# taz.de -- Kein Frieden in der Ostukraine: Zerschossene Hoffnungen | |
> Wie brüchig der Waffenstillstand von Minsk ist, zeigt sich bei einer | |
> Fahrt nach Debalzewe. Hier könnte der Friedensprozess bald scheitern. | |
Bild: Dienstag am Rande von Debalzewe: eine brennende Gasleitung. | |
KLYNOWE/SWITLODARSK/ARTEMIWSK taz | Nikolai besitzt ein großes Stück Land, | |
wo er Weizen anbaut, außerdem hat er Schweine und Hühner. In der Nacht ist | |
in Minsk ein Friedensabkommen unterzeichnet worden, aber der Farmer aus dem | |
Dorf Klynowe, 30 Kilometer nordwestlich von Debalzewe, sieht wenig Anlass | |
für Hoffnung. „Waffenruhe sagt ihr? Und warum haben dann die Militärs heute | |
früh drei Haubitzen angekarrt und 500 Meter von hier auf meinem Feld | |
aufgestellt?“ Ein großer schwarzer Hund, den er Baron nennt, läuft auf ihn | |
zu und reibt sich an Nikolais Beinen. | |
Der Farmer schaut zu seinem Haus und setzt mit ruhiger Stimme fort: „Baron | |
täuscht sich nie.“ Fünf Minuten vor dem Beschuss renne er immer zu ihnen, | |
um sie zu warnen. Nur keine Panik, soll das heißen. Wenn sie Feuer sehen, | |
folgt in ein paar Sekunden dann der Donner, also habt ihr noch genug Zeit, | |
euch zu verstecken. Sie seien mittlerweile daran gewohnt. Nur die | |
Detonationswelle mache ihnen ein bisschen zu schaffen, räumt Nikolai ein. | |
Ansonsten sei alles im grünen Bereich. „Ach ja, natürlich finden wir auf | |
dem Feld oft Granaten, die nicht explodiert sind“, fügt er an. Zum Glück | |
habe es das Haus bis jetzt nie erwischt. Deswegen arbeiten sie hier auch | |
unter Beschuss weiter. „Also, ich traue keiner Waffenruhe, es fliegt hier | |
ständig etwas durch die Luft, hin und her.“ | |
Wir fahren aus dem Dorf hinaus auf die Landstraße von Artemiwsk nach | |
Debalzewe, die gerade hart umkämpft wird. Debalzewe war in den vergangenen | |
Tagen selbst für Krankenwagen und humanitäre Transporte gesperrt. Es ist | |
daher schwer herauszubekommen, was genau in der Stadt vor sich geht und wer | |
sie kontrolliert – prorussischen Separatisten oder die ukrainische Armee? | |
Das Einzige, was sicher ist – dort verstecken sich seit Tagen viele | |
Einwohner in Kellern, ohne Wasser und Lebensmittel und unter ständigem | |
Beschuss. Die Straße selbst säumen mehrere ukrainische Kontrollposten. Bei | |
einem erkundigen wir uns über die Lage. | |
Igor kommt aus Charkiw, er ist seit Monaten an der Frontlinie. | |
„Entschuldigen Sie, aber wir können Sie nicht nach Debalzewe durchlassen. | |
Es ist derzeit viel zu gefährlich, die Straße wird von allen Seiten | |
beschossen. Besser ist es, Sie kommen am 15. Februar wieder, dann gilt der | |
Waffenstillstand und dann können Sie passieren!“ entschuldigt sich Igor. | |
„Ob ich an einen Waffenstillstand glaube, fragen Sie? Das würde ich sehr | |
gern, aber ich weiß, dass es ihn nicht geben wird.“ | |
## Wer, wenn nicht Dima? | |
Am nächsten Tag versuchen wir es erneut nach Debalzewe zu gelangen. Die | |
Soldaten am Posten erkennen uns. Sie scheinen sich sogar zu freuen, | |
bekannte Gesichter zu sehen. Einer von ihnen heißt Dima, er ist 45 Jahre | |
alt. Dima erzählt, dass er aus Donezk stammt. Er hat sich sofort fürs | |
Militär gemeldet. Denn wer wenn nicht er solle die Heimat verteidigen, | |
fragt er. Eigentlich sei er ja ein Unternehmer, sagt er. Seine Augen | |
strahlen vor Freude, als er davon erzählt. Stolz zeigt er uns seinen | |
Verschlag und bittet fast schüchtern, ein Foto als Andenken zu knipsen. | |
Danach erlaubt uns Dima wenigstens, nach Switlodarsk weiterzufahren. | |
Als wir in die Stadt hineinfahren, die nur noch 13 Kilometer von Debalzewe | |
entfernt ist, wird uns klar, dass am nächsten Tag ganz gewiss keine | |
Waffenruhe beginnen wird. Denn seit gestern wird die Stadt mit doppelter | |
Wucht bombardiert. Die menschenleeren Straßen scheinen wie im Nebel | |
versunken. In einem solch dicken Rauch donnert die Artillerie noch | |
schrecklicher als sonst. | |
Im Rauch taucht plötzlich ein zweistöckiges Gebäude auf, mit toten Fenstern | |
und vom Artilleriebeschuss regelrecht gerupft. Ein Blick durch ein Fenster | |
verrät, dass es ein Krankenhaus ist. Wir gehen hinein. Am Ende des | |
stockdunklen Flurs können wir eine zierliche Frau im weißen Kittel | |
ausmachen. Walentina ist eine der wenigen Ärzte, die noch geblieben sind. | |
Sie erzählt, dass durch Raketenbeschuss vorige Woche ein Arzt getötet | |
wurde. Der OP-Raum sei völlig zerstört und sämtliche Scheiben seien | |
geborsten. Im Krankenhaus kann jetzt nur noch Erste Hilfe geleistet werden, | |
bestenfalls. | |
## Rauch und Geschützdonner | |
Im Vorbeigehen blicken wir in ein Krankenzimmer. Zwei sorgfältig gemachte | |
Betten scheinen auf Patienten zu warten. Doch in nächster Zeit wird | |
sicherlich keiner mehr eingeliefert werden. Das Krankenhaus ist viel zu | |
kaputt. Die Ärztin empfiehlt uns noch, zwei Straßen weiter zu fahren, damit | |
wir uns ein Bild machen können von den Zerstörungen des gestrigen | |
Beschusses. Doch offen gesagt, werden wir langsam nervös. Wir jagen unser | |
Auto durch die leeren Straßen von Switlodarsk. In den Rauchwolken wird der | |
Geschützdonner so gewaltig, dass wir uns mitten in einer Artilleriebatterie | |
wähnen. Wir suchen Schutz in einem Hof. Vor uns erheben sich zwei | |
Vierzehngeschosser. Noch gestern haben darin Menschen gelebt. Heute hocken | |
sie in Kellern des Nachbarhauses. Eine Granate hat ihre Wohnungen | |
getroffen. Auch ein Kindergarten wurde beschädigt sowie weitere Wohnhäuser. | |
Wir steigen in den Keller, wo es vollkommen finster und kalt ist. Das | |
Weinen eines Kindes ist zu hören, irgendwo flackert ein Licht. „Hauen Sie | |
ab! Warum sind Sie gekommen? Sie verbreiten doch sowieso nur Lügen über | |
uns!“, herrscht uns eine Stimme an. „Das Geschützfeuer ist leiser geworden, | |
weil Sie jetzt gekommen sind. Aber bald könnte es wieder stärker werden, um | |
dann auch noch unseren Keller zu zerstören. Verschwinden Sie!“, wiederholt | |
die Stimme. Trotzdem versuchen wir, mit den Menschen hier zu sprechen. | |
Außer einem großen Raum gibt es in dem Labyrinth noch einige kleinere | |
Räume, in denen Mütter mit ihren kleinen Kindern Schutz gesucht haben. | |
Gleich nebenan halten sich etwa 50 Personen auf, vor allem Rentner und | |
wieder Mütter mit Kindern. Sie haben erst eine Nacht hier verbracht, | |
erzählen sie, und es daher noch nicht geschafft, sich einzurichten. Die | |
Rentner schlafen auf Stühlen. Jemand hat eine Decke aus der Wohnung geholt | |
und sein Kind darin eingewickelt. Wir versprechen, Helfern von diesem | |
Keller zu erzählen und davon, welche Hilfe die Menschen hier brauchen. Es | |
ist schon Nacht, als wir uns verabschieden und auf den Rückweg machen. | |
## Keiner glaubt an Waffenstillstand | |
Vor dem Krach des Artilleriefeuers hetzen wir durch die nebelige Nacht. In | |
vier Stunden sollen die Waffen schweigen, doch daran kann keiner glauben. | |
Hier ist der Krieg in vollem Gange und das sogar mit doppelter Kraft. Man | |
kann sich nicht vorstellen, dass morgen bei Tagesanbruch Ruhe und Frieden | |
herrschen sollen. | |
Der Morgen des Waffenstillstandes in der Nähe von Artemiwsk – die Kämpfer | |
des Bataillons „Donbass“ haben am Vorabend 17 prorussische Kämpfer als | |
Geiseln genommen. 15 davon haben sie an Kiew übergeben, zwei sollen am | |
nächsten Tag folgen. | |
Wir gehen in den zweiten Stock des Bataillonsstützpunktes. In einem Zimmer | |
mit großem Fenster sitzen zwei junge Männer mit versteinerten Mienen auf | |
Decken. Nach einigem Zögern willigen sie ein, mit uns zu sprechen. „Ich bin | |
22 und der da ist 28 Jahre alt. Wir sind beide aus dem Donezker Gebiet aus | |
Jenakiewo. Früher haben wir in einem illegalen Schacht gearbeitet, dann | |
wurde der geschlossen. Zu den Kämpfern sind wir Ende Dezember gekommen. | |
Jetzt ist unser erster Einsatz“, sagt einer der beiden. Dann erzählt er | |
noch, dass man den Gefangenen die Möglichkeit gegeben habe, ihre Verwandten | |
anzurufen und dass in wenigen Tagen die Gefangenen ausgetauscht würden und | |
sie dann nach Hause zurückkehren könnten. | |
## Noch 13 Kilometer nach Debalzewe | |
Noch einmal fahren wir in Richtung Debalzewe. Am Kontrollposten werden die | |
Dokumente genauso gründlich geprüft, wie an den Tagen zuvor. „Wohin wollen | |
Sie?“ – „Nach Debalzewe.“ Der Soldat lächelt geheimnisvoll und gibt un… | |
Papiere zurück. So nah wie jetzt waren wir noch nie – nach Debalzewe sind | |
es nur noch 13 Kilometer. Wir nähern uns dem letzten ukrainischen | |
Kontrollposten. Geschützdonner. Wir begreifen sofort – die Artillerie | |
schießt weiter, in der Ferne sind Gewehrsalven zu hören. Es gibt keinen | |
Waffenstillstand. | |
Sofort tauchen die Gesichter der Menschen auf, die wir in den letzten Tagen | |
getroffen haben und ihre Hoffnung auf Frieden. Alle Hoffnungen sind | |
zerplatzt, in nur einem Moment. | |
Wir kehren um und fahren in das Dorf Mironowka, 18 Kilometer von Debalzewe | |
entfernt und [1][drehen dort ein Video]. Am Rande des Dorfes stehen | |
ukrainische Artilleriegeschütze. Sie schießen auf Häuserwände und alles, | |
was von vorherigem Beschuss noch übrig geblieben ist. Die Straßen sind | |
menschenleer, nur hin und wieder streifen Hunde vorbei, auf der Suche nach | |
Futter. | |
Der Waffenstillstand scheint für Debalzewe nicht zu gelten. Mit jeden Tag | |
nimmt der Beschuss zu. Am Dienstag, dem Tag drei des Waffenstillstandes, | |
scheint das Schicksal von Debalzewe besiegelt. Die Separatisten wollen mit | |
Macht den Eisenbahnknotenpunkt einnehmen, weil er die beiden von ihnen | |
kontrollierten Gebiete um Donezk und Luhansk verbindet. In dem Ort sind | |
ukrainischen Militärexperten zufolge bis zu 7.000 Soldaten eingeschlossen. | |
Separatisten liefern sich seit den Morgenstunden heftige Straßenkämpfe mit | |
den Regierungssoldaten. Die Rebellen seien mit Gewehren, Mörsergranaten und | |
Raketenwerfern in die Stadt eingedrungen, berichtete der stellvertretende | |
regionale Polizeichef. | |
Es gebe heftige Kämpfe, doch über Opferzahlen lasse sich noch nichts sagen. | |
Auch die ukrainische Armee bestätigt die Angaben, dementierte aber Berichte | |
der Rebellen, wonach sich Dutzende ukrainische Soldaten ergeben hätten. | |
„Wir halten unsere Stellungen“, betont ein Militärsprecher. Die | |
Straßenkämpfe halten am Dienstag an. Nikolai, der Bauer, hat es längst | |
gewusst. Es gibt keinen Waffenstillstand. | |
Übersetzung aus dem Russischen: Irina Serdyuk, Barbara Oertel | |
17 Feb 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.hromadske.tv/society/mironivskii-pershii-den-pislya-obstrilu/ | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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