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# taz.de -- Nach dem Anschlag in Charkiw: Letztes Geleit für Igor Tolmatschew
> Hunderte trauern in Charkiw um den Mitorganisator des Euromaidan. Er und
> drei weitere Personen wurden bei einem Anschlag getötet.
Bild: Spurensicherung nach dem Anschlag in Charkiw.
CHARKIW taz | Immer wieder beugt sich die Mutter von Igor Tolmatschew über
ihren Sohn und küsst ihn. Der 52-jährige Maidan-Aktivist ist in einem Sarg
vor dem Denkmal des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko im
Stadtzentrum der ostukrainischen Metropole Charkiw aufgebahrt. Neben der
weinenden Mutter sitzen zwei weitere Frauen, ebenfalls Angehörige des
Toten.
300 Menschen aus Charkiw sind an diesem Mittwoch zum Schewtschenko-Denkmal
gekommen, um sich von Tolmatschew zu verabschieden. Unter den Kirchenlieder
singenden Trauernden sind auch einige Dutzend Männer in Kampfuniform sowie
Vertreter des „Rechten Sektors“, erkennbar an der schwarz-roten Armbinde
mit der Aufschrift ihrer Organisation.
Geduldig warten sie in einer Schlange, bis sie am Sarg vorbeigehen, sich
von ihrem Mitstreiter verabschieden und der Mutter ihr Beileid aussprechen
konnten. Viele tragen ukrainische Fahnen. Mehrere hundert Polizisten mit
schusssicherer Weste und Helmen unter dem Arm sichern die Veranstaltung,
kontrollieren Taschen und Rucksäcke.
Igor Tolmatschew, einer der Initiatoren des Charkiwer Euromaidan, war am
22. Februar, dem Jahrestag der Flucht des abgesetzten Präsidenten Wiktor
Janukowitsch aus Kiew, bei einer Kundgebung der Charkiwer
Euromaidan-Bewegung ums Leben gekommen, als dort ein Sprengsatz detonierte.
Drei weitere Personen kamen dabei ums Leben. Nur wenige Stunden nach dem
Anschlag wurden vier Verdächtige verhaftet. Nach Informationen des
ukrainischen Geheimdienstes sollen sie der Organisation „Charkower
Partisanen“ angehören, der mehrere Anschläge zur Last gelegt werden.
Für viele Teilnehmer der Trauerveranstaltung war Igor Tolmatschew die Seele
der Charkiwer Aktivisten. „Ich habe seine Hilfsbereitschaft geschätzt“,
erinnert sich einer der Freunde des Toten, Igor Solomadin. „Tolmatschew war
1988 einer der Ersten, die nach Armenien reisten, um den Opfern des
Erdbebens von Spitak zu helfen.“ „Tolmatschew war einer der besten
Organisatoren des Charkiwer Euromaidan“, berichtet Jewgenij Olejnik, ein
anderer Bekannter des Opfers. „Seine Spezialität war Wahlbeobachtung. Immer
wieder hat er Wahlfälschungen aufgespürt und öffentlich gemacht.“
Viele gehen davon aus, dass Russland hinter dem Anschlag steht. „Unsere
Stadt hat wichtige Rüstungsbetriebe, ist das Tor zu Russland. 20 Kilometer
vom Schewtschenko-Denkmal entfernt verläuft die russisch-ukrainische
Grenze, und 150 Kilometer in der anderen Richtung beginnt die Front. Da
reicht ein Funke, um in der Stadt Chaos und Angst zu erzeugen“, meint ein
Besucher der Trauerfeier.
„Igor hat mir kurz vor seinem Tod gesagt, dass er die wachsenden Spannungen
in der Stadt spüre. Leider hatte er recht gehabt. Am 22. Februar hat unsere
Stadt ihren bisher größten Anschlag erlebt“, kommentiert eine Besucherin,
die die ukrainische Fahne hochhält. „Unsere Verantwortlichen haben die
Gefährdung unserer Stadt noch nicht begriffen. Wir müssen in unsere
Sicherheitskräfte investieren“, erläutert ein junger Mann. „Ich war am 22.
Februar nur 10 Meter vom Epizentrum entfernt. Und ich war entsetzt, auch
über die Langsamkeit unserer Behörden. 15 Minuten hat es gedauert, bis der
erste Krankenwagen da war. Und dann wusste niemand, wohin man die
Demonstranten evakuieren sollte.“
„Es ist, als hielten die Menschen den Atem an“, kommentiert der
Menschenrechtler Igor Solomadin. „Heute sind 300 Menschen zu unserer
Trauerveranstaltung gekommen. In der Vergangenheit hatten wir schon
Demonstrationen mit mehreren Tausend Menschen. Ich hoffe, dass wir an
diesem Wochenende einen Marsch gegen den Terror organisieren können und
dass dann wieder einige Tausend auf die Straße gehen werden.“
Doch die fehlende Bereitschaft dazu könnte auch andere Gründe haben. Wenige
hundert Meter vom Schewtschenko-Denkmal entfernt stehen hundert
verzweifelte Menschen vor einer Bank. Sie wollen ihre wenigen Ersparnisse
in Dollar und Euro umtauschen. Die ukrainische Währung ist seit dem
Vorabend zuvor um weitere fünf Punkte gefallen. Nun weigern sich immer mehr
Banken, Griwna in Dollar oder Euro umzutauschen.
25 Feb 2015
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Separatisten
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Separatisten
Opposition
Maidan
Propaganda
Waffenstillstand
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