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# taz.de -- Kolumne Nullen und Einsen: Eine Minute offline
> Michael Brake ist onlinesüchtig. Kein Extremfall, gerade so abhängig wie
> jeder von uns. Doch Michael Brake wagt einen nie dagewesenen
> Selbstversuch.
Bild: Willkommen in der Matrix
Am Anfang ist es aufregend, ein Projekt! Ich richte ein automatisches
Mailreply ein („Bin zwischen 16:26 Uhr und 16:27 Uhr nicht zu erreichen,
werde Ihre Mails danach gerne beantworten“), deaktiviere mein
OK-Cupid-Profil und sage meinen 269 Facebook-Freunden Bescheid. Soll sich
ja niemand auf den Schlips getreten fühlen.
Als der vereinbarte Zeitpunkt näher rückt, macht sich leichte Panik breit.
Habe ich auch nichts vergessen? Ist Donnerstag wirklich der richtige Tag
für ein derart lebensveränderndes Projekt? Doch es ist nicht mehr
aufzuhalten. „Wenn Sie keine Auswahl treffen, wird der Computer in 34
Sekunden automatisch ausgeschaltet.“ So muss es sein, wenn man mit einem
Fallschirm abspringt. 4 … 3… 2 … 1 …
Ich bin im Tunnel. Der Monitor ist schwarz. Die Sonne – die Sonne! –
scheint, ich kann mich im Spiegeldisplay des Macbooks schemenhaft selbst
erkennen. Das bin also ich, 33. Alt sehe ich aus. Ich stehe auf, schaue zu
Boden. Ein achtlos dahingeworfenes Papier liegt dort. Ich bücke mich.
In den folgenden 25 Sekunden räume ich die gesamte Wohnung auf, ich
schleife die Dielen ab, ich streiche die Zimmer, lese alles von Marcel
Proust und die Buddenbrooks, die ich danach auf Suaheli übersetze, weil ich
das gerade gelernt habe. Ich rufe alle meine Tanten an, streiche die Zimmer
nochmal anders, mache die Steuererklärungen der kommenden zehn Jahre, zeuge
ein Kind und sehe ihm dabei zu, wie es erwachsen wird. Man ist ja so
PRODUKTIV, wenn man nicht STÄNDIG auf diesen Bildschirm STARRT.
Zufrieden schaue ich mich um. Es ist still. Ich höre ein Lachen vom
Innenhof. Was, wenn Ursula von der Leyen gerade etwas Peinliches gesagt
hat? Und ich kann keinen der naheliegendsten 200 Witze darüber twittern?
Mir wird bewusst, was ich in diesem Moment alles verpasse. [1][Pro Minute
werden] 342.000 Tweets geschrieben und 120 Stunden Videomaterial auf
Youtube hochgeladen. Wann soll ich mir das alles nachträglich anschauen?
Ich schaffe ja gerade mal die 2 neuen MySpace-Inhalte.
Was, wenn ich ein komplettes Meme-Referenzsystem verpasse und nicht mehr
verstehe, was meine Friends in 24 Sekunden posten? Moment, Ihnen sind meine
Sorgen nicht existenziell genug? Was, wenn Merkel zurückgetreten ist? Was,
wenn eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurde, und sie
evakuieren gerade Neukölln, weil in 13 Sekunden die Bombe hochgeht, und ich
kriege nix davon mit? Ich könnte das Radio in der Küche anmachen, aber wo
ist denn noch mal die Küche? Wie find ich die denn jetzt??? MAN HAT JA
DURCH GOOGLE MAPS TOTAL SEINEN ORIENTIERUNGSSINN VERLOREN HEUTZUTAGE!
Erschöpft sinke ich zu Boden und bleibe auf den Dielen liegen. Die Dielen.
Das Holz. Meine Augen erobern die fraktal anmutende Schönheit der
Astlöcher. Ich atme ein, meine Lunge füllt sich mit dem Duft von
Brandenburger Kiefern, meine Füße spüren den märkischen Sand, in dem die
Kiefern einst gewachsen sind.
Meine Katze legt sich zu mir, ich streichele ihren Rücken mit allen fünf
Fingern der rechten Hand, über 3.000 Berührungs- und Druckrezeptoren werden
durch die seidene Struktur ihres Fells aktiviert, ich nehme sie alle
gleichzeitig wahr. Kontemplation. Eine Sekunde dauert so lang wie ein Leben
dauert so lang wie die Ewigkeit.
Ich bin jetzt ganz bei mir.
…
…
Geschafft! Ich könnte jetzt natürlich auch noch eine weitere Minute offline
bleiben, aber wem muss ich jetzt noch etwas beweisen? Ich fahre den
Computer wieder hoch und … keine neue E-Mail? WTF???
24 Jul 2014
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## AUTOREN
Michael Brake
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