in den Hospitälern lehnen es aus moralischen
oder religiösen Gründen einfach ab, eine Abtreibung vorzunehmen,“ erzählt
Viri. Da sie Indigene begleitet, die ihre Schwangerschaft unterbrechen
wollen, erlebt die Psychologin ganz direkt, mit welchen Problemen Frauen in
ländlichen Regionen weiterhin zu kämpfen haben. „In der Stadt gehst du in
die Apotheke und kaufst das nötige Medikament. In den Dörfern gibt es das
einfach nicht“, sagt sie. „Und wenn sich die Frauen an die
Gesundheitsstation wenden, weiß gleich das ganze Dorf, was los ist.“
Manchmal müssten sie Schwangere sogar aus Gemeinden herausholen, weil
Männer die Entscheidung für eine Abtreibung nicht akzeptieren.
Auch wenn ein großer Schritt getan ist, stehen die Feministinnen noch am
Anfang. Noch immer seien viele Barrieren zu überwinden, sagt Viri und
resümiert: „Wir haben jetzt zwar eine gesetzliche Regelung. Aber es fehlt
eine soziale Entkriminalisierung.“
8 Mar 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Wolf-Dieter Vogel
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