# taz.de -- Streit über Altersbestimmung: Zu tiefe Falten für die Jugendhilfe | |
> Sozialarbeiter und Ärzte schätzen das Alter unbegleiteter Flüchtlinge und | |
> entscheiden damit auch über Abschiebungen. Aber sicher ist ihre Methode | |
> nicht. | |
Bild: Schon 18 oder noch minderjährig? Im Zweifel wird es per Röntgenbild ent… | |
Starker Bartwuchs, tiefe Stirnfalten oder ein postpubertärer Körperbau sind | |
Merkmale, die jungen Flüchtlingen die Zukunft verbauen können. Wenn sie | |
keinen Pass haben, wird ihr Alter von Behördenmitarbeitern geschätzt. | |
Gelten sie als über 18-jährig, kommen sie in eine Unterkunft für | |
Erwachsene. Minderjährige werden von der Jugendhilfe betreut, dürfen zur | |
Schule gehen und sind vor Abschiebung geschützt. | |
„Dieses Vorgehen provoziert Fehleinschätzungen“, kritisiert Sabine Kümmer… | |
vom Alternativen Wohlfahrtsverband Soal. Eine Altersschätzung sei gerade | |
bei Menschen schwierig, die eine lange Flucht hinter sich hätten. „Das | |
zeichnet sich in den Gesichtern ab“, sagt sie. Wichtiger als die Frage, ob | |
die Flüchtlinge über oder unter 18 Jahre alt seien, sollte ihr Hilfebedarf | |
sein. | |
In Hamburg werden Flüchtlinge, die angeben, minderjährig zu sein, an den | |
Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) der Sozialbehörde überwiesen. Dort | |
entscheiden zwei Sozialpädagogen oder ein Sozialpädagoge gemeinsam mit | |
einer „in der Sache kundigen Verwaltungskraft“, wie es heißt, nach einem | |
Gespräch über den Status des Flüchtlings. Dabei geht es um die | |
Lebensgeschichte – aber auch um die äußere Erscheinung. Pässe oder | |
Geburtsurkunden werden laut einem Bericht des Landesbetriebs Erziehung und | |
Beratung (LEB) berücksichtigt. | |
„Es ist sehr problematisch, dass der Träger, der das Alter der Jugendlichen | |
schätzt, derselbe ist, der sie danach aufnimmt“, sagt Conni Gunßer vom | |
Flüchtlingsrat Hamburg. Gerade weil die Plätze des KJND dauerhaft | |
überbelegt seien, könne es sein, dass die Mitarbeiter sich unter Druck | |
fühlten und zum Nachteil der jugendlichen Flüchtlinge. entschieden. | |
„Eigentlich müsste das eine unabhängige Stelle übernehmen“, so Gunßer. | |
Zudem werde die Einschätzung der Sozialarbeiter nicht noch einmal | |
überprüft, sagt Anne Harms von der kirchlichen Hilfestelle Fluchtpunkt. | |
„Und niemand weiß, wie viele Minderjährige abgelehnt wurden.“ Das System | |
sei darauf angelegt, möglichst wenige Minderjährige aufzunehmen. | |
Diesen Vorwurf weist der Sprecher der Sozialbehörde, Marcel Schweitzer, | |
zurück. „Uns liegen keine Anhaltspunkte vor, dass Mitarbeiter das Alter von | |
Jugendlichen bewusst zu hoch einschätzen.“ Es werde im Gegenteil | |
grundsätzlich das niedrigst mögliche Alter angenommen. Zudem schicke die | |
Behörde die Flüchtlinge bei Zweifeln zur Untersuchung ins | |
Rechtsmedizinische Institut des Uniklinikums Eppendorf (UKE). Dort werden | |
die Zähne, die körperlichen Reifezeichen und in manchen Fällen die Hand- | |
oder Schlüsselbeinknochen der Jugendlichen untersucht. „Aber auf einem | |
Röntgenbild steht kein Geburtsdatum“, sagt Harms, „die Ärzte können auch | |
nur schätzen.“ | |
Die Kritik unterstützt der ehemalige Leiter der Kinderklinik im | |
nordrhein-westfälischen Herford, Winfried Eisenberg. Der 77-Jährige | |
engagiert sich gegen die medizinischen Altersschätzungen von Flüchtlingen. | |
„Wir sollten junge Menschen nicht mit einer Untersuchung belasten, die das | |
Ergebnis auch nicht genauer macht“, sagt Eisenberg. Das Röntgen zur | |
Feststellung des Alters hält der Kinderarzt gar für Körperverletzung, da | |
die Strahlenbelastung keinen gesundheitlichen Nutzen für die Jugendlichen | |
habe – krank seien sie ja nicht. Die Untersuchung der äußeren | |
Geschlechtsmerkmale werde von vielen Betroffenen als entwürdigend | |
empfunden. Außerdem betrage „die biologische Schwankungsbreite“ der | |
Untersuchungen zwei bis drei Jahre. „Man ist danach so schlau wie zuvor“, | |
sagt Eisenberg. | |
„Wir arbeiten nach internationalen Leitlinien“, sagt Klaus Püschel, der | |
Leiter des Instituts für Rechtsmedizin des UKE. Das exakte Alter könne zwar | |
nicht bestimmt werden, aber eine Annäherung nach wissenschaftlichen | |
Standards sei möglich. Dabei werde auch die biologische Varianz von rund | |
zwei Jahren berücksichtigt. „Wir geben das Mindestalter an“, erläutert | |
Püschel. Dies setze sich aus dem diagnostizierten Alter minus zwei Jahre | |
zusammen. Ein auf 19 Jahre geschätzter Flüchtling wäre somit mindestens 17 | |
Jahre alt. Die Röntgenuntersuchungen stünden zudem auf einer eindeutigen | |
gesetzlichen Grundlage. „Sie dienen der Allgemeinheit“, sagt Püschel, der | |
die Kritik an den Untersuchungen nicht nachvollziehen kann. „Wir wollen | |
niemanden ausgrenzen, sondern die Basis für eine angemessene Behandlung | |
dieser Personen schaffen.“ | |
Die Behörden überschätzten die ärztlichen Fähigkeiten, sagt Eisenberg. | |
Erfolgversprechender sei eine ganzheitliche Herangehensweise. Ein | |
Kinderarzt, ein Kinderpsychologe und ein Sozialarbeiter könnten gemeinsam | |
die psychische, soziale und äußerlich sichtbare körperliche Reife des | |
Jugendlichen einschätzen. „Damit kommt man dem Alter näher“, so Eisenberg, | |
„aber es braucht eben mehr Zeit.“ | |
1 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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