| # taz.de -- Kolumne Der Rote Faden: Deutsche Einheit, spanische Teilung | |
| > Im Schatten der Demokratie, die ihre Einheit feiert, erwachen die Geister | |
| > des Nationalen. Was hat das mit Edward Snowden zu tun? | |
| Bild: Und in welchem Team bist Du? | |
| Berlin, 9. November 2014. Genau 25 Jahre nach dem folgenschweren | |
| Schabowski-Satz wird in der deutschen Hauptstadt der Fall der Mauer | |
| gefeiert: Mit einem Lichterfest, passend zu St. Martin, und einem Konzert | |
| am Brandenburger Tor, das hauptsächlich der flachen Unterhaltung dient: Udo | |
| Lindenberg singt zum abertausendsten Mal von dem einen Zug, den er je | |
| gekriegt hat, nämlich dem Sonderzug nach Pankow (dankenswerter Weise hat | |
| die Gewerkschaft der Lokomotivführer ihren Streik zum Feiertag | |
| eingestellt). | |
| Aber Udo Lindenbergs Auftritt war nicht das einzige Gespenstische in diesen | |
| neblig-trüben Novembertagen. Er war nicht mal der einzige alte Sänger, der | |
| noch einmal zu einem großen Auftritt geladen wurde: Nur wenige Stunden | |
| vorher durfte Wolf Biermann im Deutschen Bundestag auf Einladung des | |
| Bundestagspräsidenten hin (offiziell der drittmächtigste Mensch der | |
| Republik) noch einmal in seine verrosteten Saiten greifen, um den Linken | |
| ein Ständchen zu singen. | |
| Es war fast, als ob es für immer 1976 respektive 1989 wäre. Biermann nutzte | |
| seine neue Herrschaftsnähe dazu, mit den alten Gespenstern abzurechnen – | |
| ohne zu sehen, dass er sein Lied „Ermutigung“ („Die Herrschenden erzittern | |
| – sitzt du erst hinter Gittern – doch nicht vor deinem Leid“, original von | |
| 1968) genauso gut in die andere Richtung hätte singen können: Aber die | |
| Herrschenden und ihre Hofnarren sind meist (nicht nur altersbedingt) auf | |
| beiden Ohren taub, und zwar wohlweislich. | |
| Aber nicht genug der Gespenster: Auch der Fraktionsvorsitzende der Linken | |
| im Bundestag, Gregor Gysi, wurde dieser Tage von einem solchen heimgesucht: | |
| nämlich vom Gespenst des Antisemitismus, das ihn bis auf die Toilette | |
| verfolgte. Deutsche Gespenster, einfach nicht auszutreiben. | |
| ## Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens | |
| Das vielsagendste Bild bot sich mir am Rande der Gedenkveranstaltungen, auf | |
| dem Weg dorthin, wo das gespenstisch milchige Licht der Heliumballons den | |
| ehemaligen Mauerstreifen beleuchtete: eine katalanische Kleinfamilie im | |
| Exil, mit gelb-roten Schals und der gelb-rot gestreiften Fahne mit dem | |
| blauen Dreieck und dem weißen Stern, agitiert von der nationalen Erhebung | |
| zu Hause, der nicht verbindlichen Abstimmung über die Unabhängigkeit | |
| Kataloniens. Sie schienen selbstbewusst und freudig ob der großen | |
| Zustimmung. | |
| Ich aber dachte: Gewiss, das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, es sollte | |
| auch für die kleinen Völker gelten. Und hat das katalanische Volk nicht | |
| lange genug unter der kastilischen Herrschaft gelitten? Und waren – man | |
| denke an den spanischen Bürgerkrieg – die Katalanen nicht immer auf der | |
| guten Seite, und ihre Sprache eine der Armen und Unterdrückten? Warum also | |
| nicht ein neuer Staat „Katalonien“? Weil, dachte ich, irgendetwas daran | |
| gespenstisch ist. Katalonien ist eine vergleichsweise wohlhabende (und | |
| trotz all der deutschen Emigranten und ihren Träumen aus Beton ausnehmend | |
| schöne) Region und hat keine Lust mehr, Tribut an die Armutsverwaltung in | |
| Madrid zu zollen. Vielleicht ist das katalonische Streben nach | |
| Unabhängigkeit auch kleinlich, egoistisch und revanchistisch. | |
| Am Ende tauschen sie alte gegen neue Herrscher aus – die Ideen von „Volk“ | |
| und „Nation“ überwindet man so jedenfalls nicht. Der spanische | |
| Vielvölkerstaat wird sterben, und der Clásico findet auch nicht mehr oft | |
| statt. | |
| ## Die „Herrschenden“ | |
| So aber scheint es zu sein: An einem Ort feiert man gefallene Grenzen, an | |
| anderen Orten errichtet man neue. Das passende Bild hierfür lieferte das | |
| „Zentrum für politische Schönheit“, indem es die Gedenkkreuze für die | |
| Mauertoten Berlins kurzerhand zweckentwendete und an die EU-Außengrenze | |
| transferierte; noch eine Grenze nämlich, die unüberwindlich scheint und, | |
| der Menschheit und Menschlichkeit zuliebe, eigentlich irgendwann fallen | |
| muss. Den Herrschenden hier und da hat die Aktion naturgemäß weniger | |
| gefallen. | |
| Aber wieso ist hier eigentlich dauernd von „Herrschenden“ die Rede? Leben | |
| wir nicht in einer Demokratie, in der wir selbst herrschen beziehungsweise | |
| es WählerInnen und Gewählte gibt, also „Volk“ und „Volksvertreter“; l… | |
| wir nicht in einer Gesellschaft, die (nicht nur im Gauckschen Sinne) frei, | |
| gerecht, durchlässig und transparent genug ist, damit jede und jeder | |
| hierzulande auch das Glück finden kann? | |
| Wie weit es mit der durchlässigen Demokratie tatsächlich her ist, kann man | |
| im Kino sehen, dank der Filmemacherin Laura Poitras, die in dem großartigen | |
| Dokumentarfilm „Citizenfour“ noch einmal den echten Edward Snowden zeigt | |
| (und den großen Guardian-Journalisten Glenn Greenwald und deren gemeinsame | |
| Tage in einem Hongkonger Hotel) und das echt Gespenstische der sozusagen | |
| digitalen Konterrevolution durch die NSA: Die Überwachung ist total. | |
| 15 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Rene Hamann | |
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