# taz.de -- Befreiungstheologie in Lateinamerika: Gesegnete Revolution | |
> Vor 35 Jahren wurde Erzbischof Óscar Romero erschossen. Nun wird er | |
> seliggesprochen. Feiert Lateinamerika jetzt die Rückkehr | |
> sozialrevolutionärer Priester? | |
Bild: Ob wohl auch Schlüsselanhänger mit Romeros Porträt zur Revolution verh… | |
Es war eine prophetische Begegnung im Mai 2007. Bei einem Treffen des | |
Celam, des lateinamerikanischen Bischofsrats, vertraute Kardinal Jorge | |
Mario Bergoglio dem Generalvikar Jesús Delgado aus El Salvador einen | |
geheimen Wunsch an. „Wenn ich Papst wäre, würde ich Óscar Romero sofort | |
heiligsprechen“. | |
Jesús Delgado atmete tief durch. Óscar Romero, der berühmte Erzbischof von | |
San Salvador, war am 24. März 1980 während der Messe am Altar von einem | |
Scharfschützen erschossen worden. Seit der Ermordung hatte sich Delgado um | |
dessen Heiligsprechung bemüht. Nach der Begegnung mit Bergoglio betete | |
Delgado: „Mein Gott, warum machst du diesen Mann nicht zum Papst?“ | |
Die Gebete wurden erhört. 2013 wurde Bergoglio als Franziskus zum Papst | |
gewählt. Und nur zwei Jahre später, am 3. Februar 2015, erkannte er den | |
Märtyrertod Romeros an. 35 Jahre nach seinem Tod wird der Nationalheld von | |
El Salvador nun am 23. Mai in seiner Heimat seliggesprochen. Zu der | |
Zeremonie werden neun lateinamerikanische Staatschefs und über 260.000 | |
Gläubige erwartet. | |
Die Seligsprechung kommt spät. Für die Befreiungstheologen, die | |
jahrzehntelang bekämpft wurden, ist sie dennoch eine Genugtuung. Denn die | |
sozialrevolutionären Priester und Bischöfe, die die Armut ihrer Gläubigen | |
nicht als gottgegeben hinnehmen, sondern mit Gottes Hilfe lindern wollten, | |
hatten im Vatikan lange Jahre nur wenige Fürsprecher. | |
## Der Papst beendet den Kalten Krieg | |
Außerhalb der Mauern des Kirchenstaates wird Romero dagegen schon länger | |
als Märtyrer und Ikone für Frieden und Gerechtigkeit verehrt. 2011 kniete | |
Barack Obama am Grabstein des „Bischofs der Armen“ nieder. Sogar die | |
Vereinten Nationen widmeten Romero einen Ehrentag. Das Parlament von El | |
Salvador ernannte ihn 2000 zum „Hochgeschätzten Sohn“, und britische | |
Abgeordnete nominierten ihn für den Friedensnobelpreis. | |
Es dauerte bis zum März 2013, als mit der Wahl von Papst Franziskus der | |
Kalte Krieg schließlich auch in der katholischen Kirche endete. Der erste | |
Latino auf dem Heiligen Stuhl hob nicht nur die Blockade gegen die | |
Seligsprechung von Óscar Romero auf. Ende März dieses Jahres kündigte er | |
an, auch die Seligsprechung des „Roten Bischofs von Recife“, Dom Hélder | |
Câmara, prüfen zu wollen. Und noch einen dritten Befreiungstheologen will | |
Franziskus seligsprechen: Es ist der Jesuitenpater Rutilio Grande García, | |
ein Wegbegleiter Romeros, der am 12. März 1977 in El Salvador erschossen | |
wurde. Steht die Seligsprechung der unbequemen Propheten aus Lateinamerika | |
für einen Kurswechsel im Vatikan? Führt sie gar zu einem Comeback der | |
Befreiungstheologie? | |
Leonardo Boff ist optimistisch: „Die Befreiungstheologie war nie tot, | |
schließlich hat auch die Unterdrückung der Armen nicht aufgehört“, meint | |
der brasilianische Befreiungstheologe. Boff ist überzeugt davon, dass der | |
Papst aus Lateinamerika die katholische Kirche aus ihrer Isolation | |
herausführen wird. Franziskus habe erstmals zugelassen, dass es politische | |
Märtyrer geben könne, meint er. Für den ehemaligen Franziskaner, der 1992 | |
vom Vatikan mit einem Lehrverbot belegt wurde, ist die Seligsprechung von | |
Romero ein später Triumph. | |
Óscar Romero, Dom Hélder Câmara, Gustavo Gutiérrez, Jon Sobrino – die | |
Begründer der Befreiungstheologie leisteten nicht nur Widerstand gegen die | |
lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den 70er Jahren und forderten | |
soziale Gerechtigkeit. Sie stellten auch eine Frage, die bis heute immer | |
wieder aufs Neue beantwortet werden muss: Kann der christliche Glaube die | |
Gesellschaft verändern? | |
## Landreform und Basisgemeinden | |
Der Kampf der Befreiungstheologie für mehr irdische Gerechtigkeit begann | |
1952, als Hélder Câmara, dessen Seligsprechung jetzt von Papst Franziskus | |
geprüft wird, als Weihbischof die Elendsviertel von Rio de Janeiro | |
besuchte. Armut war für ihn „eine Beleidigung Gottes, die Menschen zu | |
Tieren herabwürdigt“. In seinen Predigten zerstach er die Worthülsen der | |
gesellschaftlichen Doppelmoral: „Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennen | |
sie mich einen Heiligen, aber wenn ich frage, warum die Armen nichts zu | |
essen haben, schimpfen sie mich einen Kommunisten.“ | |
Hélder Câmara brachte damit nicht nur die brasilianische Obrigkeit gegen | |
sich auf, sie machten auch den Vatikan auf den schmächtigen, aber | |
wortgewaltigen Gottesmann aus Brasilien aufmerksam. | |
Der damalige Papst Johannes XXIII. zeigte sich zunächst aufgeschlossen für | |
die Bewegung der lateinamerikanischen Bischöfe. Er wollte allerdings von | |
ihnen wissen, was die Kirche tun könne, um die arme Bevölkerung von | |
kommunistischen Idealen fernzuhalten. | |
Hélder Câmara ließ sich nicht lange bitten: Als Sprecher einer jungen | |
Gruppe von Bischöfen, die dem Papst antworteten, schlug er 1958 drei | |
Maßnahmen vor: eine Landreform, eine Bewegung für Alphabetisierung und | |
Bildung sowie die Unterstützung der damals gerade neu entstehenden | |
Basisgemeinden. | |
Die vom „roten Bischof“ ins Leben gerufenen Basisgemeinden wurden zu den | |
revolutionären Zellen der Befreiungstheologie in ganz Lateinamerika. In | |
ihnen schlossen sich engagierte Laien zusammen, sie dienten als Plattform | |
für politische und gesellschaftliche Diskussionen und zur Entwicklung neuer | |
Formen von Seelsorge. Besonders revolutionär: Die Bibel wurde ohne einen | |
Pfarrer gelesen und interpretiert. | |
## Feind des Weißen Hauses | |
Auch der 1955 von Hélder Câmara mitbegründete lateinamerikanische | |
Bischofsrat Celam erwies sich als ein wirksames Instrument zur Verbreitung | |
der Befreiungstheologie. Schon auf der zweiten Konferenz 1968 in Medellín | |
zeigte sich, dass die Bewegung in der ganzen Region an Bedeutung gewann. | |
Das Abschlussdokument wurde von Gustavo Gutiérrez verfasst. Der peruanische | |
Priester, Autor des 1971 veröffentlichten Standardwerks „Theologie der | |
Befreiung“, verpasste der neuen theologischen Strömung ihren Namen. | |
Auch Gutiérrez interpretierte Gottes Wort als Auftrag, die Welt zu | |
verändern und die Ursachen der Armut abzuschaffen. Doch genau an diesem | |
Punkt entzündete sich die Kontroverse. Denn wer in den 70er Jahren die | |
Ursachen der Armut in Lateinamerika abschaffen wollte, legte sich nicht nur | |
mit den Generälen an, die sich in der Region an die Macht geputscht hatten. | |
Er geriet auch zwischen die Fronten des Kalten Krieges und wurde zum Feind | |
des Weißen Hauses in Washington, das aus Angst vor dem Kommunismus die | |
Militärdiktaturen in der Region unterstützte. | |
„Óscar Romero war damals bei den US-Regierungen nicht beliebt“, erinnert | |
sich Julian Filochowski, Leiter des Romero Trust in London und ein | |
Vertrauter des Ermordeten. „In den USA war man der Meinung, er stehe auf | |
der falschen Seite, weil er gegen die Militärjunta in Salvador agierte, die | |
von Washington unterstützt wurde.“ Doch mittlerweile, da ist sich | |
Filochowski sicher, haben sich die Zeiten geändert: „Obama hat die Eiszeit | |
mit Kuba beendet, und die Angst vor Kommunismus und Befreiungstheologie | |
gibt es nicht mehr.“ | |
Filochowski lernte Óscar Romero in den Siebzigerjahren kennen. Damals war | |
er als Entwicklungsexperte im Auftrag des Katholischen Instituts für | |
internationale Beziehungen (CIIR) in Zentralamerika unterwegs. Durch die | |
Zusammenarbeit in sozialen Projekten wuchs ein Vertrauensverhältnis. Romero | |
nannte ihn in seinem Tagebuch einen Freund. | |
Im Vatikan, aber auch in Lateinamerika bildete sich Widerstand gegen die | |
revolutionären Theologen. Vatikankenner Filichowski macht in erster Linie | |
Kurienkardinäle aus Lateinamerika verantwortlich. Sie hätten gegen Romero | |
und andere Befreiungstheologen in Rom intrigiert. Herausragender Vertreter | |
der konservativen Truppe war der kolumbianische Erzbischof von Medellín, | |
Kurienkardinal Alfonso López Trujillo. Er wurde 1972 zum neuen | |
Generalsekretär des lateinamerikanischen Bischofsrats Celam gewählt. | |
Gemeinsam mit dem deutsch-brasilianischen Bischof Bonaventura Kloppenburg, | |
der 1974 bis 1982 Rektor des Pastoralinstituts (Ipla) der Celam war, | |
versuchte er, die Befreiungstheologie zurückzudrängen. | |
## Gläubige verlassen die Kirche in Scharen | |
Teil dieser Strategie war auch die Besetzung wichtiger Bischofssitze in | |
Lateinamerika mit konservativen Gewährsmännern. So ernannte Papst Johannes | |
Paul II. 1985 den Kirchenrechtler José Cardoso Sobrinho zum Nachfolger von | |
Hélder Câmara in Recife. Die Bilanz war verheerend: Während der Amtszeit | |
Sobrinhos verließen die Gläubigen in Scharen die Kirche, und auch Priester | |
quittierten aus Protest ihren Dienst. „Ich kann mir diese Nominierung nur | |
so erklären, dass der Papst seinen Beratern gefolgt ist“, meint der | |
brasilianische Bischof Dom Anuar Battisti aus Paraná. „Vielleicht haben die | |
damals zu ihm gesagt, in der Diözese Recife herrscht Chaos, jeder Pfarrer | |
predigt, was er will, wir brauchen da jemand, der Ordnung ins Haus bringt.“ | |
Erst nach der Jahrtausendwende verloren die Gegner der Befreiungstheologie | |
im Vatikan an Bedeutung. So musste der kolumbianische Kardinal López | |
Trujillo, ein strammer Konservativer, 2005 eine Niederlage einstecken. | |
Trotz seiner Nähe zu Johannes Paul II. ging nicht er als Papst aus dem | |
Konklave hervor, sondern Benedikt. | |
Mit der Seligsprechung Romeros sind die langjährigen ideologischen | |
Grabenkämpfe überwunden. Sowohl den Verfechtern als auch den Widersachern | |
der Befreiungstheologie scheint der Atem ausgegangen zu sein. „Natürlich | |
gibt es noch Pfarrer und Bischöfe, die sich für die arme Bevölkerung | |
einsetzen, doch sie äußern sich nicht mehr so radikal wie in den 70er und | |
80er Jahren“, sagt Anuar Battisti, brasilianischer Erzbischof von Maringá. | |
„Die Zeiten, als in den Kirchengemeinden der soziale Kampf ausgerufen | |
wurde, sind vorbei.“ Battistis Bilanz ist ernüchternd. „Der Begriff | |
Befreiungstheologie wird nicht mehr benutzt. Die Bewegung ist in der | |
Anonymität verschwunden“, sagt er. Nur die Basisgemeinden hätten überlebt, | |
allerdings haben auch sie mittlerweile einen neuen Namen: „kleine | |
Gemeinden“. Der Einsatz für die Armen sei heute nicht mehr „radikal, | |
sondern geräuschlos“, meint der Bischof. | |
## Revolutionäre sind sanftmütig geworden | |
Auch der Kampf um die theologische Deutungshoheit scheint ausgefochten. In | |
einem Interview mit der Internet-Plattform „Vatican Insider“ bekannte | |
Gründungsvater Gustavo Gutiérrez nach seinem Besuch bei Papst Franziskus im | |
September 2013 freimütig, dass er nicht mehr übermäßig an der | |
Befreiungstheologie interessiert sei. „Die Befreiungstheologie ist eine | |
Theologie, die dazu dient, an eine zentrale Botschaft des Evangeliums zu | |
erinnern: die Option für die Armen“, sagt Gutiérrez. Für die | |
Befreiungstheologie war die sogenannte „Option für die Armen“ das zentrale | |
theologische Prinzip. | |
Doch Papst Franziskus sei ein Mann des Evangeliums, deshalb sei der Streit | |
um den Begriff heute müßig, so Gutiérrez. | |
Die einstigen theologischen Revolutionäre aus Lateinamerika geben sich | |
heute also sanftmütig und souverän. Und auch die Hardliner aus dem Vatikan | |
zeigen Anzeichen von Altersmilde. So betonte Papst Benedikt, der als | |
Vorsitzender der Glaubenskongregation die Befreiungstheologie lange | |
bekämpft hatte, während seiner Reise 2007 in Brasilien, dass er die | |
„vorrangige Option für die Armen“ mittrage. Sie sei in den meisten Ländern | |
auf der Südhalbkugel gängige kirchliche Praxis. | |
Hat sich die Befreiungstheologie also durchgesetzt? Auf den ersten Blick | |
hat Papst Franziskus durch seinen Einsatz für die Seligsprechung der | |
lateinamerikanischen Bischöfe für Versöhnung in der eigenen Kirche gesorgt. | |
In San Salvador werden sich katholische Würdenträger am 23. Mai in | |
Lobeshymnen über den Märtyrer Óscar Romero ergehen. | |
Doch das lässt den Vatikan nicht aus der historischen Verantwortung: Als | |
Romero am 30. Januar 1980 in Rom um Hilfe bat, schickte ihn Papst Johannes | |
Paul II. nach Hause. Die Ermordung von Geistlichen, die Massaker an der | |
Landbevölkerung, die Gefahr eines blutigen Bürgerkriegs – all die | |
Gräueltaten, die Romero ihm schilderte, konnten den Papst nicht zu einer | |
Verurteilung der Militärjunta in El Salvador bewegen. | |
Nur zwei Monate später, am 24. März 1980, wurde Romero in der | |
Krankenhauskapelle der „Göttlichen Vorhersehung“ in El Salvador erschossen. | |
22 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Astrid Prange | |
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