# taz.de -- Staatenlos in Deutschland, taz-Serie Teil I: Saids Kampf gegen das … | |
> In Syrien war Said Alnahawi als palästinensischer Flüchtling registriert. | |
> Kein Problem – bis Krieg und Exil dazwischen kamen. | |
Bild: Laufen und grübeln: Said Alnahawi dreht in Darmstadt seine Runden. | |
DARMSTADT taz | Said Alnahawi dreht wieder eine seiner Runden, die Straßen | |
in Darmstadt sind leer am Vormittag. Eine Tram rauscht vorbei. Er folgt den | |
Gleisen bis zum Luisenplatz, mit kurzen Schritten, das linke Bein zieht er | |
etwas nach. Vor dem Einkaufszentrum stehen Schüler in bunten Regenjacken, | |
ein Obdachloser. Said biegt ab in die Nebenstraße und beginnt die nächste | |
Runde in dem endlosen Lauf, der ihn keinen Schritt vorwärts bringt. | |
Said muss nachdenken, einen Ausweg finden, das gehe besser, wenn er laufe, | |
sagt er. Im Moment kreisen seine Gedanken um die immer gleichen Dinge. | |
Seine Verwandten in Syrien. Seine Mutter in der kleinen Wohnung in | |
Darmstadt, allein auf gepackten Kisten. Die drei schwarzen Kreuze in seiner | |
befristeten Aufenthaltserlaubnis, die in drei Tagen ihre Gültigkeit | |
verliert. Nationalität: XXX. Nur noch drei Tage. | |
Said ist in Damaskus geboren, seine Mutter ist Syrerin, sein Vater | |
Palästinenser. Das syrische Recht schränkt für Frauen die Möglichkeit ein, | |
ihre Staatsbürgerschaft weiterzugeben. Said und sein Bruder waren in ihrer | |
Heimat als palästinensische Flüchtlinge registriert – auch nachdem ihr | |
Vater gestorben ist. Im Alltag sei der Unterschied kaum zu spüren gewesen, | |
sagt Said. | |
Dennoch: Syrischer Staatsbürger war er nie. Und Palästinenser ist er auch | |
nicht, er besitzt keinen palästinensischen Pass, hat nie das Territorium | |
betreten. Außerdem werden die Dokumente ohnehin in kaum einem Land | |
anerkannt. Das Ergebnis dieser Konstellation: Für die meisten Nationen ist | |
Said Alnahawi ein Geist. Staatenlos, seit seiner Geburt. | |
## Arztbesuch in Deutschland | |
Said schüttelt den Kopf. „Ich habe mich immer als Syrer gefühlt“, sagt er. | |
Die meiste Zeit seines Lebens war das Land sein Zuhause, nicht der | |
Kriegsschauplatz, der heute die Schlagzeilen beherrscht. Eine behütete | |
Kindheit, gehobene Mittelschicht. Der Vater arbeitete als Architekt, seine | |
Mutter hatte ihren Job als Sekretärin bei einem Hardware-Unternehmen nach | |
Saids Geburt aufgegeben. Er hat eine Körperbehinderung, ein Gendefekt, wie | |
er erklärt. Ein Teil der Muskeln in seiner rechten Körperhälfte steht | |
ständig unter Spannung, schnelle Bewegungen fallen ihm schwer, manchmal hat | |
er Schmerzen. Die chronische Überreizung verursachte auch eine Trübung | |
seines Augenlichtes, mit 18 war Said fast blind. | |
Die Behandlungsmöglichkeiten in Damaskus genügten den besorgten Eltern | |
nicht. Die familiäre Verbindung nach Deutschland ist ohnehin eng, der Vater | |
war mit einer Deutschen verheiratet, bevor er nach Syrien zurückkehrte und | |
dort Saids Mutter traf. Eine Halbschwester Saids lebt in Darmstadt. „Wir | |
waren von Oktober bis Dezember 2004 für die Behandlung hier“, sagt er. Auch | |
2007 reiste Said noch einmal für 15 Tage nach Deutschland, ein Visum bekam | |
er ohne Probleme. Dass er eigentlich kein Syrer ist, dass ihn de facto nie | |
ein Staat als Bürger anerkannt hat – „das spielte für mich schlichtweg | |
keine Rolle“, sagt er. Doch dann kam der Krieg. | |
Said sitzt auf der Bettkante, gelbe Laken, gelbe Wände. Eine abgewetzte, | |
rote Ledercouch, Schreibtisch und Schrank aus hellem Holz. Die Möbel | |
gehören der Studentenverbindung, bei der Said und seine Mutter | |
untergekommen sind. Said spricht über das andere Syrien, das Syrien von | |
heute. Sein Deutsch reicht für den Alltag, aber wenn er etwas präzise | |
erzählen will, wechselt er ins Englische. | |
## Kugeln aus dem Nirgendwo | |
Bis vor zwei Jahren hat er an der Universität in Damaskus studiert, | |
englische Literatur. Während in Homs Bomben und Raketen explodieren, | |
versuchen die Menschen in Damaskus ihr normales Leben weiterzuführen. An | |
einem Abend im Februar 2012 ist er auf dem Heimweg von einer Prüfung, wie | |
er sagt. Said nimmt den Bus, es ist dunkel in den Straßen, Stromausfall. An | |
einem Checkpoint steigen Soldaten ein, kontrollieren die Ausweise. „Dann | |
schlugen wie aus dem Nichts Kugeln im Bus ein. Wir haben uns umgesehen, sie | |
kamen aus dem Nirgendwo. Die Soldaten mussten zurückschießen“, erzählt | |
Said. „Ich hatte Angst um mein Leben.“ | |
Sechs Monate später fliegt er wieder nach Deutschland, er steht kurz vor | |
der Bachelor-Prüfung, ein Arzt soll noch einmal den Zustand seiner Augen | |
kontrollieren. Routine, wie er sagt. Said wohnt bei seiner Halbschwester in | |
Darmstadt. Kurz vor der Rückreise ruft ihn die Mutter aus Damaskus an: Komm | |
nicht zurück. Es ist zu gefährlich hier. Das Touristenvisum gilt für drei | |
Monate, einmal kann Said es verlängern. Im März 2013 endet sein regulärer | |
Aufenthalt. Said bleibt. In solchen Fällen reagiert der deutsche Staat mit | |
Zwangsmaßnahmen, ihm wird die Abschiebung angedroht. Nur wohin? Aus | |
deutscher Sicht ist er kein Syrer, das Flüchtlingsdokument ist in | |
Deutschland nicht gültig. Andere Papiere besitzt er nicht. | |
Die Abschiebung wird für sechs Monate ausgesetzt. Duldung. „Ich konnte | |
nicht arbeiten, nicht studieren, ich habe nur gewartet“, sagt Said. Damals | |
beginnt er seine Wanderungen durch die Innenstadt, in Kreisen, die immer | |
größer werden. An den Gleisen entlang zum Luisenplatz, am Einkaufszentrum | |
vorbei, durch die Seitenstraße Richtung Bahnhof und im Bogen zurück. | |
Mormonische Missionare sprechen ihn an, der Mann am Hot-Dog-Stand grüßt ihn | |
mit Namen. Said läuft und grübelt. | |
## „Für mich bedeutet staatenlos: hilflos“ | |
In der Zeit begegnet ihm eine Freiwillige von Amnesty International, die | |
Organisation bietet ihre Hilfe an. Zum ersten Mal erklärt ihm jemand, was | |
ein Aufenthaltstitel ist, wie man ihn beantragen kann. Said reicht seine | |
Papiere bei der Ausländerbehörde ein, die ihm den befristeten Aufenthalt | |
für ein Jahr gewährt, zu Studienzwecken. Nur bei seiner Nationalität will | |
sich die Behörde nicht festlegen. Kein syrischer Pass, kein gültiges | |
Ausweisdokument. Also: Staatsangehörigkeit ungeklärt. Nationalität: XXX. | |
„Ich habe das nicht verstanden“, sagt Said. „Ich bin in Damaskus geboren, | |
ich bin Syrer. Ich spreche Arabisch mit syrischem Dialekt.“ Irgendwo | |
schnappt er dann ein Wort auf: Staatenlos. „Für mich bedeutet das vor | |
allem: hilflos“, sagt Said. | |
Er sucht den Begriff im Internet, aber dort stößt er nur auf die Websites | |
von Verschwörungstheoretikern. Die Hilfsorganisation rät ihm, Asyl zu | |
beantragen – aber Said hat Angst: Was geschieht dann mit seinen syrischen | |
Dokumenten? Kann er noch einreisen? Was, wenn der Asylantrag abgelehnt | |
wird? Angeblich ist er doch gar kein Syrer. Auf die Fragen wissen auch die | |
Helfer bei Amnesty keine Antwort. Said spricht mit einem Anwalt in | |
Darmstadt, zahlt ein Beratungshonorar, aber auch der kann ihm nicht helfen. | |
In Damaskus gehen die Vororte in Flammen auf, Said dreht in Darmstadt seine | |
Runden. Im Spätsommer entscheidet sich seine Mutter, das Land zu verlassen, | |
eine Zeit lang wohnen sie zu dritt in dem kleinen Zimmer der | |
Studentenverbindung. Dann sucht Said ein Zimmer für seine Mutter und sich. | |
Sie spricht kaum Deutsch und fühlt sich unwohl, unsicher in der neuen | |
Umgebung. Aber immerhin hat sie den syrischen Pass. Sie ist kein Geist, so | |
wie er. Said kümmert sich um den Asylantrag. | |
## Rastlose Spaziergänge | |
Die Verlängerung seiner eigenen Aufenthaltserlaubnis hat er auch schon | |
beantragt. Aber an diesem Nachmittag, drei Tage vor Ablauf seines | |
Dokuments, hat er noch keine Nachricht von der Ausländerbehörde. | |
Abschiebung? „Unwahrscheinlich. Wohin denn?“, sagt Said, und obwohl er sich | |
alle Mühe gibt, klingt er jetzt doch enttäuscht und bitter. „Mir gehen so | |
viele Dinge durch den Kopf und ich kann sie nicht organisieren. Immer wenn | |
ich etwas versuche, bringt es mich nicht weiter. Vielleicht mache ich es | |
falsch, versuche ich nicht genug, aber am Ende steht nie, was ich mir | |
erhofft habe.“ | |
Said läuft einen schlammigen Pfad im Industriegebiet entlang. Hastige, | |
kurze Schritte, der unebene Grund macht ihm das Fortkommen schwer. Ein Lkw | |
rumpelt durch ein Schlagloch, es stinkt nach Diesel und verbranntem Gummi. | |
Eine Autowerkstatt, ein Reifenhandel, dahinter ragen zwei weiße Minarette | |
auf. Es war eine der großen Runden, die ihn zum ersten Mal hierher führte, | |
vom Darmstädter Bahnhof sind es gut zwanzig Minuten zu Fuß. | |
Der Fußboden im Vorraum der Moschee ist gekachelt, es ist niemand da, nur | |
aus einem Nebenraum dringt Kinderlachen. Said streift seine schweren Schuhe | |
ab, läuft auf Socken durch die Tür und bis in die Mitte des hohen Raumes. | |
Seine Schritte sind fast lautlos auf dem dicken Teppich. Er bleibt stehen, | |
schaut zu Boden. Rezitiert kaum hörbar einige Koranverse auf Arabisch. Dann | |
sinkt er auf die Knie, über ihm der gewaltige Kronleuchter. Wofür er betet? | |
„Für meine Familie, für mein Land. Dass ein normales Leben in Syrien | |
irgendwann wieder möglich ist.“ | |
## Ein Jahr Aufschub | |
Zwei Monate später. Said klingt verändert am Telefon, er spricht schnell | |
und ruhig. Seine Aufenthaltserlaubnis wurde verlängert, für ein weiteres | |
Jahr. Zu Studienzwecken. Und er hat einen Anwalt in Ulm gefunden, Thomas | |
Oberhäuser, einen der wenigen Spezialisten für Staatenlosigkeit in | |
Deutschland. Der konnte ihm erklären, was die drei Kreuze in seiner | |
Aufenthaltserlaubnis bedeuten: Staatsangehörigkeit ungeklärt, ein reiner | |
Registratur-Begriff, eine schwammige Zwischenlösung ohne rechtlichen | |
Belang. | |
Mit der tatsächlichen Anerkennung der Staatenlosigkeit sind die Behörden in | |
Deutschland zögerlicher. Den Nachweis überlassen sie den Betroffenen. Said | |
muss jetzt belegen, dass ihn tatsächlich kein Staat als Bürger akzeptiert. | |
Der Anwalt habe seine Hilfe angeboten, sagt er noch, die Anerkennung der | |
Staatenlosigkeit sei ein kompliziertes Verfahren und könne Monate oder | |
sogar Jahre dauern. | |
Aber dann bietet es vielleicht die Chance, eine Aufenthaltserlaubnis zu | |
bekommen und irgendwann auch einen Pass. Deutschland hat sich in einer | |
UNO-Konvention verpflichtet, Staatenlosen zu helfen – das war allerdings | |
schon vor 60 Jahren. Said ist dennoch zuversichtlich. „Ich bin kein | |
Flüchtling. Ich will studieren, ich will mir etwas aufbauen. Wenn es in | |
Syrien nicht geht, dann eben in Deutschland“, sagt er. Trotzdem hat Said | |
nach langem Abwägen Asyl beantragt. Nur zur Sicherheit, gegen das | |
Verschwinden. | |
17 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Arne Schulz | |
Urs Spindler | |
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