| # taz.de -- Staatenlos leben: Vogelfreie der Moderne | |
| > Reiseverbot, Ausschluss von Sozialleistungen, fehlender Alltag: Die | |
| > Staatsbürgerschaft zu entziehen, kann als Instrument der Verfolgung | |
| > eingesetzt werden. | |
| Bild: Staatenlose leben im Niemandsland der Weltgemeinschaft. Dabei hat jeder d… | |
| So wie es keinen Flecken Erde mehr gibt, der keiner Jurisdiktion | |
| unterliegt, dürfte es auch keine Menschen mehr geben, die keinem Staat | |
| angehören. Aber es gibt sie doch. | |
| Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einem Staat ist im Völkerrecht so | |
| grundlegend, so fest wie das Eltern-Kind-Verhältnis. Verstöße sind tabu. | |
| Aber es geschieht eben doch. | |
| Staatenlose leben im Niemandsland der Weltgemeinschaft. Dabei hat | |
| eigentlich jeder das Recht auf einen Pass. Die Allgemeine Erklärung der | |
| Menschenrechte legt dies fest. Und trotzdem gibt es weltweit zehn | |
| Millionen, europaweit 600.000 und in Deutschland 13.000 Menschen, die kein | |
| Land als die Seinen betrachtet. „Staatenlos sein ist wie blind sein. Man | |
| geht aus der Haustür und hat auf nichts Zugriff“, sagt die Sprecherin des | |
| Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Carlotta Sami. Keine medizinische Versorgung, | |
| keine Chance auf Schule oder Job. Kurzum: kein Zuhause. | |
| Die Vereinten Nationen wollen das Problem nach eigenen Angaben innerhalb | |
| der nächsten zehn Jahre aus der Welt schaffen. UNHCR startete vor zwei | |
| Wochen eine Kampagne gegen diese „schlimme Anomalie des 21. Jahrhunderts“. | |
| Staatenlose können nicht reisen, sie sind von der politischen Teilnahme und | |
| oft von grundlegenden Sozialleistungen ausgeschlossen. Vielfach landen sie | |
| in Abschiebehaft, ohne dass es ein Land gäbe, in das sie abgeschoben werden | |
| können. In Ländern wie Deutschland, in denen das Blutprinzip der | |
| Staatsangehörigkeit gilt, vererbt sich dieser Schwebezustand auf die | |
| Kinder. | |
| Staatenlosigkeit kann als Instrument von Verfolgung dienen. Während der | |
| Militärdiktatur in Griechenland verließen zahlreiche Oppositionelle, | |
| Intellektuelle und Künstler das Land. Die Militärjunta entzog den im Exil | |
| Lebenden per Dekret die griechische Staatsangehörigkeit. Diese Methode ist | |
| bis heute beliebt. Kuwait beispielsweise hat dieses Jahr schon 33 Menschen | |
| die Staatsbürgerschaft aberkannt. Zuletzt traf es am 19. Oktober den | |
| Oppositionspolitiker Musallam al-Barrak sowie Ahmad Jabar al-Schammari, den | |
| Eigentümer einer unabhängigen Zeitung und eines Fernsehsenders. Er verlor | |
| seine Medienunternehmen, al-Schammari und seine vier Kinder sind nun | |
| staatenlos. | |
| ## Kalte Ausbürgerung | |
| Eine Variante dieses offensiven Rauswurfs ist die kalte Ausbürgerung, | |
| beliebt bei Dissidenten im Exil: Oppositionellen wird in der Heimat oft | |
| kein Pass ausgestellt, sie müssen ohne fliehen. Einmal im Exil, weigern | |
| sich die Botschaften, ihnen Papiere auszustellen. Ihre Staatsangehörigkeit | |
| können sie nicht nachweisen, so rutschen sie in die faktische | |
| Staatenlosigkeit. | |
| Staatenlosigkeit kann Folge des Patriarchats sein. 27 Länder verweigern | |
| Frauen das Recht, ihre Nationalität an die Kinder weiterzugeben. Gebärt | |
| beispielsweise eine iranische Frau ein Kind und ist der Vater unbekannt, | |
| gilt das Kind nicht als iranisch. Staatenlosigkeit kann Folge von Krisen | |
| und Konflikten sein: Heute ist das der Fall bei den vielen Kindern | |
| syrischer Frauen, die auf der Flucht geboren werden, aber in den | |
| Nachbarländern Ägypten, Türkei, Libanon, Irak, Jordanien keine | |
| Geburtsurkunde bekommen. | |
| Ähnliches gilt bei Bewohnern der palästinensischen Autonomiegebiete. Sie | |
| erhalten von ihren Behörden einen palästinensischen Reisepass. Weil | |
| Palästina nicht als Staat anerkannt ist, gelten Bewohner des | |
| Westjordanlands und des Gazastreifens in den meisten westlichen Ländern | |
| jedoch als staatenlos. | |
| Staatenlosigkeit kann auch Folge nationalistischen Wahns sein. Die meisten | |
| Staatenlosen leben deshalb in Myanmar: 800.000 Menschen muslimischen | |
| Glaubens, Angehörige der ethnischen Gruppe der Rohingya. Die | |
| Militärdiktatur wollte ein homogenes Volk schaffen, die Rohingya galten als | |
| Eindringlinge. 1982 entzog man ihnen per Gesetz die Nationalität. | |
| In Deutschland kam das Thema zuletzt bei der Debatte um die | |
| IS-Dschihadisten auf. Konservative Innenpolitiker hatten vorgeschlagen, | |
| ihnen zur Strafe den deutschen Pass zu entziehen. Ob dies sinnvoll wäre, | |
| ist überaus fraglich. Staatenlos wären die Islamisten danach aber nicht: | |
| Infrage käme die Sanktion nur bei Doppelstaatlern, sodass ihnen ihr – oft | |
| türkischer – weiterer Pass bliebe. | |
| In Deutschland gibt es noch kein spezielles Verfahren, um Staatenlosigkeit | |
| festzustellen. Um einen deutschen Pass zu bekommen, gelten für Staatenlose | |
| im Wesentlichen die gleichen Voraussetzungen wie für Bürger anderer | |
| Staaten: Sie müssen einen Einbürgerungstest bestehen, ein unbefristetes | |
| Aufenthaltsrecht haben, seit sechs Jahren legal in Deutschland leben, sich | |
| zum Grundgesetz bekennen, Deutsch sprechen, ihren Lebensunterhalt ohne | |
| Sozialhilfe bestreiten und dürfen nicht vorbestraft sein. Eine | |
| Voraussetzung zur Einbürgerung entfällt für sie: die Aufgabe der | |
| Staatsangehörigkeit. | |
| 17 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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