| # taz.de -- Neue Regierung in Griechenland: Warum hat Syriza keinen Kredit? | |
| > Die Tsipras-Regierung hat sich vom Klientelsystem ihrer Vorgänger | |
| > verabschiedet. Dennoch wendet man sich in Deutschland von ihr ab. | |
| Bild: Traum oder Albtraum? Der neue griechische Ministerpräsident Alexis Tsipr… | |
| Die letzten Jahre habe ich damit verbracht, mich bei den wohlwollenden | |
| Griechenverstehern unbeliebt zu machen. Ich hielt es für infantil, Angela | |
| Merkel zur Verkörperung allen Übels zu erklären; infantil in dem Sinne, | |
| alle Verantwortung für das eigene Tun zu leugnen. Meiner Meinung nach hatte | |
| die griechische Regierung nicht durch Zufall einen absurd hohen | |
| Schuldenberg angehäuft. Und auch die „einfachen Griechen“ waren durch ihre | |
| Beteiligung am Klientelsystem und ihr teilweise groteskes Konsum-Geprasse | |
| nicht unschuldig an der eigenen Lage. | |
| Da ich mich also weigerte, mit den anderen ins antineoliberale | |
| Tränenkrüglein zu heulen, wurden mir von „griechischem Selbsthass“ bis hin | |
| zu „migrantischer Kleinbürgerattitüde“ so ziemlich alle Unterstellungen | |
| gemacht, die ich ansonsten als versteckte Diskriminierung analysiere. | |
| Nun hat die linke Syriza, die ich auch oft kritisiert habe, in Athen die | |
| Wahl gewonnen. Das fand ich gut. Gut schon allein deswegen, weil die alte | |
| Riege der Papandreous, Venizelos, Samaras dieser Welt aus dem Rennen ist. | |
| Eigentlich sollten die hiesigen Griechenversteher auch zufrieden sein. Aber | |
| im Gegenteil, sie runzeln die Stirn und sind ganz und gar nicht glücklich: | |
| also der Koalitionspartner, iiiiih, wie kann man nur mit solchen | |
| Nationalisten, Antisemiten, Schwulenhassern der schlimmsten Art | |
| zusammengehen – das sagen Leute, die vor zwei Wochen noch nicht einmal von | |
| der Existenz des Anel-Chefs Panos Kammenos wussten, jetzt aber über jede | |
| seiner Verfehlungen exakt informiert sein wollen. | |
| ## Frauen im Kabinett | |
| Als sich die neue Regierung beschwerte, sie sei über die Verlängerung der | |
| Sanktionen gegen Russland nicht informiert worden – eine Kritik am | |
| Prozedere, mit der Athen klarmachte, dass Griechenland trotz Schulden eine | |
| Stimme in der EU hat –, äußerten Bekannte den Verdacht, Syriza würde sich | |
| in Richtung Moskau orientieren. Und dann ging es um die fehlenden Frauen. | |
| Auch Klaus Walter schreibt [1][in einem Artikel in der taz vom 5. Februar] | |
| von der „Abwesenheit von Frauen im neuen Kabinett“. Richtig ist: Es gibt | |
| keine Ministerin. Das Kabinett aber besteht mit den im griechischen System | |
| wichtigen Stellvertreterposten aus 41 Personen, wovon 6 Frauen sind. Das | |
| sind zweifellos wenige, aber eine Diskussion dieser Zahlen ergibt nur Sinn, | |
| wenn man sie in einen Kontext stellt. Im 2012 vorgestellten Kabinett von | |
| Antonis Samaras gab es zwar eine Ministerin, für Tourismus, aber ansonsten | |
| überhaupt keine Frauen. Darum lässt sich die Zusammensetzung des neuen | |
| Kabinetts kaum als „symbolpolitischer Schachzug“ einer „virilen Regierung… | |
| interpretieren, wie Klaus Walter das tut. | |
| Als Schachzug zumal gegenüber Angela Merkel, die von Walter als Vertreterin | |
| europäischer Geschlechterquoten vorgestellt wird – und nicht etwa als | |
| Bundeskanzlerin eines hoch entwickelten Landes, in dem die Einkommen | |
| zwischen den Geschlechtern im europäischen Vergleich sehr weit | |
| auseinanderklaffen, das sich gegen eine Antidiskriminierungsgesetzgebung | |
| gewehrt hat und immer noch gegen Quoten wehrt. Als weiterer „Beweis“ für | |
| die virile Inszenierung des neuen Ministerpräsidenten dient dann das Cover | |
| des Spiegels („Europas Albtraum“), so, als hätte Tsipras es selbst so | |
| geordert. Und von da aus führt der Weg über Maskulinitätsmythen im | |
| Dancehall-Reggae in einer abenteuerlichen Argumentation direkt zu Wladimir | |
| Putin. | |
| Warum hat die Regierung Tsipras – symbolisch gesehen – keinen Kredit? | |
| Griechenland braucht Reformen. Und die alte politische Klasse hat zuletzt | |
| gezeigt, dass sie zwar den Vorgaben der „Troika“ folgt, dabei aber weiter | |
| die eigene Klientel in Verwaltung und Wirtschaft bedient. Sie setzte die | |
| Sparprogramme tatsächlich auf Kosten der einfachen Bevölkerung durch, deren | |
| Leiden ihnen völlig gleichgültig sind: Britische Forscher konnten jüngst | |
| belegen, dass die Kindersterblichkeit in Griechenland zwischen 2008 und | |
| 2012 um 43 Prozent gestiegen ist. | |
| Die Ideologen des Internationalen Währungsfonds haben sich in vielen | |
| Ländern als inkompetent, verbohrt oder schlicht gemeingefährlich erwiesen. | |
| Und heute stehen jene Länder besser da, die sich nicht an die Empfehlungen | |
| gehalten haben, etwa Island. Insofern kann nichts falsch daran sein, wenn | |
| Finanzminister Janis Varoufakis neu verhandeln will. Ein anerkannter | |
| Wirtschaftswissenschaftler mit einem Job in den USA, kein einheimisches | |
| Gewächs der Administration, der angesichts der endemischen Korruption | |
| geradezu revolutionär wirkt, wenn er in der Economy Class durch Europa | |
| fliegt, um für seine Pläne zu werben. | |
| ## Modernisierungsmodell am Ende | |
| Noch ein Wort zur Krise an den Rändern Europas. Mit der Finanzkrise ist ein | |
| ganzes Modernisierungsmodell an sein bitteres Ende gekommen. Im Grunde war | |
| die Strategie einer Entwicklung durch Industrialisierung im Süden Europas | |
| in den 1970er Jahren gescheitert. Seitdem sorgen die Regierungen dafür, | |
| dass Geld zum Konsum in die Gesellschaft gepumpt wird. Das taten sie vor | |
| allem durch drei Maßnahmen: die Ausweitung des staatlichen Arbeitsmarktes | |
| durch die Aufblähung der Verwaltung, frühe und vergleichsweise üppige | |
| Pensionierungen und die Inanspruchnahme von Subventionen durch die EU. | |
| Diese Vorgehensweise hat zu einer paradoxen Modernisierung ohne Entwicklung | |
| geführt, weil konsumiert wurde, ohne tatsächlich eine tragfähige | |
| wirtschaftliche Substanz aufzubauen. Mitte der 2000er Jahre war Athen | |
| folgerichtig eine der teuersten Städte Europas. | |
| Gestützt wurde dieses „Modell“ von einer historisch geprägten Mentalität, | |
| in der Eigentum mehr zählt als Arbeit. In Griechenland glauben viele nicht | |
| daran, dass man es mit Arbeit tatsächlich zu etwas bringen kann, und man | |
| bewundert Leute, die Vermögen besitzen, ohne dafür gearbeitet zu haben. | |
| Erst bei den Jüngeren haben sich diese Auffassungen verändert. Aber es sind | |
| auch diese jüngeren Leute, die vor den verschlossenen Türen eines | |
| klientelistischen Senioritätsclubs stehen. Sie sind aber diejenigen, die | |
| eine reale Entwicklung anstoßen könnten – eine Entwicklung, die in | |
| Griechenland auch möglich ist, weil Erfolg heute viel mehr auf Wissen | |
| beruht als auf Maschinen. | |
| ## Deutschland profitierte | |
| Gestützt wurde das beschriebene „Modell“ auch durch die europäischen | |
| Partner. Deutschland hatte keine Einwände gegen die konsumistische | |
| Modernisierung, denn Deutschland hat als Exporteur davon profitiert. Es | |
| erscheint mir daher geradezu widerlich, wenn der ehemalige Finanzminister | |
| Steinbrück sagt, die neue griechische Regierung müsse sich | |
| „mitteleuropäischen Umgangsformen“ anpassen. Die Situation der letzten | |
| Jahre hat Griechenland nicht nur ökonomisch erwürgt, sondern auch mental | |
| zugrunde gerichtet. | |
| Im Süden Europas hatten die Menschen gegenüber dem Westen immer ein Gefühl | |
| von Minderwertigkeit. Zuletzt galten die Griechen als „orientalisch“ mit | |
| den entsprechenden Konnotationen. Die Depression war total, zumal es Mitte | |
| der 1990er Jahre, in der Folge von Olympia und Europameisterschaft, nach | |
| einer Aufnahme in den europäischen Club ausgesehen hatte. | |
| Die neue Regierung ist da ein Hoffnungsschimmer. Diese Leute sind in erster | |
| Linie nicht korrupt, sie sind ernsthafte Europäer. Es geht hier gar nicht | |
| so sehr um links oder rechts, sondern um die Möglichkeit der Veränderung. | |
| Auf die alten Kräfte zu bauen würde bedeuten, die Korruption zu | |
| unterstützen, wie die EU es lange getan hat. | |
| Syriza braucht also einen symbolischen Kredit für das nächste halbe Jahr. | |
| Und bis dahin gilt: Wenn man nichts von Griechenland versteht, schadet es | |
| nicht, einfach den Mund zu halten. | |
| 8 Feb 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-dem-Syriza-Sieg-in-Griechenland/!154100/ | |
| ## AUTOREN | |
| Mark Terkessidis | |
| ## TAGS | |
| Deutschland | |
| Schwerpunkt Finanzkrise | |
| Syriza | |
| Alexis Tsipras | |
| Griechenland | |
| Alexis Tsipras | |
| Staatspräsident | |
| Parlament | |
| ANEL | |
| Griechenland | |
| IWF | |
| Troika | |
| Staatssender ERT | |
| Syriza | |
| Griechenland | |
| Mario Draghi | |
| Wladimir Putin | |
| Troika | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Griechenlands Ministerpräsident bei Putin: Kein Geld, aber warme Worte | |
| Bei Tsipras' Moskau-Besuch betonen beide Seiten die Gemeinsamkeiten. | |
| Politische und wirtschaftliche Folgen bleiben unkonkret. | |
| Kommentar Griechenlands Präsident: Aus dem Zylinder gezaubert | |
| Der Verwaltungsjurist Pavlopoulos wird Präsident: Mit einer überraschenden | |
| Personalie stellt Tsipras den linken Flügel seiner Partei Syriza zufrieden. | |
| Kommentar Vertrauensvotum für Tsipras: Kühlen Kopf bewahren | |
| Griechenlands Premierminister hat die Abstimmung im Parlament gewonnen. | |
| Seine Regierung kämpft an vielen Fronten. Vielleicht an zu vielen. | |
| Tsipras gewinnt Vertrauensabstimmung: Punktlandung in Athen | |
| Der griechische Ministerpräsident wurde im Parlament bestätigt. Alle | |
| Abgeordneten der Koalition zwischen Syriza und Anel stimmen für ihn. | |
| Griechenlands Finanzpolitik: Großer Showdown in Brüssel | |
| Janis Varoufakis stellt heute der EU sein Konzept für die | |
| Schuldenbewältigung vor. Er soll an einem 10-Punkte-Plan arbeiten, der 70 | |
| Prozent der Auflagen akzeptiert. | |
| Finanzkrise in Griechenland: Des Tsipras’ neue Pläne | |
| Die griechische Regierung geht mit harten Forderungen in das Treffen mit | |
| den Finanzministern der Eurozone: keine Kontrolle, kaum Auflagen und mehr | |
| Geld. | |
| Griechischer Minister zu Steuerfahndung: „Es mangelt an Leuten“ | |
| Panagiotis Nikoloudis ist Griechenlands Minister für den Kampf gegen | |
| Steuerhinterziehung. Er will sich auf Vermögen von mehr als 200.000 Euro | |
| konzentrieren. | |
| Kommentar Griechenland: Tränen und die Tücken der Realpolitik | |
| Wie wird Alexis Tsipras gegenüber der EU agieren? Die Rede des Syriza-Chefs | |
| brachte keine Klarheit. Stattdessen: viel Pathos für die Parteibasis. | |
| Grunsatzrede des griechischen Premiers: Tsipras will Wunden heilen | |
| Bei der Ansprache vor dem griechischen Parlament zeigt sich der neue | |
| Regierungschef Alexis Tsipras optimistisch. Eine Lösung der Schuldenkrise | |
| mit der EU sei möglich. | |
| Schäuble trifft griechischen Minister: In Uneinigkeit vereint | |
| Die Finanzminister Varoufakis und Schäuble geben sich diplomatisch. Den | |
| Forderungen aus Athen nachzugeben kommt für Schäuble aber nicht infrage. | |
| Schuldenkrise in Griechenland: EZB erhöht Druck | |
| Griechischen Banken wird der Zugang zu billigen Krediten erschwert. Die | |
| Regierung in Athen wertet das als Erpressungsversuch. | |
| Nach dem Syriza-Sieg in Griechenland: Die virile Regierung | |
| Das griechische Männerkabinett, die Rückkehr der Putzfrauen und die | |
| Annäherung an russische Antifeministen sind ein grober Fehler in der | |
| Symbolpolitik. | |
| Griechische Finanz-Diplomatie: Tsipras’ Roadshow | |
| Er kommt, lächelt, spricht und rast weiter: Wie Alexis Tsipras in Europa | |
| für sein neues Griechenland wirbt. |