| # taz.de -- Kolumne Der Rote Faden: Die Grenzen des guten Geschmacks | |
| > Berlins Innensenator Frank Henkel lässt alles Menschliche vermissen, was | |
| > die Situation der Flüchtlinge betrifft. Und Mauerkreuze reisen nach | |
| > Bulgarien. | |
| Bild: Weg sind sie. Die Mauer steht halt woanders inzwischen. | |
| Mit dem Entfernen der sieben weißen Gedenkkreuze ist ein neuer Höhepunkt | |
| politischer Geschmacklosigkeit erreicht. Wer im Nachhinein die Opfer der | |
| SED-Diktatur verhöhnt, sollte sich in Grund und Boden schämen. Es waren 14 | |
| weiße Holzkreuze, aber lasst uns nicht kleinlich sein. Auch dass ihr Fehlen | |
| am Reichstag erst einen Tag später bemerkt wurde, soll uns nicht kümmern. | |
| Schließlich geht es um gewichtige Dinge wie Scham, die Berlins Innensenator | |
| Frank Henkel (CDU) den Aktionskünstlern vom „Zentrum für politische | |
| Schönheit“ anempfiehlt. | |
| Das Ziel der Entwendung war, erklärt der Initiator Philipp Ruch, dieses: | |
| Man solle den 25. Jahrestag des Mauerfalls nutzen, um auch der Maueropfer | |
| der Gegenwart zu gedenken. Deshalb hätten die Kreuze selbst die Flucht | |
| angetreten, und zwar an die EU-Außengrenze. | |
| Dorthin, wo 7,5 Meter hohe Grenzanlagen stehen beziehungsweise errichtet | |
| werden und Grenzschützer ganz legal Jagd auf Menschen machen, die trotz | |
| alldem den Grenzstreifen überwinden wollen. Geschätzte 30.000 Menschen sind | |
| hier bereits umgekommen. | |
| Der Berliner Innensenator, der darin nicht das zentrale Problem sehen kann, | |
| wohl aber die Kunstaktion für Schändung der SED-Opfer hält, ist derselbe | |
| Innensenator, der auf die Proteste von Geflüchteten in Berlin gegen ihre | |
| katastrophale Behandlung in Deutschland und der EU mit schamloser | |
| Hinterhältigkeit reagierte. | |
| Man gab sich pro forma verhandlungsbereit und sagte den Flüchtlingen zu, | |
| man werde von Fall zu Fall prüfen; woraufhin die Betroffenen wieder | |
| Hoffnung schöpften – und schob sie allesamt ab. Das ist der Aktionismus, | |
| für den Frank Henkel, selbst Kind von Vertriebenen, verantwortlich ist. Er | |
| weiß sich in guter Gesellschaft. | |
| ## Zahlungskräftige Mitteleuropäer | |
| Denn Berlins Politik insgesamt will Touristen und freut sich über die | |
| zahlungskräftigen Mitteleuropäer, die wie wild Immobilien kaufen und die | |
| Mieten in die Höhe sausen lassen. Für Menschen in Not bleibt da nicht viel. | |
| Wohnungen schon mal gar nicht. Und man sollte auch realistisch bleiben: | |
| Wirklich in Nöten ist die Verwaltung. | |
| Die nämlich ist in Berlin, wie auch in anderen deutschen Städten, völlig | |
| überrascht, geradezu überrumpelt, dass es mehr Syrer und Iraker nach | |
| Deutschland schaffen als von ihnen vorgesehen – trotz der neuen | |
| „Eindämmungsanlagen“ an den EU-Außengrenzen. Zu ihrem Glück hat man nun | |
| immerhin das Notrettungsprogramm „Mare Nostrum“ abgewickelt und durch ein | |
| Abwehrprogramm ersetzt. Es werden jetzt also kaum mehr Menschen aus dem | |
| Mittelmeer gefischt. | |
| Denn die europäischen wie auch deutschen Behörden kollabieren. Von den | |
| Vertriebenen sterben einfach zu wenig Menschen, 30.000 reichen nicht, es | |
| bleiben zu viele Antragssteller übrig. Auch Henkels Verwaltung braucht mehr | |
| Tote, will sie planmäßig arbeiten. Weshalb Aktionen, die das Elend in den | |
| Blick ziehen, unerwünscht sind. Gegen die Künstlergruppe ermittelt nun der | |
| Staatsschutz. Wer deutsche Mauertote mit malischen, syrischen, eritreischen | |
| Grenztoten, gar mit noch lebenden, aber eben todgeweihten Menschen in | |
| Verbindung bringt und dafür hochoffiziöse Feierlichkeiten stört, ist | |
| potenziell ein Terrorist. | |
| ## Ausflug mit Bolzenschneider | |
| Den Aktivismus des Zentrums für politische Schönheit konnten diese | |
| polizeilichen Umtriebe bislang nicht hemmen. Es plant unverdrossen, mit | |
| zwei Reisebussen an die bulgarische Außengrenze zu fahren, um just am 9. | |
| November zum ersten europäischen Mauerfall beizutragen. | |
| Das Fundraising für den Ausflug mit Bolzenschneider ging problemlos und | |
| auch die spontane Umfrage des Rundfunks Berlin-Brandenburg ergab, dass 80 | |
| Prozent ihres Publikums die Aktion gut finden. | |
| Wiedermal zeigen sich die regierenden Volksvertreter nicht nur träge, | |
| sondern vor allem fremdenfeindlicher als der Souverän. | |
| So bleibt als gute Nachricht der Woche: Finanzminister Schäuble ist | |
| aufgewacht. Er, der die Schuldenbremse in die Verfassung schreiben ließ und | |
| mit dem staatlichen Investitionsverbot grob die Wirtschaft abwürgt, will | |
| wieder Geld fließen lassen. Zehn Milliarden will der Bund zwischen 2016 und | |
| 2018 investieren. Nein, nicht in alternative Energien, Bildung oder so | |
| etwas, auf keinen Fall in Menschen – das Geld kommt alten und neuen Brücken | |
| und Straßen zugute. Damit der Autofahrer hubbellos vorankommt und auch die | |
| bald Maut zahlenden Ausländer auf hiesigen Straßen nicht den Eindruck | |
| bekommen, es handele sich um ein schäbiges Land. | |
| Und die Flüchtlinge schlafen vielleicht ja auch besser auf geflicktem Teer | |
| und unter Brücken, durch die es nicht mehr tropft. Die EU hat bislang 1 | |
| Prozent der Flüchtenden aus Syrien aufgenommen. | |
| 8 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Ines Kappert | |
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