# taz.de -- Ostukraine - zwischen Ost und West: Haltestelle Charkiw | |
> Die Stadt Charkiw hat sich anders als Donezk oder Luhansk nicht als | |
> „Volksrepublik“ abgespalten. Die Menschen gehen hier eigene Wege. | |
Bild: Eine Minderheit in der Stadt: Demonstration von Pro-Maidan-Aktivisten in … | |
CHARKIW taz | Sie scheinen die Einzigen an diesem frühen Abend zu sein, die | |
es im Gedränge des Hauptbahnhofs nicht eilig haben. Eine Frau mittleren | |
Alters und ein ergrauter Herr mit Stock lenken unsicher ihre Schritte | |
Richtung Wartesaal. Sie lassen sich an einem Tisch am Ende des Wartesaals | |
nieder. Draußen ist das Geschrei von Kleinkindern zu hören, über | |
Lautsprecher werden Verspätungen sowie ein- und ausfahrende Züge angesagt. | |
Für viele Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet in der Ostukraine ist Charkiw | |
die erste Anlaufstelle, die Front verläuft nur etwa 150 Kilometer entfernt. | |
In einem Teil des Wartesaals haben Freiwillige die „Haltestelle Charkiw“ | |
eingerichtet, ein mobiles Büro für die Flüchtlinge. Eine Helferin gießt den | |
Ankömmlingen heißen Tee ein. Allmählich löst sich ihre stumme Erschöpfung. | |
Swetlana und Viktor stammen aus einem Vorort von Donezk. Die Helferin nimmt | |
ihre persönlichen Daten zu Protokoll, bietet ihnen ein warmes Essen, | |
Kleidung an. Sie haben nur eine kleine Reisetasche dabei. Etwa 50 | |
Flüchtlinge steuern die „Haltstelle“ pro Woche an. Lange können sie nicht | |
bleiben. Die Kapazitäten der Stadt seien erschöpft, sagen die Mitarbeiter. | |
Einer von ihnen ist Alexander Ewglewskij. Früher, „vor dem Krieg“, war | |
Alexander erfolgreicher Geschäftsmann. Es ist seinem Verhandlungsgeschick | |
zu verdanken, dass die Flüchtlinge es sich bequem machen dürfen in den | |
grünen weichen Sesseln und Sofas der Luxuslounge auf der ersten Etage, die | |
sonst nur zahlenden Gästen vorbehalten ist. Hier ist der Lärm des Bahnhofs | |
nur noch gedämpft zu hören. Und hier findet auch die Essensausgabe für die | |
Flüchtlinge statt. Mütter mit Kleinkindern können eine Woche übergangsweise | |
in einem Hotel in Charkiw wohnen, ebenfalls kostenlos. Wer nicht selbst | |
eine Unterkunft finden kann, wird von den Freiwilligen weitergeschickt, | |
nach Kiew, in den Westen des Landes. Swetlana und Viktor erhalten die | |
Adresse einer protestantischen Familie, die sie an eine Sammelunterkunft in | |
der Region von Kiew vermitteln wird. | |
## Mobilisierungskampagne ohne große Resonanz | |
Die „Haltestelle Charkiw“ ist gut vernetzt mit anderen Hilfsorganisationen | |
im Land. Auf die Regierung sind sie nicht gut zu sprechen. Gerade einmal | |
615 wintertaugliche Plätze landesweit biete der Staat den | |
Flüchtlingen.„Wenn die kirchlichen Helfer nicht wären“, sagt Igor | |
Solomadin, ein Maidan-Aktivist der ersten Stunde, „würden sie buchstäblich | |
auf der Straße stehen.“ | |
In Charkiw, nur 40 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt, | |
ticken die Uhren anders als in Kiew, aber auch anders als in Luhansk und | |
Donezk. Im Stadtzentrum ist zunächst kein großer Unterschied zu sehen. | |
Ukrainische Fahnen schmücken Straßen, Balkone, Autos, Amtsgebäude. Vom | |
riesigen Lenindenkmal am Freiheitsplatz ist nur noch der Stumpf | |
übriggeblieben, auf dem nun eine ukrainische Fahne weht. In der vorwiegend | |
russischsprachigen Stadt sprechen mehr und mehr Menschen Ukrainisch. | |
Trotzdem wünscht sich die Mehrheit der Bevölkerung gute Beziehungen zu | |
Russland, die Anhänger des Maidan sind in der Minderheit. Dies ist auch | |
eine soziale Frage, sie gehören in der Regel zur besserverdienenden | |
Mittelschicht. | |
Während in Kiew an jeder Ecke Freiwillige Spenden für die Soldaten der | |
„Antiterroroperation“ sammeln, ist in Charkiw niemand mit einer | |
Sammelbüchse unterwegs. Auch die in der Westukraine üblichen Plakate, die | |
zur Unterstützung der Armee aufrufen, fehlen. Nur 800 statt der erwünschten | |
4.500 Rekruten wurden seit Januar im Rahmen der Mobilisierungskampagne an | |
die Front geschickt. Die Stadt ist – wie das Land – gespalten. | |
## Betreuter Dialog | |
Die 40-jährige Soziologin Alena Kopina versucht im Konflikt zwischen den | |
proeuropäischen und den prorussischen Aktivisten zu vermitteln. Ihr | |
Arbeitgeber, die „Stiftung für kommunale Demokratie“, ist in einem | |
baufälligen Gebäude im Zentrum von Charkiw untergebracht, ein wackliger | |
Fahrstuhl bringt die Besucher in die oberste Etage. Seit Monaten | |
organisiert Kopina Begegnungen zwischen Vertretern der verfeindeten | |
Gruppen. „Ich beobachte mit großer Sorge, wie sich die Aggressionen in | |
unserer Stadt hochschaukeln“, sagt sie. „Irgendwann habe ich mir gesagt, es | |
reicht nicht, immer nur zu beobachten.“ | |
Auf YouTube betreut Kopina ein Dialogforum, bei dem jeweils ein Vertreter | |
der prorussischen und der proeuropäischen Seite über ein festgesetztes | |
Thema reden. „Inhaltlich hat sich wenig verändert,“ stellt Kopina fest, | |
„beide Seiten stehen sich nach wie vor unversöhnlich gegenüber.“ Doch | |
atmosphärisch hätte ihre Gesprächsreihe durchaus etwas bewirkt in der | |
Stadt, die sich nach dem Terroranschlag vom 22. Februar weiter polarisiert | |
hat. „Dialog ist immer möglich, auch dann, wenn die Gewalt schon weit | |
eskaliert ist.“ | |
## Der Schock des Attentats | |
Der Schock des 22. Februar wird der Bevölkerung der 1,5 | |
Millionen-Einwohner-Stadt noch lange in den Gliedern sitzen. An diesem | |
Sonntag waren Dutzende von Anhängern des Euromaidan im Gedenken an die | |
Toten der Ereignisse in Kiew vor einem Jahr durch Charkiw gezogen. Ein | |
Sprengsatz riss vier Demonstranten in den Tod. Der ukrainische Geheimdienst | |
verhaftete nur wenige Stunden nach dem Anschlag vier Verdächtige. Sie | |
sollen, sagen die ukrainischen Behörden, von Russland für den Anschlag | |
vorbereitet worden sein. | |
Ein paar Tage später werden die Toten des Anschlags vor dem Denkmal des | |
ukrainischen Nationaldichters Schewtschenko aufgebahrt. Ihre Anhänger geben | |
ihnen das letzte Geleit. „Ich bin enttäuscht, dass so wenige Menschen zu | |
den Trauerveranstaltungen gekommen sind“, sagt Igor Solomadin. „Und nicht | |
ein einziger Vertreter der Behörden hat sich die Mühe gemacht, der | |
Trauerveranstaltung beizuwohnen.“ | |
Im Gegensatz zu den meisten Maidan-Anhängern unterstützt Solomadin, | |
Internetblogger und Historiker, den Krieg in der Ostukraine nicht. „Sollen | |
die in Donezk und Luhansk doch gehen, wenn es ihnen bei uns nicht gefällt. | |
Wir können auch ohne sie eine moderne Ukraine aufbauen.“ Er ist überzeugt, | |
dass die Zukunft des Landes in der Hinwendung zu Europa liege – Vorbild | |
Polen. „Mit Militär allein kann Russland keine ostukrainische Stadt für | |
sich erobern. Dafür braucht es auch die Unterstützung durch einen großen | |
Teil der Bevölkerung. Und genau deswegen ist es so wichtig, dass wir uns | |
als Stadt klar positionieren und Russland zeigen, dass wir nicht russisch | |
werden wollen.“ | |
## Besuch bei der KPU | |
Tatsächlich sind in Charkiw bisher alle Versuche, nach dem Vorbild von | |
Donezk oder Luhansk eine „Volksrepublik Charkiw“ auszurufen, gescheitert. | |
Bürgermeister Gennadij Kernes hatte sich im Sommer letzten Jahres | |
entsprechenden Versuchen entgegengestellt. | |
Politisch aktiv zu sein ist unter diesen Bedingungen nicht einfach. | |
Charkiws Kommunisten fühlen sich in der Defensive. Derzeit läuft auf | |
Betreiben der Kiewer Regierung ein Verbotsverfahren gegen die Partei. Ein | |
unscheinbares Schild am Hauseingang der Poltawskij Schljach 22 im Stadtteil | |
Leninskij weist darauf hin, dass sich hier das Büro der Kommunistischen | |
Partei befindet. Im Inneren wirkt es wie ein Stück Sowjetunion der 70er | |
Jahre. Die roten Fahnen mit Hammer und Sichel, die Kisten mit roten | |
Broschüren, ein Kinosaal, von dessen roter Wand ein übergroßer Lenin auf | |
hundert Stühle blickt. Auf den Gängen stapeln sich Säcke mit Hilfsgütern | |
für Flüchtlinge aus dem Donbass. „Wir ziehen die Rollläden schon lange | |
nicht mehr hoch“, sagt Alla Alexandrowskaja. 14 Jahre hatte die 66-jährige | |
AKW-Ingenieurin für die ukrainischen Kommunisten im Parlament gesessen. | |
„Wir hatten vor einiger Zeit Besuch vom Rechten Sektor. Die haben unser | |
Büro mit Eiern beworfen. Seitdem bemühen wir uns, möglichst wenig | |
aufzufallen.“ | |
Am 1. März seien sie und ihr Sohn vom Fernsehsender TSN der Mittäterschaft | |
an den jüngsten Terroranschlägen in Charkow beschuldigt worden, sagt Alla | |
Alexandrowskaja empört. „Was ist denn das für ein Rechtsstaat, in dem man | |
Menschen ohne Beweise und ohne Gerichtsurteil einfach öffentlich des | |
Terrorismus beschuldigen kann?“ | |
## Politische Hyterie | |
Auch Tanja, 30, und Artur, 28, haben ihren Treffpunkt sorgfältig gewählt. | |
In einem Café unweit des 20 Meter hohen „Thermometers“ an der | |
Sumskaja-Straße wählen sie einen Tisch, der von der Kellnerin nicht | |
einsehbar ist. Hier könne man in Ruhe reden. Außerdem sind die beiden es | |
nicht gewohnt, ihr geringes Einkommen von weit unter 100 Euro mit einem Tee | |
oder Kaffee unnötig zu strapazieren. Beide sind Sozialisten, aber in keiner | |
Partei organisiert. Sie erinnern ein wenig an die russischen Anarchisten | |
des 19. Jahrhunderts, obwohl Artur Irokesenschnitt trägt. | |
Für ihn geht es bei dem Ukraine-Konflikt nur um eins: Geld. Und das, sagt | |
Artur, besitzen in der Ukraine nur die Oligarchen. Er sehe es nicht ein, | |
sich in einem Konflikt für deren Interessen verheizen zu lassen. | |
Arturs und Tanjas Gruppe, zehn Leute, trifft sich konspirativ in Wohnungen, | |
sie lesen sozialistische Literatur, erarbeiten Flugblätter gegen | |
Preiserhöhungen und Entlassungen, die sie vor Fabriken verteilen. „Ich | |
arbeite in der Finanzbehörde“, berichtet Tanja. „Wenn mein Chef wüsste, | |
dass ich Sozialistin bin, wäre ich meinen Job sofort los. Bei uns geht die | |
Angst um.“ | |
## Schnelle Verdächtigungen | |
Ein Kollege sei unter dem Verdacht, Separatist zu sein, verhaftet worden. | |
Bei einem Gefangenenaustausch wurde er unerwartet den Separatisten in | |
Donezk übergeben. Doch der Freund, definitiv kein Separatist, wolle mit der | |
„Volksrepublik Donezk“ nichts zu tun haben. Deswegen ist er nach Russland | |
geflohen, wo er nun als Obdachloser auf der Straße lebt. Zurück in die | |
Ukraine kann er nicht, da er weiterhin als Separatist gesucht wird. | |
„Die neue Regierung erklärt uns, wie undemokratisch es unter dem | |
Kommunismus gewesen ist. Aber ist das nun besser?“ fragt Tanja. Sie und | |
Artur wollen nicht, dass Charkiw eines Tages zu Russland gehört. Sie machen | |
sich keine Illusionen über das heutige Russland. „Doch viel schlimmer als | |
jetzt kann es auch in Russland nicht werden. Der Maidan wird als Revolution | |
der Würde bezeichnet. Doch die wachsende Armut hat nun wirklich nichts mit | |
Würde zu tun.“ | |
14 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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