# taz.de -- Schriftsteller Villalobos über Mexiko: „Zwischen Kanon und Margi… | |
> Juan Pablo Villalobos erzählt in seinem Roman „Ich verkauf dir einen | |
> Hund“ vom täglichen Kleinkrieg einer Hausgemeinschaft und von den großen | |
> Themen Mexikos. | |
Bild: Juan Pablo Villalobos | |
taz: Juan Pablo Villalobos, Sie sind im mexikanischen Guadalajara geboren, | |
leben aber seit dreizehn Jahren in Barcelona. Ist die Distanz hilfreich, um | |
über Mexiko zu schreiben? | |
Juan Pablo Villalobos:Noch bis vor drei Jahren dachte ich, die Tatsache, | |
außerhalb meines Heimatlandes zu leben, würde mir eine andere Perspektive | |
auf die sozialen und politischen Verhältnisse in Mexiko ermöglichen. Doch | |
literarisch wurde es danach für mich zu einem Problem, so zu tun, als ob | |
ich ein mexikanischer Schriftsteller wäre, der in Mexiko schreiben würde. | |
Ich fühlte mich in dieser Position unwohl. Während ich an „Ich verkaufe dir | |
einen Hund“ schrieb, befand ich mich bereits in diesem Konflikt. Doch wie | |
schon „Fiesta in der Räuberhöhle“(2011) oder „Quesadillas“ (2014) bes… | |
auch diesen Roman die Idee, anhand alltäglicher Geschichten über die | |
aktuellen Themen in Mexiko zu sprechen – also über offensichtlich ganz | |
gewöhnliche Dinge Gewalt, Armut und Ungleichheit zu verhandeln und so auch | |
die Konstruktion historischer Erinnerung und das Vergessen. Das | |
charakterisiert, glaube ich, meine Literatur: anhand der kleinen, | |
alltäglichen Ereignisse von den großen Themen zu erzählen. | |
In dem nun auf Deutsch erschienenen Roman „Ich verkaufe dir einen Hund“ | |
treffen wir auf eine Hausgemeinschaft literaturbegeisterter Rentner in | |
Mexiko-Stadt. Was entwickeln Sie aus diesem Mikrokosmos? | |
Mir gefällt es, mit geschlossenen Räumen zu arbeiten, weil man in ihnen mit | |
verschiedenen Unbekannten experimentieren kann. Meine Romane sind eine Art | |
akkumulierendes, narratives Experiment – um zu sehen, wie viele Themen, | |
Personen und Dramen sich in einer Geschichte unterbringen lassen. Um die | |
Menge der Variablen kontrollieren zu können, brauche ich geschlossene | |
Räume. | |
Und konkret: Worum geht es in diesem Wohnhaus? | |
Ursprünglich wollte ich über einen komplett vergessenen mexikanischen Maler | |
schreiben, Manuel Gonzalo Serrano. Stattdessen habe ich mich für die Figur | |
Teos entschieden, einen alten Mann, der Serrano vor fünfzig Jahren zufällig | |
kennengelernt hatte. Ich habe mir Teos Lebensumstände vorgestellt, das | |
Wohnhaus, in dem er lebt, die anderen Senioren und deren tägliche | |
Aktivitäten.Auf der einen Seite versucht der Roman also eine gegenwärtige | |
Welt mit absurden Szenen von nachbarschaftlichen Streitereien, | |
Buchentführungen oder Feldzügen gegen Kakerlaken entstehen zu lassen. Auf | |
der anderen Seite ist „Ich verkaufe dir einen Hund“ aber auch der Versuch, | |
die letzten achtzig Jahre Mexikos zu rekonstruieren. Die erzählende Figur | |
tut das – nicht um die Geschichte Mexikos zu erklären, sondern um sein | |
eigenes Leben zu verstehen. | |
Eine inoffizielle Geschichte des Landes also? | |
Genau: Um zu erfahren, was ihm widerfahren ist, hilft auch zu verstehen, | |
was in Mexiko geschehen ist. | |
Teo, der Ich-Erzähler, ist Taco-Verkäufer im Ruhestand, verhinderter | |
Künstler, heimlicher Autor und verbaler Schürzenjäger. Ist er der furiose | |
Held in einem modernen Schelmenroman? | |
Auf jeden Fall, Teo ist ein Narr, der versucht, sich seinen Schoppen | |
täglich aufs Neue ausgeben zu lassen, und der für sein Essen nicht bezahlt. | |
Er verliert sich in absurden Abenteuern und Auseinandersetzungen mit den | |
Nachbarinnen – immer mit dem Versuch, eine von ihnen vielleicht doch noch | |
ins Bett zu kriegen. Diese Art Schelm steht eher in der literarischen | |
Tradition Spaniens oder der der frühen humoristischen Romane in Mexiko des | |
19. Jahrhunderts. Er ist nicht die desillusionierte Figur in der | |
europäischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts. | |
Teos Gegenspielerin ist seine Nachbarin Francesca, die strenge Vorsitzende | |
des Literaturzirkels und der Hausgemeinschaft. Sie und ihre ergrauten | |
Mitstreiter verbreiten im Haus einen Hauch von Parteikollektivismus. | |
Welchen Hintergrund hat diese Gegenüberstellung? | |
Der Roman handelt davon, wie sich der künstlerische Kanon und die | |
offizielle Geschichte konstituieren. Wie kommt es, dass einige Künstler aus | |
der Geschichte ausradiert und andere zu Denkmälern oder zu Namensgebern von | |
Straßen werden? Francesca und ihr Literaturkreis stehen für die | |
Verteidigung dieses Kanons. Sie lesen die großen Namen der mexikanischen | |
Literatur. Das hält Teo nicht aus und opponiert. Für mich ergab sich daraus | |
eine gute Form, um den Widerstreit zwischen Kanon und Marginalität deutlich | |
zu machen. | |
Während die Nachbarn begeistert den 800-seitigen „Palinurus von Mexiko“ von | |
Fernando del Paso lesen, schwört Teo auf die Alltagstauglichkeit von | |
Adornos „Ästhetischer Theorie“. Ihr Streit gipfelt schließlich in der | |
turbulenten Buchentführung. Welche Rolle spielen beide Bücher? | |
Fernando del Pasos Werk „Palinurus“ repräsentiert sicher die mexikanische | |
Hochkultur. Es ist ein anspruchsvolles Buch, schwierig zu lesen. Aber es | |
enthält auch viel Humor. Meine Entscheidung für „Palinurus“ hat aber | |
banalere Gründe. Im Roman verwandelt sich das Buch in eine Waffe, deshalb | |
sollte es vor allem ein Titel mit vielen Seiten sein, geeignet, damit | |
jemanden zu schlagen. | |
Und warum liest Teo Adornos „Ästhetische Theorie“? | |
Als ich mit „Ich verkaufe dir einen Hund“ begonnen habe, nahm ich mir | |
nochmals „Die Ästhetische Theorie“ und meine Anmerkungen dazu vor. Während | |
der Lektüre kamen mir alle Ideen zu dem Roman: Ein alter Mann, der sein | |
Exemplar der „Ästhetischen Theorie“ wie eine Waffe mit sich herumschleppt | |
und damit Kakerlaken erschlägt. Die Respektlosigkeit dieser Figur, in der | |
Adornos Forderung anklingt, die Kunst nicht als etwas Erhabenes, sondern in | |
Beziehung zum Leben zu begreifen. Teo ist ein Schriftsteller, der keinen | |
Roman schreiben will, aber der schreibt – gegen die Literatur, aber aus | |
Liebe zur Literatur. Ein Paradox. | |
Obwohl Sie nach einer literarisch-fiktionalen Form suchen, um die | |
mexikanische Realität abzubilden, tauchen in Ihrem Roman zwei konkrete | |
historische Ereignisse auf: das Massaker an den Studenten 1968 im Viertel | |
Tlatelolco von Mexico-Stadt und das große Erdbeben von 1985. Welche | |
einschneidenden Momente markieren diese Daten? | |
In gewisser Weise bedeutet Tlatelolco das Ende vom Traum einer Generation, | |
die durch die Universitäten und, verbunden mit den Gewerkschaften, dachte, | |
das Land verändern zu können. Dieses Projekt wurde durch Folter und | |
Vernichtung 1968 brutal beendet.Und das Jahr 1985 meint nicht nur das | |
Erdbeben mit seinen vielen Toten, sondern auch das Jahr, in dem eine | |
Zivilgesellschaft sich formiert. Die fehlende Antwort der Regierung auf die | |
Katastrophe führt dazu, dass die Leute sich organisieren, sich | |
nachbarschaftliche Vereinigungen gründen und politisieren. Politische | |
Parteien entstehen. Für mich waren die Ereignisse von 1968 und 1985 immer | |
repräsentativ, um den Zustand des Landes zu erklären. | |
Nach der jetzigen US-amerikanischen Präsidentschaftswahl tauchte auf | |
Facebook ein Kommentar aus Mexiko auf: „Was Trump nicht weiß, ist, dass wir | |
bereits dabei sind, eine trojanische Piñata zu bauen, um die Mauer zu | |
überwinden.“ Ist Humor eine besondere mexikanische Tugend, um das Übel zu | |
bezwingen? | |
Der Humor ist eine Art, mit der wir Mexikaner täglich versuchen, der | |
Realität auszuweichen, sie erträglicher zu machen, aber auch um zu | |
rebellieren. Ich denke, Humor ist ein Instrument, das dazu dienen kann, | |
sich der Manipulation und Tyrannei zu widersetzen. | |
7 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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Mexiko | |
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Paco Ignacio Taibo II | |
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