# taz.de -- Haus der Erinnerung in Kolumbien: Das Museum der Opfer der Gewalt | |
> Das Museum der Erinnerung in Medellín ist ein Ort des Gedenkens. Es will | |
> nicht nach Schuldigen suchen, sondern eine friedliche Gesellschaft | |
> finden. | |
Bild: Transpi mit Vermissten - vermutlich Opfern bewaffneter Konflikte in Medel… | |
MEDELLÍN taz | Eine Gruppe von Jugendlichen in Schuluniformen hockt neben | |
der Karte mit den Umrissen des Verwaltungsbezirks Antioquia und diskutiert. | |
Markierungen sind auf der Karte zu sehen: Las Pavas, wo ein Dorf gegen | |
seine gewaltsame Vertreibung kämpft, Argelia, Toledo und San Pedro Norte. | |
„Alles Orte, die auch in der Ausstellung eine Rolle spielen“, sagt Mayori | |
Castilla. Sie ist Museumspädagogin und hat vom ersten Stock aus Blick auf | |
die Jugendlichen im Parterre des „Museums Haus der Erinnerung“. Ein | |
zufriedenes Lächeln umspielt ihre Lippen: Sie freut sich, dass sich die | |
jüngere Generation mit der blutigen Bürgerkriegsgeschichte | |
auseinandersetzt, die längst noch nicht vorbei ist. | |
Anstiften zur Auseinandersetzung, zur Reflexion und zur Versöhnung, das ist | |
Aufgabe des Museums – und der Frauen und Männer, die durch die Ausstellung | |
auf zwei Stockwerken führen. Als Mediatorin bezeichnet sich die 36-jährige | |
Psychologiestudentin Castilla, die von Beginn an im „Museum Haus der | |
Erinnerung“ arbeitet. Der Name ist Programm. | |
Das gewichtige Wort „Museum“ produziert bei vielen potenziellen Besuchern | |
Schwellenangst. So soll der Zusatz „Casa“, Haus, die Scheu nehmen, auch | |
einzutreten, erklärt Mayori Castilla. Sie kennt die Geschichten vieler | |
Opfer: Sie gehört zu den Studierenden der Universität von Antioquia, die | |
2006 an dem ersten Programm der Stadtverwaltung teilnahmen, das sich an die | |
Opfer des bewaffneten Konflikts wandte. Da entstand die Idee, ein Museum | |
aufzubauen, an dem sie von Beginn an mitarbeiten. Das ist in dem modernen | |
viergeschossigen Bau, der von Freiflächen umgeben ist, ausdrücklich | |
erwünscht. | |
Kerngedanke ist, den Opfern ein Gesicht zu geben. Deshalb wird mit | |
Filmsequenzen, Interviews, Fotos und O-Tönen gearbeitet. „Der Schmerz ist | |
eine zentrale Antriebsfeder. Uns geht es darum, den Krieg aus der | |
Anonymität herauszuholen, denn alle Kolumbianer haben Opfer zu beklagen“, | |
betont Mayori Castilla. | |
## Todesumstände ungeklärt | |
Marina Zapata und ihre Tochter Jenifer Reñdon nicken zustimmend. Sie leben | |
in der Comuna 9, einem Bezirk nahe dem Zentrum der 3-Millionen-Stadt | |
Medellín. Zwei Familienmitglieder wurden Opfer der Gewalt. „Horacio, ein | |
Onkel von mir, wurde 1996 erschossen. Nie ist sein Tod aufgeklärt worden“, | |
erinnert sich Marina Zapata. „Der Tod von Manrique, der in der Comuna 3 tot | |
aufgefunden wurde, ist hingegen erst vier Jahre her“, ergänzt ihre Tochter. | |
Manrique war ein Cousin, der Opfer gewöhnlicher Gewalt gewesen sein könnte, | |
aber seine genauen Todesumstände sind ungeklärt. Typisch für viele | |
Gewalttaten in Kolumbien. | |
„Deutlich über neunzig Prozent der Menschenrechtsverbrechen werden nicht | |
geahndet“, klagen Experten wie Bayron Góngora von der Menschenrechtskanzlei | |
Corporación Jurídica Libertad aus Medellín. Das ist eine Tatsache, auf die | |
in der Ausstellung genauso eingegangen wird wie auf bestimmte Gruppen. | |
Darunter sind afrokolumbianische und indigene Gemeinden, die politische | |
Opposition, die Gewerkschaften und die gewaltsam Verschwundenen – denen hat | |
man im Museum Vitrinen oder Ausstellungsnischen eingeräumt. | |
Dabei wird immer wieder mit Tondokumenten gearbeitet. Fotos lassen sich auf | |
Touchscreens oder Videowänden betrachten. „Viele dieser | |
Ausstellungselemente wurden gemeinsam mit den Angehörigen von Opfern wie | |
den Madres de la Candelaria gestaltet“, erklärt die Museumsführerin | |
Castilla. | |
Die „Mütter der Candelaria“ kämpfen seit 1999 für Aufklärung des Verble… | |
ihrer Kinder. Die sind verschwunden – und niemanden interessierte es, | |
dieses Verbrechen aufzuklären. Die Praxis des Verschwindenlassens ist | |
weltweit verbreitet. Häufig werden gewaltsam Verschwundene gefoltert; viele | |
tauchen niemals wieder auf. Die „Mütter der Candelaria“ gehören zu den | |
aktivsten Opferorganisationen. Sie haben das Museum bereitwillig | |
unterstützt, biografische Informationen über die Verschwundenen und | |
Aussagen der Angehörigen zur Verfügung gestellt. | |
## Angebot für die jüngere Generation | |
Besucherin Marina Zapata und ihre Tochter Jenifer sind beeindruckt davon, | |
welche Aspekte in der Ausstellung auch berücksichtigt werden. „Dass der | |
Krieg gegen die Drogen, das Besprühen mit Schädlingsbekämpfungsmitteln aus | |
der Luft und die Verschmutzung von Gewässern mit Quecksilber im Zuge des | |
Goldschürfens aufgegriffen wird, hätte ich nicht gedacht“, ergänzt | |
Besucherin Jenifer Reñdon, deren achtjährige Tochter Miriam gerade an einem | |
Touchscreen Fotos ansieht. Auch an die jüngere Generation haben die | |
Ausstellungsmacher gedacht: Touchscreens und kleine Schaltpulte sind an die | |
Bedürfnisse der Sieben- bis Elfjährigen angepasst. | |
Für Kinder und Jugendliche hat das Programm des von der Stadt Medellín | |
finanzierten Museums ohnehin viel zu bieten: Nachmittags findet rund um das | |
Museum so einiges statt – sei es im Park der Hoffnung, auf den Kies- und | |
Grünflächen vor dem Museumsbau oder im Parterre des Museums rund um die | |
Karte von Antioquia. Da tummeln sich heute die Kinder, und es wird gefilmt. | |
Zwei Mitarbeiter des Museums befragen die BesucherInnen zum Stellenwert von | |
Vergangenheit, Versöhnung und Frieden. | |
Die Direktorin Lucía González hat zuvor am Museum von Antioquia, im | |
Zentrums Medellíns, gearbeitet und dort mit neuen Konzepten dafür gesorgt, | |
dass die Jugend den Weg in die Ausstellung findet. Musik, kritische | |
Ausstellungen über die Situation in den umkämpften Comunas (so heißen die | |
Verwaltungsbezirke der Stadt) und auch über wichtige Aspekte der | |
Vergangenheit wie den Drogenkrieg unter dem quasi allmächtigen Pablo | |
Escobar gehören dazu. Das hat die gelernte Architektin, die zu den | |
prominenten Querdenkerinnen der Stadt gehört, in den Kreis der | |
KandidatInnen für die Leitung des Museumsprojekts gebracht. | |
## Erinnern, um zu versöhnen | |
Medellín bewies mit dem Projekt Mut zu Neuem: Ein Museum, das die | |
Geschichte einer Stadt aus Sicht der Opfer nachzeichnet, hatte es bis dahin | |
in Kolumbien nicht gegeben. Ende 2011 wurde das Museum eröffnet. Das | |
neuartige Konzept setzt auch die nationale Regierung unter Druck, einen | |
nationalen Ort des Erinnerns zu schaffen. Doch dieser Aspekt ist für Lucía | |
González nicht relevant: „Medellín ist über Jahrzehnte die Hauptstadt von | |
Krieg und Verbrechen gewesen. Wir haben allen Grund, hier zu gedenken und | |
die Weichen für eine friedliche Zukunft zu stellen.“ | |
Das Wichtigste sei, den Wandel hin zum Frieden in der kolumbianische | |
Gesellschaft einzuleiten – nicht bei der Frage nach den Schuldigen | |
innezuhalten. Eine Einschätzung, die González mit vielen teilt. Dazu | |
gehören auch Organisationen wie die Unión Patriótica oder die Bewegung der | |
Opfer von Staatsverbrechen (Movice): beides Organisationen, die die engen | |
Verbindungen zwischen Armee und Paramilitärs aufzeigen. | |
Teil der Ausstellung ist auch eine kurze Ansprache des Abgeordneten Iván | |
Cepeda, Sohn eines 1994 ermordeten populären Politikers der Unión | |
Patriótica und langjähriger Movice-Sprecher. Die Rede zeichnet die ganze | |
Tragweite des Konflikts nach, dessen Beginn gar nicht so einfach zu | |
bestimmen ist. | |
„Zwar begann der Bürgerkrieg zwischen Guerilla und Staat 1964, aber zuvor | |
bekämpften sich schon Liberale und Konservative. Wirklichen Frieden hat es | |
seit der Gründung Kolumbiens kaum gegeben“, gibt Lucía González zu | |
Bedenken. | |
Der permanente Konflikt hat die kolumbianische Gesellschaft verändert. Dass | |
ihre Befriedung den Weg über die Erinnerung nehmen muss, darin sind sich | |
die Fachleute einig. Jugendliche Täter, die die Ausstellung fluchtartig | |
verließen, hat es genauso gegeben wie jene, denen übel wurde, als sie | |
begriffen, was sie angerichtet haben. „Das sind Erfahrungen, die nötig | |
sind, um die eigene Zukunft friedlich gestalten zu können“, glaubt Mayori | |
Castilla. | |
Allerdings sind bewaffnete Akteure, Soldaten, Guerilleros und Paramilitärs | |
noch seltene Besucher in der Ausstellung. BewohnerInnen Medellíns wie | |
Marina Zapata und ihre Tochter Jenifer Reñdon stellen die überwiegende | |
Mehrheit. Die beiden wollen wiederkommen – dann aber mit weiteren | |
Familienangehörigen. | |
11 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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