# taz.de -- Protest und Streiks in Mexiko: Mut und Unmut | |
> Der Fall der 43 vermissten und vermutlich ermordeten Studenten bewegt das | |
> Land. Der Ruf „Es war der Staat“ wird immer lauter. | |
Bild: Verwandte tragen Transparente mit einem Bild eines verschwundenen Student… | |
MEXIKO-STADT taz | Nur zwei Lampen beleuchten die Bühne des Auditoriums der | |
Benemérita Escuela Nacional de Maestros. Zwei gelbe Sphären, deren Licht | |
sich in der weiten Halle verliert. An der Universität im Osten von | |
Mexiko-Stadt werden normalerweise Grundschullehrer ausgebildet. Heute | |
verschmelzen etwa tausend Studenten in den schummrigen Bänken zu einer | |
dunklen Masse, zu einer sich neu formenden Bewegung. Für sie strahlen die | |
Lichter auf der Bühne wie zwei Leuchttürme. | |
„Die entführten Studenten leben noch“, ist Mariana Rivera überzeugt. Die | |
Philosophiestudentin mit den schwarzen Locken und auffallend geschminkten | |
Lippen ist deswegen in diesen Tagen fast täglich auf einem Protestmarsch | |
und organisiert mit anderen die Aktivitäten ihrer Fakultät. Heute begleitet | |
sie die Delegationen ihrer Uni zur Generalversammlung aller Studierenden in | |
Mexiko-Stadt. 90 Minuten mit der übervollen Metro von der Universidad | |
Nacional Autónoma de México, der mit mehr als 300.000 Studenten größten | |
Universität des Landes, in das muffige Auditorium. | |
Am vergitterten Eingangstor muss Rivera Namen und die jeweilige Fakultät | |
nennen, sich in eine Email-Liste eintragen. „Wir haben Angst, dass sich | |
Agenten der Polizei in die Versammlung schleichen und uns ausspionieren.“ | |
Rivera sucht sich einen Platz im Auditorium, knipst die Taschenlampe ihres | |
Smartphones an und liest die Vorschläge der anderen Studentenvereinigungen. | |
Ganz oben auf einem dicht bedruckten Flyer steht „paro nacional“: Für | |
diesen Donnerstag ist ein Generalstreik angesetzt, der den Protest der | |
Studierenden möglichst ins ganze Land hinaustragen soll. Einige | |
Gewerkschaften haben sich angeschlossen. | |
## Nicht alle glauben an den Tod der Studenten | |
Im Hintergrund läuft die Diskussion im faserigen Licht: | |
Beileidsbekundungen, Aufrufe zum Protest, die Kampagne für den | |
Generalstreik – und das bereits seit drei Stunden. Wie Mariana Riveras | |
Fakultät sind mehr als weitere 80 Bildungseinrichtungen dem Ruf zur | |
„Asamblea Interestudiantil“, zur Generalversammlung der Studierenden, | |
gefolgt. Es riecht nach Schweiß, rostigen Stühlen, jahrealtem Staub. Das | |
Mikrofon quietscht und pfeift, zwei Mal schon ist der Strom ausgefallen. | |
Seit vor mehr als einem Monat 43 Lehramtsstudenten der Universität | |
Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero verschleppt und vermutlich getötet | |
worden sind, wird die Kritik an der Regierung immer lauter, immer schärfer. | |
Mariana Rivera glaubt den Behörden nicht, dass die 43 Studenten aus | |
Ayotzinapa, die zu einer Demonstration unterwegs gewesen waren, in Iguala | |
umgebracht worden sind. Sie würden gefangen gehalten, um die | |
Protestbewegung unter Druck zu setzen, davon ist Mariana Rivera überzeugt. | |
„Zu viele Ermittlungspannen, zu viele falsche Aussagen“, flüstert sie. | |
Auf der Bühne sprechen jetzt Studentenvertreter aus anderen Städten. Immer | |
wenn Riveras Flüstern zu laut wird, tippt ihr jemand auf die Schulter und | |
zischt: „Bitte leise!“ Doch ihre Empörung lässt Rivera unbeirrt weiter | |
reden. Sie kann einfach nicht glauben, dass laut Ermittlungsbericht drei | |
Mitglieder einer Drogenbande die Leichen der Studenten verbrannt und die | |
Asche in einen Fluss gestreut haben sollen. | |
## Unstimmige Details | |
„Wie soll es möglich sein, dass drei Männer 43 Leichen in nur einer Nacht | |
komplett verbrennen können?“, fragt Rivera. Dass sie die heiße Asche | |
anschließend ausgerechnet in Plastiktüten zum Fluss gebracht haben sollen, | |
wenn ein Feuer doch mehrere Stunden mit mehr als 900 Grad glühen muss, um | |
Knochen zu Asche zu zersetzen? Und woher soll der ganze Brennstoff gekommen | |
sein? Fragen, die sich derzeit viele Menschen in Mexiko stellen. | |
Für Mariana Rivera ist der Bericht ein Ablenkungsmanöver von Präsident | |
Enrique Peña Nieto. „Die Regierung will, dass wir aufgeben, dass wir | |
denken, wir können sowieso nichts mehr ändern, wenn wir jetzt auf die | |
Straße gehen.“ Und selbst wenn längst nicht mehr alle glauben, dass die | |
verschleppten Studenten noch am Leben sind, ändert sich gerade etwas in | |
Mexiko. Die Verzweiflung, die Apathie, die Angst, die viele Mexikaner über | |
Jahre zurückhielt, ihre Empörung hinauszuschreien, während ihr Land immer | |
weiter ins Chaos stürzte, sie schlägt in Wut um. | |
Die Proteste haben sich zwar noch nicht über das ganze Land verteilt, aber | |
sie könnten zu einer Gefahr für die mexikanische Regierung werden. Dieser | |
Ansicht ist der Politikwissenschaftler Agustín Basave, ein gemütlicher Mann | |
mit buschigen Augenbrauen und einer nachdenklich klingenden Stimme. Er | |
empfängt in seinem Haus in Coyoacán, einem Viertel der Hauptstadt mit | |
niedrigen Kolonialbauten, einer Oase der Ruhe in der Millionenstadt. Basave | |
lehrt an der privaten Universidad Iberoamericana, die sich nur wohlhabende | |
Familien für ihre Kinder leisten können. Aber auch Basaves Studenten sind | |
im Moment lieber auf der Straße als im Vorlesungssaal. | |
## Die Mittelschicht hält sich zurück | |
„Es gibt einfach zu viel, über das sie sich empören können“, sagt er. Die | |
soziale Ungleichheit, die miserable Sicherheitslage, die brutale Gewalt der | |
Drogenmafia, die Unfähigkeit der mexikanischen Regierung, darauf zu | |
reagieren, die schwächelnde Wirtschaft. All das braue sich zu einem | |
gefährlichen Mix zusammen, sagt der Politikwissenschaftler. „Aber Mexiko | |
ist eben auch sehr unterschiedlich.“ | |
Längst nicht alle Menschen leiden unter der täglichen Gewalt, die | |
Einkaufszentren sind nach wie vor gut besucht. Im Süden des Landes, wo sich | |
auch die Hochschule der 43 Verschwundenen befindet, ist der Protest geprägt | |
von Antikapitalismus; im Norden orientiert man sich mehr an den USA. „Die | |
Demonstranten wollen zwar alle, dass sich etwas ändert“, denkt Basave laut | |
vor sich hin. „Aber wie es weitergehen soll, das weiß keiner.“ Es fehlt an | |
konstruktiven Vorschlägen, an praktischen Alternativen. Das halte viele aus | |
der mexikanischen Mittelschicht zurück, sich den Protesten anzuschließen. | |
„Ich weiß, dass wir hier privilegiert leben“, sagt Julia. „Trotzdem stin… | |
es auch uns.“ Das Colegio Madrid, eine Privatschule im Süden von | |
Mexiko-Stadt. Helle Klassenzimmer, Tischtennisplatten unter schattigen | |
Bäumen, Wachpersonal am Eingang. Julia, eine Schülerin mit schwarzen Haaren | |
und einem breiten Lachen, wird hier bald ihr Abitur machen. Entführungen, | |
Hinrichtungen, Massengräber, Drogenkrieg und Drogenküchen: In der | |
mexikanischen Provinz mag das traurige Realität sein. Auf der Bank im | |
Pausenhof des hauptstädtischen Colegio Madrid ist das weit entfernt. | |
## „Schon verdächtig als Student“ | |
Trotzdem hat Julia die Vorgänge genau verfolgt. Der Fall der verschwundenen | |
Studenten zeige, dass mittlerweile auch diejenigen ins Visier der | |
Drogenmafia gerieten, die überhaupt keine Verbindung zur organisierten | |
Kriminalität hätten. „In diesem Land ist man schon verdächtig, nur weil man | |
studiert“, sagt sie. Der Schulgong läutet zur letzten Stunde des Tages: | |
Geschichte. Danach hat Julia frei. | |
Wirklich genießen ließen sich die freien Nachmittage aber nicht, sagt sie. | |
Weil die Lage in Mexiko auch ganz alltägliche Dinge betrifft. Abends | |
weggehen? Zu unsicher. Alleine mit 18 in den Urlaub fahren? Zu gefährlich, | |
sagen ihre Eltern. „Unsere Empörung ist mittlerweile riesengroß“, sagt die | |
Schülerin. So groß, dass die Regierung sie einfach nicht mehr ignorieren | |
könne. Auch Julia wird am Donnerstag demonstrieren gehen. | |
„Eigentlich wollte ich dieses Semester meine letzten Prüfungen machen“, | |
sagt Mariana Rivera mit einem kleinen Seufzer. Aber in diesen Tagen kann | |
man nicht einfach in Ruhe weiterstudieren. Gestern nicht, heute nicht, und | |
morgen erst recht nicht – Generalstreik. Rivera ist unterwegs zum | |
Auditorium „Che Guevara“ auf dem Campus der Ciudad Universitaria. Auf dem | |
schattigen Platz vor der philosophischen Fakultät scharen sich etwa 30 | |
Studenten um einen Tisch. Daran sitzt Omar Perez, ein dünner Mann mit | |
traurigen Augen. | |
Er erzählt von der Nacht vom 26. September in Iguala – als die Polizei | |
plötzlich das Feuer eröffnete und anschließend 43 seiner Kommilitonen | |
verschleppt wurden. „Die Sitze der Busse waren voller Blut“, erinnert er | |
sich. Perez’ Stimme ist so leise, dass Mariana Rivera nah an das | |
improvisierte Rednerpult heranrückt. Perez und einige andere Studenten der | |
Escuela Normal Rural Raúl Isidro Burgos aus Ayotzinapa sind in die | |
Hauptstadt gekommen, um für Aufklärung und Unterstützung zu werben. Immer | |
mehr Zuhörer gesellen sich zu der Gruppe im Hof. | |
## Linke Tradition | |
„Fue el estado!“, ruft Omar Perez. „Es war der Staat!“ Seit mehr als ei… | |
Monat hallt dieser Ruf durch Mexiko. Weil es Polizisten waren, die die | |
Studenten in Iguala entführten. Und weil die Regierung schon lange gewusst | |
haben soll, dass die Sicherheitskräfte und der Bürgermeister des Städtchens | |
gemeinsame Sache mit den Drogenbanden machten. | |
Die Escuela Normal Rural in Ayotzinapa hat eine linke Tradition, verwurzelt | |
in der Volksbildung. Auch davon berichtet Omar Perez in Mexiko-Stadt. Viele | |
Studenten kämen vom Land und gingen nach ihrer Ausbildung als | |
Grundschullehrer wieder zurück in ihre Dörfer. Oft sind sie die ersten der | |
Familie, die studieren dürfen. „Die Normalistas verteidigen die Ideale der | |
mexikanischen Revolution“, sagt Omar Perez. „Die Regierung hat Angst, weil | |
wir entscheiden wollen, wie es mit unserem Land weitergehen soll.“ | |
Eine Stunde hat Omar Perez gesprochen. Eine Stunde, die Mariana Rivera zu | |
spät zu ihrer Versammlung kommen wird. Ihre Überzeugung, dass sie jetzt | |
nicht einfach weiterstudieren kann, ist in dieser Stunde weiter gewachsen. | |
„Die Lage eskaliert schon jetzt“, sagt sie. „Die Protestmärsche werden | |
immer größer. Und es gibt kleine Gruppen, die bereits noch radikalere | |
Aktionen planen.“ | |
20 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Florian Meyer-Hawranek | |
## TAGS | |
Mexiko | |
Drogenkrieg | |
Studentenproteste | |
Iguala | |
Drogenkrieg | |
Guerrero | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
Mexiko | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Drogenboss-Festnahme in Mexiko: Tote und Straßenkämpfe | |
Der Anführer des Golf-Kartells wurde in der mexikanischen Stadt Reynosa | |
festgnommen. Schießereien zwischen der Polizei und den Bandenmitgliedern | |
waren die Folge. | |
Studentenmassaker in Mexiko: Deutsche Waffen, deutsches Geld | |
Immer wieder finden sich Sturmgewehre aus deutscher Produktion in | |
Krisengebieten. So auch in der mexikanischen Provinz Guerrero. | |
Vermisste Studenten in Mexiko: Die Bundespolizei soll es richten | |
Mexikos Präsident hat eine Polizeireform angekündigt, um die Gewalt im Land | |
in den Griff zu bekommen. Die Reaktionen sind verhalten. | |
Kartelle in Mexiko: Polizeireform soll's richten | |
Mexikos Präsident Enrique Pena Nieto kündigt an, im Kampf gegen | |
Drogenkartelle härter durchzugreifen. Vor allem die Polizei müsse sich | |
verändern. | |
Verschwundene Studenten in Mexiko: Sturm auf die Staatsanwaltschaft | |
Noch immer ist nicht geklärt, was mit den vermissten 43 Studenten geschehen | |
ist. Die Proteste gegen die Behörden gehen deshalb unvermindert weiter. | |
Proteste in Mexiko: Revolution für die Vermissten | |
Zehntausende Demonstranten haben den Revolutionsfeiertag für einen | |
„Trauermarsch“ genutzt. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. | |
Literatin Poniatowska zur aktuellen Lage: „Mexiko erwacht jetzt“ | |
Elena Poniatowska, die Grande Dame der mexikanischen Literatur, über ihr | |
Land, das derzeit in Gewalt und Korruption versinkt. | |
Menschenrechtler über Morde in Mexiko: „Die Mafia tötet Sozialaktivisten“ | |
Die Ermittlungen im Fall der 43 mexikanischen Studenten sind unzureichend. | |
Und die Angehörigen sind skeptisch, sagt Menschenrechtsaktivist Abel | |
Barrera. | |
Nach Studenten-Massaker in Mexiko: Parteibüro angezündet | |
Nach dem mutmaßlichen Mord an 43 Studenten in Mexiko hat es wieder heftige | |
Proteste gegeben. Die Demonstranten zündeten das Büro der Regierungspartei | |
an. | |
Kommentar Verbrechen in Mexiko: Echo eines Massakers | |
Ganze 71 Jahre regierte die PRI das Land. Das Einzige, was sie in Mexiko | |
institutionalisiert hat, ist eine Kultur der Korruption und der | |
Straflosigkeit. | |
Menschenrechtsanwältin über Mexiko: „Ein grundlegendes Misstrauen“ | |
Korruption und Gewalt sind in Mexiko tief verwurzelt. Alejandra Ancheita | |
über die Rolle des Staates, die Regierung Peña Nieto und strukturelle | |
Ungleichheit. | |
Studentenmassaker in Mexiko: Einen Tag lang loderte das Feuer | |
Festgenommene Gangster in Mexiko erzählen, wie sie 43 Studenten | |
hinrichteten. Beim Massaker arbeiteten wohl Behörden und Verbrecher | |
zusammen. | |
Kommentar Proteste in Mexiko: Gegen die Menschen | |
Mexiko bricht zusammen. 43 verschleppte Studenten sind der Anlass für | |
Massenproteste, die Probleme des Landes sitzen aber tiefer. | |
Verschwundene Studenten in Mexiko: Bürgermeister von Iguala verhaftet | |
José Luis Abarca und seine Frau waren seit vier Wochen auf der Flucht. Sie | |
sollen für das Verschwinden der 43 Studenten Ende September verantwortlich | |
sein. |