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# taz.de -- Dub-Techno von Andy Stott: Vertrauen ins Fremde
> Dunkel, cineastisch, wuchtig: Die Klangwelt des nordenglischen
> Produzenten Andy Stott auf seinem neuen Album „Faith in Strangers“.
Bild: Hart, aber herzlich: Andy Stott
Jede Gegenwart benötigt ihre eigene Musik. Eine Musik, die in der Lage ist,
Leiden und Freude, Zweifel und Hoffnung angemessen zum Ausdruck zu bringen.
Besonders elektronische Musik kann eine Welt, in der Software-Updates die
Jahreszeiten zunehmend ab- und die sozialen Medien zwischenmenschliche
Verbindlichkeiten auflösen, reflektieren. Indem sie die geschlossene
Erzählung vermeidet und meistens aus vielen unterschiedlichen
Klangschnipseln besteht, fängt sie die flüchtigen Stimmungen der
fragmentierten Wahrnehmung gut ein.
Besonders wenn diese Klänge keine Entsprechung in der realen Welt haben –
und dennoch so klingen, als führten sie ein eigenständiges Leben. Genau
dort, irgendwo zwischen den angestaubten Platinen ihrer Klangerzeuger und
der realen, von Elektrosmog vernebelten Luft, befindet sich die Musik des
britischen Dub-Techno-Produzenten Andy Stott. „Faith in Strangers“ heißt
sein aktuelles Album.
Ein Titel, der in Zeiten von Pegida und Co auch eine politische
Dringlichkeit hat und der wie eine Aufforderung daherkommt, dem Unbekannten
mehr Vertrauen zu schenken. Denn die neun Tracks zwischen verzerrtem
Dub-Techno, zähflüssigem Drone, abstraktem Grime und rauem
Industrial-Sound, erzählen genau davon: vom Betreten unbekannter Terrains,
vom Aufeinandertreffen fremder Sphären, der Begegnung zwischen dem
Unheimlichen und Vertrauten, dem Schönen und Hässlichen sowie dem
Elektronischen und Akustischen.
Damit knüpft Stott konsequent an seinen seit dem 2012 veröffentlichten
dritten Album „Luxury Problems“ zum Trademark gewordenen Sound an. Der
erste Track, das cineastische „Time Away“, ist ein passender Einstieg.
Stotts schöne neue Klangwelt beginnt mit leisem Surren, gefolgt von sich
langsam aufeinander schichtenden Tönen, die nicht vom Synthesizer, sondern
von einem Euphonium stammen, einem Tuba-ähnlichen Blechblasinstrument, das
von der britischen Orchestermusikerin Kim Holly Thorpe eingespielt wurde.
Später ist immer wieder der Gesang der Opernsängerin Alison Skidmore zu
hören, mit der Stott seit dem Vorgängeralbum zusammenarbeitet. Nun ist ihre
Stimme ein noch stärkerer Kontrapunkt zum weitgehend atonalen Sounddesign –
und wirkt damit wie ein Farbspritzer auf einem monochromen Gemälde. Wie
etwa im schizophrenen „Violence“ mit dem Wechselspiel zwischen Skidmores
heller Stimme und dem kaputten, an einen radikal verlangsamten Jungle-Track
erinnernden Beat, der klingt, als wäre er durch einen defekten
Gitarrenverzerrer geschickt worden.
## Zwischen Harmonie und Zerstörung
Stotts zentrales Kompositionsprinzip besteht aus einer Art
Call-and-Response-Verfahren zwischen Harmonie und Zerstörung –
perfektioniert in „No Surrender“, in dem eine elegische Orgelmelodie von
einem kurzen Moment der Stille unterbrochen wird, bevor ein feindseliger,
wenn auch tanzbarer Breakbeat einsetzt.
Auf „Faith in Strangers“ klingt das Natürliche künstlich, das Unheimliche
vertraut und das Raue weich. Das hat womöglich auch biografische Gründe.
Bevor sich Stott vollends der Musik widmete, arbeitete er in einer
Autofabrik bei Manchester. Die dortige akustische Umgebung, das Rauschen,
Rattern und Kratzen der Fließbänder, war für ihn stets ästhetisches
Material, das er mit seinem Handy aufnahm – als akustische Realitätsfetzen
für seine düstere Musik.
Diese mag inzwischen zwar etwas heller sein, doch mehr Licht produziert
auch mehr Schatten. Und mit der Versöhnung der beiden Pole, den
unterkühlten, atonalen Maschinensounds einerseits und den akustischen
Klängen andererseits, entsteht ein faszinierender Zwischenraum. Wenn sich
dann, wie gerade jetzt in diesem Moment des Schreibens dieser Zeilen, eine
vorbeiziehende Polizeisirene hineinschleicht, zerfließen die Grenzen
zwischen physischer und digitaler Wirklichkeit. Ein Anzeichen dafür, dass
Clubmusik inzwischen nicht mehr nur glückselige Flucht ist, sondern auch
eine Konfrontation mit dem hybriden Selbst.
24 Mar 2015
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Synthiepop
DJ
House
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