# taz.de -- Guadalupe Nettel über ihren Roman: „Das Leben verläuft nicht li… | |
> Die mexikanische Schriftstellerin erzählt in „Nach dem Winter“ von | |
> lateinamerikanischen Literaten, Alltagscodes und Freundschaft im Exil. | |
Bild: Die mexikanische Schriftstellerin Guadalupe Nettel im März in Berlin | |
Zum Gespräch in einem Berliner Café mit internationalem Publikum | |
verabredet, bringt die Schriftstellerin Guadalupe Nettel eine Ausgabe der | |
monatlich erscheinenden „Revista de la Universidad de Mexico“ mit. Seit | |
einem Jahr ist sie die Herausgeberin dieser interdisziplinären Zeitschrift. | |
„Exodus“, so der Titel der ansprechend gestalteten Ausgabe, versammelt | |
diesmal Text- und Bildbeiträge zu den unterschiedlichsten Aspekten von | |
Migration, den Dramen in Zentralamerika oder Syrien, genauso wie Phänomenen | |
in der Botanik. | |
Auch in Nettels jüngst ins Deutsche übersetztem Roman „Nach dem Winter“ | |
verlässt die junge Studentin Cecilia Mexiko und geht nach Paris. Dort | |
schreibt sie an ihrer Arbeit über lateinamerikanische Schriftsteller, die | |
wie der Peruaner César Vallejo in Paris gestorben sind. In einer Wohnung | |
mit Blick auf einen Friedhof erlebt sie ihren ersten Winter. | |
taz am wochenende: Guadalupe Nettel, Sie selbst haben einige Jahre in der | |
französischen Hauptstadt gelebt. Wie autobiografisch ist der Roman? | |
Guadalupe Nettel: Natürlich ist die Figur Cecilias aus meinen eigenen | |
Erfahrungen gespeist, besonders aus dem Gefühl des Fremdseins, das ich in | |
Paris kennengelernt habe. Teile ihres inneren Monologs sind sogar meinen | |
damaligen Tagebuchaufzeichnungen entnommen. Trotzdem handelt es sich nicht | |
um einen autobiografischen Roman. Es gibt darin ja zwei Erzähler – einen | |
Kubaner in New York und eine Mexikanerin in Paris. | |
Wie ist daraus die Idee zum Roman entstanden? | |
Das Buch ist eine Hommage an einen sehr engen Freund, den ich in Paris | |
hatte. Der dritte Teil des Romans ist von den extremen Erfahrungen geprägt, | |
die wir vor seinem Tod miteinander geteilt haben. Zudem wollte ich von | |
Migration erzählen – in den unterschiedlichsten Formen. Im Fall von Claudio | |
sind es eher ökonomische und soziale Gründe, warum er Kuba verlässt, um | |
nach New York zu gehen. | |
Cecilia wiederum will im Ausland studieren. Sie fühlt sich von der | |
Gesellschaft in Oaxaca erdrückt. Normalerweise sind Migranten nicht | |
sichtbar. Sie gelangen in eine Stadt, um ein Teil davon zu werden, doch | |
niemand schaut sie an, als ob sie nicht existieren würden. | |
Paris bildet den Hintergrund in Ihrem Roman, vor dem sich Personen aus | |
Mexiko, Italien, Indien und Kuba kennenlernen. Deren Leben scheint parallel | |
zu dem der lokalen Bevölkerung zu verlaufen. Beruht diese Darstellung auf | |
Ihrer eigenen Erfahrung? | |
Die Freundschaften, die man in der Fremde knüpft, sind für einen wie eine | |
Ersatzfamilie. Von diesen starken Verbindungen wollte ich sprechen, aber | |
auch von Einsamkeit und neuen Identitäten. Schließlich ist man kein | |
Lateinamerikaner, bis man Lateinamerika verlässt. In Paris bist du keine | |
Mexikanerin mehr, sondern Lateinamerikanerin. Und auch wenn du ihnen sagst: | |
„Ich bin Mexikanerin“, fragen sie dich irgendetwas über Peru. | |
Für mich war es am Anfang sehr schwierig, die Codes im Alltag zu | |
entschlüsseln, nicht so sehr die Kultur. Das ist so wie mit den | |
Wohnhäusern, in die man nur gelangt, wenn man den Code für die Eingangstür | |
kennt. Auch die Menschen scheinen einen Zugangscode zu haben. | |
Welches Versprechen verbindet sich denn für eine Literaturstudentin aus | |
Mexiko mit Paris? | |
Es existiert eine lange Tradition von Schriftstellern, die nach Paris | |
kamen, angefangen mit Alfonso Reyes Anfang des 20. Jahrhunderts, Octavio | |
Paz, Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes. Also ist Paris nicht nur die | |
Stadt der Intellektuellen, der Existenzialisten, der Surrealisten und der | |
vielen anderen Kunstströmungen, sondern auch die der Lateinamerikaner, die | |
dort geschrieben haben. Ich glaube, der Roman ist mehr als ein | |
mexikanischer Roman ein sehr lateinamerikanischer über Lateinamerikaner im | |
Exil. | |
Doch auf diese literarische Welt stößt die Protagonistin Cecilia in Paris | |
nicht – für sie eine enttäuschende Entdeckung? | |
Ja, in diesem Buch gibt es viele Enttäuschungen. Am Anfang halten die | |
Personen die Städte Paris und New York für das Paradies, nachdem sie | |
endlich die Enge ihrer kleinen Welt verlassen haben – für Claudio ist es | |
das arme, historische Havanna, in dem er geboren wurde, für Cecilia Oaxaca. | |
Beide erwarten eine offene, kosmopolitische Gesellschaft, doch werden sie | |
mit Megastädten konfrontiert, voll von Menschen, aber alle einsam. Also war | |
es mir wichtig, von dieser Illusion und Desillusion zu sprechen. | |
In „Nach dem Winter“ wechseln die Erzählperspektiven zwischen Cecilia und | |
Claudio. Alles scheint auf eine glückliche Beziehung zwischen den beiden | |
hinzusteuern. Doch im Verlauf des Romans werden überraschend Nebenfiguren | |
wie Cecilias Nachbar oder Claudios ältere Geliebte in New York immer | |
wichtiger. Was bedeutet diese Wendung? | |
Ich glaube, als junger Mensch ist man ziemlich hochmütig. Wenn wir zwanzig | |
sind, denken wir, dass wir noch sehr lange jung sein werden. Aber plötzlich | |
stellen wir fest, dass die Hälfte des Lebens vielleicht schon vorbei ist. | |
Dieser Weg ist sehr viel kürzer, als wir ihn uns vorstellen. Und oftmals | |
unterschätzen wir die Bedeutung von Menschen, auf die wir unterwegs | |
treffen, weil wir überzeugt davon sind, irgendwann den Mann oder die Frau | |
unseres Lebens kennenzulernen. | |
Der Roman ist eine Anti-Liebesgeschichte. Er handelt von Begegnungen – von | |
Menschen, die sich zufällig kennenlernen, sich sehen, aus den Augen | |
verlieren und erneut zusammenkommen. Denn das Leben verläuft nicht linear. | |
In der Literatur, die zurzeit aus Mexiko übersetzt wird, werden sehr oft | |
gesellschaftliche Realitäten verhandelt, die von Gewalt, Drogen und dem | |
organisierten Verbrechen bestimmt sind. In Ihrem aktuellen Roman hingegen | |
erscheint Mexiko nur noch als entfernte Erinnerung an ein Leben, das | |
Cecilia hinter sich gelassen hat. Was hat Sie daran interessiert? | |
In Mexiko passieren schreckliche Dinge. Davon muss man sprechen und dagegen | |
kämpfen. Ich versuche das in meinen Kolumnen und in der Zeitschrift, die | |
ich herausgebe. Trotzdem ist Mexiko mehr als diese Hölle. Für einen | |
Mexikaner sind seine Familie, seine Freundschaften, gutes Essen oder | |
entspannte Nachmittage auf den Plätzen Mexiko. Ich denke, man kann sich | |
nicht nur auf den dunklen Teil der Realität beschränken, sondern sollte das | |
ganze Panorama betrachten. | |
Außerdem gibt es viele Formen der Migration. Nicht immer bedeutet das, aus | |
einem Armenviertel aufzubrechen, unter Lebensgefahr auf einen Zug | |
aufzuspringen oder von einem „Kojoten“ über die US-amerikanische Grenze | |
geschleust zu werden. Doch immer folgt danach ein Prozess der Anpassung. | |
Obwohl Sie schon 2009 mit dem deutschen Anna-Seghers-Literaturpreis | |
ausgezeichnet wurden, ist „Nach dem Winter“ Ihr erster ins Deutsche | |
übersetzte Roman. Was denken Sie, warum mussten wir so lange auf eine | |
Veröffentlichung von Ihnen warten? | |
Nicht wahr, das ist merkwürdig. Zwar sind danach einige meiner | |
Kurzgeschichten übersetzt worden, aber keines meiner Bücher. Vermutlich lag | |
es auch daran, dass ich die Erwartungen an eine Beschreibung der | |
mexikanischen Realität voll Gewalt und Verbrechen nicht erfüllt habe. Aber | |
ich glaube, jeder Schriftsteller hat etwas anderes zu sagen, und es ist | |
wichtig ,die ganze Landschaft zu sehen, nicht nur einen Ausschnitt. | |
23 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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