# taz.de -- Kommentar Politaktion zum Mauerfall: Mauertote versus Frontexopfer | |
> Die Umdeutung der Gedenkkreuze ist keineswegs zynisch: Sie ist nötig, | |
> damit das deutsche Erinnerungstheater nicht zur bloßen | |
> Selbstvergewisserung wird. | |
Bild: Flüchtlinge in einem Auffanglager vor Melilla, an der EU-Außengrenze. | |
Ich habe größtes Verständnis für die Situation der afrikanischen | |
Flüchtlinge, aber. Es ist prinzipiell wichtig, auf das Schicksal der | |
Flüchtlinge an den europäischen Grenzen hinzuweisen, aber. Wir müssen | |
diesen Menschen helfen, aber. | |
Es gibt sehr starke Sätze, die, leider, immer wieder viel zu früh beendet | |
werden. Oft enden sie eigentlich schon mit dem Wörtchen aber, auch wenn | |
danach noch andere Wörter folgen. Aber, das kann einen Unwillen markieren, | |
oder, was schlimmer ist, ein gesellschaftliches Tabu: Es hinterlässt eine | |
Leerstelle. In der Debatte über den Gedenktafeltransport im | |
Regierungsviertel ist Letzteres der Fall: Es gibt ein Tabu des Gedenkens. | |
Während Flüchtlingsinitiativen die politische Aktionskunst am Montag zwar | |
feierten, gab es unter Opferverbänden, Gedenkinstitutionen und früheren | |
DDR-Bürgerrechtlern eine weitgehend einhellige Reaktion auf die Umnutzung | |
der Gedenkkreuze für die Mauertoten. Diese Reaktion lautet: Die Opfer von | |
damals dürfen nicht für politische Zwecke von heute missbraucht werden. | |
In dieser prinzipiell richtigen Feststellung sind sich viele einig. Der | |
Hohn jedoch ist: Diese Einigkeit – oder sagen wir vielleicht: Einheit – | |
wird von all jenen am lautesten beschworen, denen zuvor selbst nicht | |
aufgefallen wäre, dass ihre Gedenksymbole überhaupt abtransportiert wurden. | |
## Die Verantwortung zählt | |
Es gibt zweifellos gute Gründe, Orte des Gedenkens nicht dem Zynismus zu | |
überlassen: Es wäre zynisch, die Mauertoten, die an der innerdeutschen | |
Grenze infolge des Schießbefehls ermordet wurden, mit jenen Menschen zu | |
vergleichen, die an der Außengrenze Europas heute auf ein Leben in Würde | |
hoffen. Es gibt dort zwar selbstsprühende Pfeffersprayvorrichtungen, aber | |
immerhin keinen Schießbefehl. | |
Es ist hingegen überhaupt nicht zynisch, mit symbolpolitischen Maßnahmen | |
auf die humanitäre Dimension hinzuweisen, die vor den Außengrenzen Europas | |
ihren durchaus katastrophalen Lauf nimmt. Es braucht, natürlich, eine | |
Provokation, damit die kulturelle Zeremonie des deutschen | |
Erinnerungstheaters, die in den kommenden Tagen wieder ansteht, nicht zur | |
bloßen Selbstvergewisserung wird. | |
Und ist nicht die letzte Frage jedes Gedenkens: Welche Verantwortung | |
erwächst aus der Geschichte für uns? Debatten über das kulturelle Gedenken | |
anzustoßen, steht nicht unter Monopolvorbehalt. Wir stehen in der | |
Verantwortung: Kein aber. | |
3 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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