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# taz.de -- Staatenlos in Polen, taz-Serie Teil II: Maria macht den Anfang
> Ihre rumänische Mutter haut ab, Maria wächst in einer polnischen
> Pflegefamilie auf. Erst mit 17 wird ihr eine Staatsbürgerschaft
> zugestanden.
Bild: Reisen mit der Familie oder Klassenfahrten konnte Maria Jakab nicht mitma…
SANDOMIERZ taz | Die Klinik in Sandomierz liegt am Stadtrand, ein kantiger,
mehrstöckiger Zweckbau in der Nähe einer Autobahnausfahrt. Hier kommt am
16. März 1997 Maria Jakab zur Welt; es ist ein kalter Frühlingstag, in
Warschau liegt noch der letzte Schnee. Für die Hebammen und Ärzte ist
Marias Geburt Routine. Die Mutter nennt ihren Namen und als Geburtsort
Brasov in Rumänien. Die Mitarbeiter im Krankenhaus übertragen die Angaben
in ihre Akte. Es ist das übliche juristische Räderwerk, das in Gang gesetzt
wird und das Name und Abstammung festhält, Geburtsort und Nationalität –
die Konstanten für das spätere Leben.
Doch schon fünf Tage nach der Entbindung zeigt sich, dass in Marias Fall
alles anders sein wird. Ihre Mutter verschwindet, und mit ihr die
wichtigste Zeugin für Name, Abstammung, Nationalität. Ist Maria Rumänin?
Ist sie Polin? Ist sie keines von beidem? Niemand denkt zu dem Zeitpunkt an
diese Frage, und so läuft das juristische Räderwerk weiter, läuft stumm und
unaufhaltsam in die falsche Richtung.
Siebzehneinhalb Jahre später. Das sonnengelb getünchte Haus der Familie
Rutyna duckt sich hinter drei hohe Fichten. Efeu rankt sich durch den
Drahtzaun. Auf der Terrasse liegt ein Berg aus buntem Plastikspielzeug,
zwei kleine Hunde tollen kläffend zwischen überquellenden Blumenkübeln.
## Nicht den gleichen Nachnamen
Über dem Durchgang zur Wohnküche hängen Familienfotos: die beiden Söhne,
Piotr und Pawel, ihre Mutter Elzbieta, der Vater Marek. Ein kleines Mädchen
mit dunklen Locken: Maria. „Wir haben uns ein Mädchen gewünscht, und als
das Waisenhaus sich bei uns meldete, haben wir sofort zugestimmt“, sagt
Elzbieta Rutyna. Maria mit einer pinkfarbenen Strickjacke im Garten. Maria
im Regenmantel zwischen den zwei großen Jungs. Maria beim Fußball. Maria am
Strand.
Sie war zwei Jahre und zwei Monate alt, als die Rutynas sie bei sich
aufnahmen. Maria nennt Marek und Elzbieta Papa und Mama. Aber rechtlich
gesehen sind die beiden bis heute nur ihre Pflegeeltern. Sie und die
Tochter haben nicht einmal den gleichen Nachnamen.
Die Familie ringt seit fünfzehn Jahren mit den juristischen Folgen des
kleinen Vermerks in der Krankenhausakte: Geburtsort Brasov, Rumänien. Wäre
Maria ein Findelkind mit unbekannten Eltern, sie hätte automatisch die
polnische Staatsbürgerschaft bekommen. Aber für das vermeintlich rumänische
Mädchen fühlt sich der polnische Staat nicht verantwortlich. Der
rumänischen Botschaft wiederum genügt der Eintrag in der Krankenhausakte
nicht, um Maria einen rumänischen Ausweis auszustellen. Die Zahnräder
beider Systeme greifen nicht ineinander. Für Maria bedeutet das: Kein Land
erkennt sie als Staatsbürgerin an. Sie ist staatenlos.
## Immer wieder nachgehakt
Von all dem ahnen Marek und Elzbieta im Sommer 1999 nichts. „Wir haben uns
um die Papiere am Anfang gar keine Gedanken gemacht“, sagt Marek Rutyna.
Als die Eltern aber Marias Nachnamen ändern möchten, stoßen sie das erste
Mal auf Schwierigkeiten. Das Familiengericht lehnt den Antrag ab. „Sie
haben uns gesagt, sie könnten nicht über Marysias Fall entscheiden, weil
sie keine Polin ist“, sagt Marek. Er ist ein resoluter, kräftiger Mann,
aber wenn er über seine Tochter spricht, sagt er „Marysia“, die Koseform
mit weichem „sch“.
Die Eltern haken nach: Was wäre, wenn sie Maria adoptieren würden? Bekäme
sie dann die Staatsbürgerschaft? Was können sie sonst noch tun? Sie
sprechen wieder und wieder beim Familiengericht vor. Irgendwann habe eine
Richterin sie zur Seite genommen, berichtet Marek: Sie sollten den Fall
lieber ruhen lassen, Maria könne das alles selbst lösen, wenn sie erwachsen
sei. Wenn sie weiter prozessieren würden, drohe dem Kind womöglich die
Abschiebung – nach Rumänien.
„Das Letzte, was du willst, ist, dass dein Kind weggehen muss“, sagt Marek.
„Also haben wir nichts mehr getan.“ Marek Rutyna arbeitet auf Baustellen in
Zypern und in Deutschland, manchmal ist er nur einige Wochen im Jahr bei
seiner Familie. Normalerweise hat ihn Elzbieta mit den Söhnen besucht. Aber
was würde passieren, wenn sie mit Maria in eine Passkontrolle gerieten?
„Die Angst, unsere Tochter zu verlieren, war so groß“, sagt Elzbieta
Rutyna. Also bleibt sie mit Maria zu Hause. Sieben, acht Jahre versuchen
die Eltern ein normales Leben für Maria aufzubauen. „Aber irgendwann hat
sie es nicht mehr ausgehalten“, sagt Marek.
## Innerer Rückzug
Es wird für einen Moment still im Wohnzimmer der Rutynas, nur die kleine
Julia quengelt und hängt sich an Elzbieta. Das blonde Mädchen ist das
jüngste Pflegekind der Familie. Maria hat die letzten zwei Stunden neben
ihren Pflegeeltern auf dem Sofa gesessen und fast nichts gesagt. Marek hat
den Arm um sie gelegt, sie schiebt ihn zur Seite.
„Ich war es immer gewohnt, dass mich Leute komisch anschauen“, sagt Maria.
„Du siehst anders aus, du hast einen anderen Namen als deine Eltern, also
behandeln die Menschen dich anders.“ Manchmal sei sie einfach nur traurig
gewesen. Als sie die Klassenfahrt nach Slowenien auslassen muss, als sie
ihren Vater nicht im Ausland besuchen kann. „Meine Eltern haben mir gesagt,
dass es ein Problem ist, einen Pass zu bekommen. Ich habe das damals alles
nicht so richtig verstanden. Aber ich habe meine Eltern immer wieder
gefragt: Warum kann ich Papa nicht besuchen?“
Im Jahr 2009 versuchen Marias Eltern es noch einmal. Sie stellen einen
Antrag beim Provinzgouverneur, um Marias polnische Staatsbürgerschaft
bestätigen zu lassen. „Wir haben einfach gehofft, dass jemand Verständnis
für unsere Situation hat“, sagt Marek. Der Antrag wird abgelehnt.
Schließlich habe Maria nie die polnische Staatsbürgerschaft besessen. Die
Regionalverwaltung legt den Eltern ein Dokument vor, in dem die rumänische
Botschaft die Existenz von Marias Mutter im Geburtenregister bestätigt. Den
polnischen Behörden genügt das als Beweis: Maria ist keine Polin.
## Ein Berg von Regelungen
Die Rutynas beantragen daraufhin eine Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer,
um zumindest sicher zu sein, dass ihr Kind nicht abgeschoben wird. Aber
eine solche bekommt man nicht ohne Ausweis. In einem letzten, verzweifelten
Versuch wenden sie sich noch einmal an die rumänische Botschaft. Die
weigert sich, auf Basis der Aktenlage einen Ausweis auszustellen. An den
Satz, mit dem er abgewiesen worden sei, sagt Marek Rutyna, erinnere er sich
noch ganz genau: „Sie ist nicht mehr unsere Angelegenheit.“
„Wir waren kurz davor, aufzugeben“, sagt Elzbieta. Ein Berg an Regelungen
und Gesetzen. Und Verfahren, die sich über Monate, Jahre ziehen. Marek
Rutyna beginnt Briefe zu schreiben, an Anwälte und Hilfsorganisationen, an
Medien und alte Schulfreunde. Im Sommer 2012 landet einer davon bei der
Helsinki-Stiftung für Menschenrechte in Warschau.
Die Anwältin Dorota Pudzianowska arbeitet sich in den Fall ein. „Es ist
unmöglich für die Betroffenen, mit so einer Situation allein fertig zu
werden“, sagt sie. „Und es ist schockierend, dass keine Behörde sich jemals
dieses Mädchens angenommen hat.“ Pudzianowska spricht zum ersten Mal aus,
wofür Marek und Elzbieta nicht einmal Worte haben: Maria ist staatenlos.
## Die UN-Konvention nicht unterschrieben
Für Menschen in Marias Lage kennt die polnische Gesetzgebung keine einfache
Lösung. Als eines von wenigen europäischen Ländern ist Polen keiner der
UN-Konventionen zur Vermeidung von Staatenlosigkeit beigetreten. Die
Anwälte müssen einen Weg finden, Marias Anspruch aus den nationalen
Gesetzen abzuleiten. Die Stiftung holt Martha Kuchno dazu, eine Anwältin
der internationalen Großkanzlei White & Case. Kuchno versucht vor Ort in
Rumänien, Dokumente für Maria zu beantragen. Doch auch sie wird abgewiesen:
Ohne die persönliche Anwesenheit beider Eltern, heißt es nun, sei es nicht
möglich, Maria als rumänische Staatsbürgerin anzuerkennen.
Doch Marias Mutter ist nicht auffindbar, der Vater ohnehin unbekannt. „An
diesem Punkt haben wir festgestellt, dass es für Maria nicht möglich ist,
Dokumente irgendeines Staates zu erhalten. Sie ist de facto staatenlos“,
sagt Dorota Pudzianowska.
In dieser Zeit bemerkten die Rutynas, dass ihre Tochter sich veränderte.
„Ich habe mich zurückgezogen. Für eine Zeit war ich gar nicht ich selbst“,
sagt Maria heute. „Ich hörte plötzlich diesen Begriff, der gegen alles in
meinem Leben war.“ Staatenlos. „Ich bin in Polen geboren, ich spreche
Polnisch. Und plötzlich sagt jemand zu mir: Du existierst nicht im
Register, es gibt dich nicht, du hast keine Dokumente. Das war sehr
verwirrend.“
## Antrag beim Präsidenten
Die Anwälte entscheiden sich für einen Antrag auf Verleihung der
Staatsbürgerschaft durch den polnischen Präsidenten. Ein riskanter Schritt:
Wird der Antrag ablehnt, gibt es keine Möglichkeit zum Widerspruch.
Sie reichen die Unterlagen für die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung ein,
ein Aktenstapel so dick wie ein Buch. Viel mehr können sie nicht tun. Die
Anwältin schreibt einen Brief an den Präsidenten, Marek wendet sich an
einen alten Schulfreund aus dem Dorf, Jan Warzecha, der inzwischen Mitglied
des polnischen Parlaments ist. Er spricht mit dem polnischen Radio, die
Zeitung berichtet – jetzt ist die Empörung groß über den Fall des kleinen
Mädchen, das Polnisch spricht und in Polen aufgewachsen ist, aber fast
siebzehn Jahre keine Staatsbürgerschaft hatte.
Im Sommer dieses Jahres stellt die Post Maria eine rote Mappe mit
Leineneinband zu, eingeprägt das Wappen der Nation. Maria bekommt die
Staatsbürgerschaft verliehen, per Dekret.
Auf ihren Pass wartet Maria allerdings noch immer. Sobald sie ihn hat, will
sie ihren Bruder in Bristol besuchen. Diesen Albtraum vergessen. Aber Marek
und Elzbieta Ruytna lässt das Thema nicht los. „Wir möchten anderen in
unserer Situation helfen“, sagt Marek. Eine Familie aus dem Nachbarort hat
sie kontaktiert. Auch die Anwältin Pudzianowska begleitet das Thema weiter
„Mir sind aktuell drei, vier weitere Fälle bekannt“, sagt sie. „Und ich
glaube, das ist nur der Anfang.“
19 Nov 2014
## AUTOREN
Urs Spindler
Arne Schulz
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