| # taz.de -- DJ-Sets im Online-Livestream: Zukunft der Clubkultur ist zu Hause | |
| > Das Projekt „Boiler Room“ veranstaltet DJ-Sets vor ausgewählten | |
| > Zuschauern. Und überträgt sie live im Netz für Hunderttausende. | |
| Bild: Ist das konventionelle DJ-Set (hier: Paul Oakenfold) bald Vergangenheit? | |
| LONDON taz | Man blickt frontal auf Gesichter, auf all diese lachenden, | |
| sprechenden, schönen, konzentrierten, überraschten oder verschämten | |
| menschlichen Gesichter. Zwischen ihnen steht ein DJ. Selbstvergessen dreht | |
| er an den Knöpfen seines Mixers, als sei jeder Millimeter Ausdruck seiner | |
| künstlergeplagten Seele. Es folgt ein Bass, der die Luft zerteilt und ein | |
| Beat, der den inzwischen hin und her wiegenden DJ sichtlich anzuturnen | |
| scheint. | |
| Ganz im Gegensatz zu den Menschen um ihn herum, von denen keiner tanzt. | |
| Stattdessen: kontrolliertes Kopfnicken und das, was Menschen im Club heute | |
| so tun, wenn sie ihr Bedürfnis nach Ekstase sublimieren: hin und wieder | |
| einen Schluck aus der Bierflasche nehmen oder teilnahmslos auf dem Handy | |
| herumwischen. | |
| Es ist absurd: Da legt der Londoner DJ Scratcha DVA, einer der | |
| interessantesten Protagonisten britischer Bass Music, maximal tanzbare | |
| Breakbeats auf, und das Publikum erweckt den Eindruck, als warte es in der | |
| Schlange vor dem Postschalter. | |
| Doch es sei ihnen verziehen. Immerhin schauen ihnen Hunderttausende dabei | |
| zu. Denn die Gesichter sind Protagonisten [1][des Boiler Room], so heißt | |
| der aktuell erfolgreichste Videokanal für zeitgenössische Clubmusik. | |
| Täglich überträgt Boiler Room Partys und Konzerte aus etwa 50 Städten | |
| dieser Welt, darunter neben den ursprünglichen Zentren London und Berlin | |
| auch Los Angeles, Tokio oder Johannesburg. | |
| ## Zwei Millionen Abonnenten | |
| Die Entstehungsgeschichte dieses Internet-TV Boiler Room liest sich wie | |
| eine Erzählung aus der Kategorie „Vom Tellerwäscher zum Millionär“. Als … | |
| Londoner Blaise Bellville den Kanal 2010 in einer alten Fabrik ins Leben | |
| rief, ahnte er wohl nicht, dass er in kürzester Zeit zu den größten Playern | |
| der elektronischen Clubmusik avancieren würde. Inzwischen ist Boiler Room | |
| mit fast zwei Millionen Abonnenten eine weltweit bekannte Marke. | |
| Jeden Tag sitzen Hunderttausende vor ihren Computerscreens, um bei etwas | |
| zuzuschauen, das eigentlich die reale Anwesenheit, das körperliche Erleben | |
| der Musik erfordert. Obskur irgendwie, zumal die Übertragung von Livemusik | |
| nichts Neues ist, man erinnere sich an Formate wie „Top of the Pops“, das | |
| 1964 im britischen Fernsehen startete oder die überdrehte VIVA-Sendung | |
| „Club Invasion“ aus den Neunzigern, bei der eine aufgeputschte Moderatorin | |
| die generische Dancemusic im Hintergrund mit lautem Brüllen zu übertönen | |
| versuchte. | |
| Was also macht Boiler Room so besonders und was sagt das über unsere | |
| mediale Gegenwart aus? Da wäre zunächst das musikalische Programm, das im | |
| Gegensatz zu den Pionierformaten aus der Analogwelt und von spontanen | |
| DJ-Gigs eines Thom Yorke mal abgesehen, fest im Underground verankert ist. | |
| Neben Bass Music, Techno, Drone und Jazz neuerdings auch klassische Musik. | |
| Für Ende des Jahres sind außerdem Konzerte des London Contemporary | |
| Orchestra geplant, das zusammen mit dem Radiohead-Gitarristen Jonny | |
| Greenwood Stücke von Beethoven, Messiaen oder Purcell spielen wird. | |
| Finanziert wird der Videokanal vor allem durch Werbeeinnahmen und | |
| Sponsoring. Seit einem Jahr ist Boiler Room offizieller Partnerkanal von | |
| YouTube und hat damit das erreicht, was bisher nur den wenigsten | |
| Onlinemusikformaten gelingt: eine kommerzielle Refinanzierung von | |
| Undergroundmusik. | |
| ## Wacher Unternehmergeist | |
| Für Boiler-Room-CEO Blaise Bellville, der eine große Musikleidenschaft mit | |
| einem wachen Unternehmergeist in Personalunion vereint, ist das kein | |
| Widerspruch. Bellville, der mit 18 Jahren die Schule abgebrochen hat und | |
| heute, mit Ende 20, als einer der erfolgreichsten Jungunternehmer | |
| Großbritanniens gilt, führt den Erfolg von Boiler Room auf den kulturellen | |
| Idealismus zurück. Dieser sei gerade heute, wo „alle nur mit cheesiger | |
| Popmusik Geld machen wollen“, sehr selten, sagte er vor Kurzem in einem | |
| Interview – und bringt damit das Alleinstellungsmerkmal auf den Punkt. | |
| So ist abstrakter Techno, brachiale Noisemusik oder apokalyptischer Dubstep | |
| genauso willkommen wie etwa Gabba, einem in seiner Radikalität ziemlich | |
| unhippen Techno-Subgenre, dem man erst vor Kurzem eine Session widmete. | |
| Eine Vielfalt, die auf viele offene Ohren trifft, wie Boiler-Room-Kurator | |
| Gabriel Szatan zuletzt der englischen Tageszeitung The Guardian mitteilte: | |
| „Es ist kein Wunder, dass so viele die Videos anschauen, denn ich empfinde | |
| die junge Generation als sehr offen und neugierig.“ | |
| Das alleine erklärt noch längst nicht die Popularität. Arbeitet man sich | |
| durch das mittlerweile sehr umfangreiche Boiler-Room-Videoarchiv, wird | |
| deutlich: Der Reiz, vom Schreibtisch aus an einer Undergroundparty | |
| teilzunehmen, ist nicht nur Ausdruck kultureller, sondern vor allem | |
| voyeuristischer Bedürfnisse. | |
| ## Hedonisten und Voyeure | |
| Gelten doch Clubs seit jeher als geschützter Raum und stehen als Orte der | |
| temporären Überschreitung für nichts weniger als für eine hedonistischere, | |
| freiere, wenn nicht bessere Welt. Indem Boiler Room diese verborgenen | |
| Wirklichkeiten offenbart, wird der Club an sich nicht nur entmystifiziert, | |
| sondern spricht auch eine zentrale kulturelle Medienfigur des 21. | |
| Jahrhunderts an. | |
| Der Boiler-Room-Voyeur bleibt jedoch nie ganz anonym, kann er doch stets | |
| per Livechat kommentierend in das Geschehen eingreifen. Das berühmte | |
| Warhol-Zitat mit den 15 Minuten Ruhm für jedermann ist heute ein allzu oft | |
| angeführtes Beispiel für kulturpessimistische Anti-Social-Media-Polemiken. | |
| Nirgendwo scheint es besser zu passen als hier. So zeigt sich beim | |
| Boiler-Room-Zielgruppen-Publikum sowohl das Bedürfnis nach Sichtbarkeit als | |
| auch nach Exklusivität. Denn Einlass gibt es nur mit Gästelistenplatz. | |
| Auch das ist der Grund für die oft zu beobachtende domestizierte Ekstase, | |
| ein allzu ausgelassenes Tanzen würde das sorgfältig gepflegte Image | |
| gefährden. Ein Phänomen, das unter Chatbesuchern immer wieder für Empörung | |
| sorgt: „Die Musik ist ok, aber das steife Publikum ist einfach lächerlich“, | |
| wird dann gechattet, oder „Ja, da ist es noch cool das Hipstertum, so | |
| erfrischend unpolitisch und soft-hedonistisch.“ | |
| Das ist berechtigte Kritik. Auch, weil die gelegentlich elitär wirkenden | |
| Veranstaltungen der Ursprungsidee vom Club als egalitären Raum | |
| zuwiderlaufen. Apropos Kritik: Seitdem Boiler Room verstärkt auf Sponsoring | |
| durch Lifestyleprodukte setzt, die den TV-Kanal als Signet eines | |
| subkulturellen Lebensgefühls instrumentalisieren, wittern Kritiker den | |
| kommerziellen Ausverkauf. | |
| ## Die Sessions sind wie Scripted Reality | |
| Doch auch das ist kein Grund zum Kulturpessimismus. Nicht nur weil er in | |
| einer Zeit, in welcher die sogenannte Kulturindustrie jede neue Subkultur | |
| schneller als je zuvor verspeist und in Form appetitlicher Häppchen | |
| wiederkäut, ohnehin vergeblich wäre. Sondern auch, weil das Phänomen Boiler | |
| Room nicht an den Kriterien einer vermeintlichen Authentizität gemessen | |
| werden sollte. | |
| Denn die Sessions sind wie kurze Scripted-Reality-Filme, die trotzdem nicht | |
| nur fremde Welten und Lebensstile, sondern auch unterschiedliche | |
| Rezeptionsweisen sichtbar machen. Während so mancher exklusiver | |
| Labelshowcase nicht selten von unterkühlten Herumstehern bevölkert wird, | |
| sind etwa die Partys des Labels Night Slugs mit Künstlern wie DJ Bok Bok | |
| oder Jam City das perfekte Gegenbeispiel: Dort ist stets ein wild durch den | |
| Raum springender Mob zu sehen, der unablässig „Rewinds“ einfordert. Eine | |
| Praxis, die in den siebziger Jahren auf jamaikanischen Reggae- und | |
| Dubpartys üblich wurde und den DJ auffordert, den Track nochmal von vorne | |
| abzuspielen. | |
| Das Ritual zeigt auch, wie eng die aktuelle britische Clubkultur in der | |
| Tradition der seit den späten 1970er Jahren von jamaikanischen Zuwanderern | |
| betriebenen Soundsystems verankert ist. Boiler Room erfüllt damit auch | |
| einen Bildungsauftrag. Dem oft allzu lethargischen Berliner Technopublikum | |
| könnten solche Videos jedenfalls eine Lehre sein. Der wohl am meisten | |
| unterschätzte Nebeneffekt der Sessions liegt in der sozialen | |
| Vergemeinschaftung. | |
| Die Chatfunktion etwa, sie baut eine Brücke zwischen lokalen Musikszenen | |
| und einer globalen Internetgemeinschaft. Indem man den Hedonismus, wenn er | |
| denn zugelassen wird, direkt ins Gesicht schaut, werden Werte | |
| transportiert, die seit jeher mit Clubmusik einhergehen, nämlich | |
| Gleichberechtigung, Respekt und vor allem ein friedliches Miteinander. Wen | |
| das nicht interessiert, kann sich zumindest abschauen, wie man am coolsten | |
| in der Postschlange herumsteht. | |
| 7 Dec 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://boilerroom.tv/ | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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