# taz.de -- An der ukrainisch-russischen Grenze: Kleiner Grenzverkehr | |
> Russen, Ukrainer – viele haben Freunde und Verwandte im jeweiligen | |
> Nachbarland. Unterwegs im Bus im Kriegsgebiet. | |
Bild: Ein ukrainischer Grenzbeamter kontrolliert Einreisende in der Region von … | |
CHARKIW/ BELGOROD taz | | „Belgorod, Belgorod“, ruft der Fahrer eines | |
schwarzen Kleinbusses frühmorgens um halb sechs laut über den Busbahnhof | |
der ostukrainischen Metropole Charkiw. Für umgerechnet 12 Euro bietet | |
Alexander die dreistündige Fahrt in die 80 Kilometer entfernte Nachbarstadt | |
Belgorod auf der russischen Seite der Grenze an. | |
Wer lieber mit dem regulären blau-gelben Reisebus fahren möchte, bezahlt | |
nur knapp vier Euro für die Reise nach Russland. Aber der Fahrer des | |
Reisebusses hat etwas nicht, was Alexander hat: gute Kontakte zu den | |
Grenzbehörden beider Seiten. Und deswegen verspricht Alexander seinen | |
Fahrgästen minimale Wartezeiten am Grenzübergang Goptovka. | |
Kaum hat Alexander seine sieben Passagiere versammelt, geht die Reise los. | |
Oleg hält beim Einsteigen seinen hellblauen Pass in der Hand. Er ist | |
moldawischer Staatsbürger. Doch in seiner Heimat lebt er schon lange nicht | |
mehr. „Keine Arbeit.“ In Moldawien gebe es nur Landwirtschaft und auf dem | |
Feld wolle er nun wirklich nicht arbeiten. Vor Jahren ist Oleg nach Minsk | |
gezogen, wo er als Schlosser in einem kleinen Betrieb arbeitet. Nun muss er | |
dringend nach Belgorod, weil seine dort lebende Mutter einen Herzinfarkt | |
erlitten hat. | |
Die kleine Reisegemeinschaft kommt schnell ins Gespräch. Ihr Mann, | |
berichtet Nadja, eine russischstämmige Rentnerin, habe sich nach seiner | |
Rückkehr aus dem Afghanistankrieg entschieden, nach Belgorod zu ziehen. Sie | |
sei jedoch nach Charkiw gegangen, um in der Nähe ihrer Mutter zu sein. | |
Ihren inzwischen verstorbenen Mann habe sie so nur alle zwei Wochen für | |
einige Tage gesehen. Irgendwann einmal in den 1990er Jahren habe sie vom | |
Staat die Wohnung in Charkiw überschrieben bekommen. Einzige Voraussetzung: | |
Sie müsse die ukrainische Staatsbürgerschaft annehmen. | |
Seit über 20 Jahren pendelt die Rentnerin nun regelmäßig von Charkiw nach | |
Belgorod. Ihre Enkelin arbeitet dort als Ärztin in der Onkologie und | |
besorgt ihr wichtige Medikamente für ihre Krebserkrankung. In der Ukraine | |
seien diese sehr teuer, und das Geld habe sie mit ihrer Rente von 1.200 | |
Hrywni einfach nicht. Noch vor zwei Jahren seien das umgerechnet 120 Euro | |
gewesen, doch jetzt sei ihre Rente angesichts des Kursverfalls auf 50 Euro | |
geschrumpft. | |
## An der Schlange vorbei | |
An einer Tankstelle legt Fahrer Alexander hastig einige Geldscheine in | |
seinen Pass. Dann geht es weiter Richtung Grenze. Rücksichtslos steuert er | |
seine „Marschrutka“ rechts an den vor der Grenze wartenden Autos auf dem | |
schon nicht mehr geteerten Randstreifen vorbei, bis der Kleinbus direkt vor | |
dem Schlagbaum zum Stehen kommt. Alexander, so scheint es, hat an dieser | |
Grenze Sonderrechte. Wie eine Festung wirkt der ukrainische Grenzposten mit | |
den Betonblöcken, die die Fahrzeuge in engen Bahnen und Schleifen zwingen. | |
Die Fahrgäste der Pkws sind gereizt. Sie müssen über fünf Stunden warten. | |
Am Grenzübergang sind fast nur ukrainische Kennzeichen und Pässe zu sehen. | |
„Wir Ukrainer haben eben keine Angst vor den Russen“, kommentiert die | |
40-jährige Swetlana im Kleinbus. Früher sei Charkiw voller russischer | |
Besucher gewesen, doch inzwischen trauten sich die Russen nicht mehr ins | |
Land. Dabei ist Swetlana selbst Russin, sie hat lange in Moskau gelebt und | |
will nun ihre Verwandten in Belgorod besuchen. Früher sei man in ein paar | |
Minuten über die Grenze gekommen. | |
Doch tragischer als die verlängerten Wartezeiten sei die politisch bedingte | |
Entfremdung, findet Swetlana. Viele ehemalige Studienkolleginnen hatten ihr | |
Zuflucht vor den „Faschisten in Kiew“ angeboten. Sie brauche kein Asyl, | |
habe sie ihnen geantwortet. In ihrer ukrainischen Heimat fühle sie sich | |
wohl, die Regierung in Kiew sei demokratisch legitimiert. Verständnislos | |
hätten sich darauf viele ihrer früheren Freundinnen von ihr abgewandt. Nur | |
die Verwandten suche sie noch regelmäßig auf. „Doch über Politik sprechen | |
wir nicht.“ | |
Die ukrainischen Grenzer sind freundlich, aber nervös. Alle tragen eine | |
Maschinenpistole auf dem Rücken. Nach der Passkontrolle wird jedes | |
Gepäckstück kontrolliert. Irgendwo zwischen dem ukrainischen und dem | |
russischen Grenzposten öffnet Alexander seinen Pass. Die Geldscheine sind | |
weg. | |
## „Bitte anschnallen“ | |
Auch auf der russischen Seite sind die Grenzschützer mit Maschinenpistolen | |
bewaffnet. Alexander nutzt die Wartezeit für ein Gespräch mit einem | |
russischen Grenzer. Man duzt sich. „Kannst du mir nicht wieder sechs Stück | |
mitbringen“, bittet der russische Grenzer den ukrainischen Busfahrer. | |
Alexander scheint zu wissen, was dieser meint, scheint einen Augenblick zu | |
überlegen und verspricht ihm schließlich, das Gewünschte in der nächsten | |
Woche dabeizuhaben. | |
„Bitte alles anschnallen!“, fordert Alexander seine Passagiere kurz nach | |
Verlassen des Grenzübergangs auf. „Hier ist man sehr streng im | |
Straßenverkehr.“ Swetlanas Hände zittern beim Gurtanlegen. „Ich bin immer | |
ziemlich angespannt, wenn ich in Russland bin.“ | |
Sie sei schon viel rumgekommen, aber nirgends habe sie so dreiste Grenzer | |
erlebt wie an der russisch-ukrainischen Grenze, sagt die Unternehmerin im | |
gelben Kleid und mit dunkler Sonnenbrille. Als sie eben einen russischen | |
Grenzer nach der Toilette gefragt habe, habe dieser unter dem Gelächter | |
seiner Kollegen gesagt: „Bist du nur nach Russland gekommen, um unsere Klos | |
zu besichtigen? Hättest auch zu Hause aufs Klo gehen können.“ Sie musste | |
sogar lächeln, berichtet Swetlana mit zittriger Stimme. „Männer mit einer | |
Maschinenpistole haben immer recht. Vor allem gegenüber einer Ukrainerin.“ | |
Eine halbe Stunde später erreicht die Gruppe das russische Belgorod. | |
Alexander hat recht behalten, seine Gruppe ist früher angekommen als der | |
große Bus. | |
31 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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