# taz.de -- Juden in der Ostukraine: Endlich koschere Küche | |
> Das Zentrum „Menorah“ in Dnipropetrowsk ist Ausdruck des wieder erwachten | |
> Lebens der jüdischen Gemeinde. Doch der Krieg ist auch hier Thema. | |
Bild: Das Schicksal der Juden in der Ukraine sei eng mit dem Land verknüpft, s… | |
Dnipropetrowsk taz | „Ich kenne Juden hier, die haben zwanzig Jahre lang | |
kein Fleisch gegessen, weil sie nicht wussten, wo sie koscheres Fleisch | |
bekommen können“, sagt Oleg Rostovtsev. „Nun gibt es wieder die gesamte | |
Infrastruktur, die hier lebende Juden oder auch jüdische Gäste brauchen.“ | |
Er strahlt. In den verschiedenen Cafés und Restaurants der „Menorah“, dem | |
jüdischen Kultur- und Gemeindezentrum der Stadt, wird nun strikt wieder | |
darauf geachtet, dass Fleisch- und Milchprodukte nicht zusammen angeboten | |
werden. | |
Oleg Rostovtsev ist Mitglied im Vorstand der jüdischen Gemeinde von | |
Dnipropetrowsk, der ostukrainischen Metropole und zugleich drittgrößten | |
Stadt des Landes. Der Mittvierziger weiß, seinen Gesprächspartner für sich | |
einzunehmen, er nimmt seinen Gast mit auf einen Rundgang durch das | |
Kulturzentrum. Misserfolg, so scheint es, ist für den in der Werbebranche | |
tätigen bärtigen Unternehmer eher ein Fremdwort. Nervös wird er nur, wenn | |
er auf jeder Etage erneut mit einem Rauchverbotsschild konfrontiert wird. | |
Die Dnipropetrowsker „Menorah“ ist nicht etwa ein popeliges | |
Gemeindezentrum, sondern mit seinen 50.000 Quadratmetern das größte | |
jüdische Kultur- und Gemeindezentrum der Welt. Restaurants, zwei Hotels, | |
Cafés, Konferenzsäle, ein israelisches Kulturzentrum, das Museum für | |
jüdisches Gedenken und Holocaust gibt es hier. | |
Die sieben ineinandergeschachtelten, in hellem Gelb gehaltenen Türme | |
symbolisieren die Menorah, den siebenarmigen Leuchter, in ihrer Mitte | |
findet sich das einzige alte Gebäude in der Scholom-Alechejma-Straße – die | |
1852 erbaute Synagoge. Bereits drei Jahre nach seiner Fertigstellung im | |
Jahr 2012 ist die „Menorah“ zum Wahrzeichen von Dnipropetrowsk avanciert. | |
## Die Privatbank sponsert | |
Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Einkaufszentrum für Besserverdienende | |
mit eigener Synagoge. Das helle, marmorierte, weitläufige Innere ist wie | |
eine kleine Stadt. Hier hat auch die Privatbank ihren Sitz, deren größter | |
Anteilseigner Igor Kolomojskij zugleich einer der Initiatoren und Geldgeber | |
des Zentrums ist. Die beiden Hotels – je zwei oder vier Sterne – sind die | |
einzigen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, die so gebaut sind, | |
dass orthodoxe Juden die Gesetze ihrer Religion nicht verletzen müssen. Die | |
Aufzüge kommen am Sabbat auf allen Etagen automatisch zum Stillstand, die | |
Schlösser der Zimmertüren sind mechanisch. | |
„Allein der Umstand, dass sich heute Supermärkte mit koscherer Nahrung in | |
Dnipropetrowsk halten können, zeigt, dass das jüdische Bewusstsein | |
gewachsen ist“, sagt Oleg Rostovtsev. Die Gemeindemitglieder seien bereit, | |
30 Prozent mehr Geld auf den Tisch zu legen, um nach jüdischen Gesetzen | |
leben zu können – eine Entwicklung, die etwa um 2011 eingesetzt habe. | |
Die jüdische Gemeinde von Dnipropetrowsk kann auf eine reiche Geschichte | |
zurückblicken. Vor dem Ersten Weltkrieg machten Juden etwa ein Drittel der | |
Bevölkerung aus. Heute zeichne sich die jüdische Gemeinde von | |
Dnipropetrowsk vor allem durch ihre demokratischen Strukturen aus, erklärt | |
ihr Sprecher Rostovtsev. Nur sei sie anders strukturiert als jüdische | |
Gemeinden in Deutschland. Dort habe man eine feste Mitgliedschaft, in | |
Dnipropetrowsk gäbe es das nicht. Anderswo bestimme weitgehend das | |
Oberhaupt die Ausrichtung. „Ist der Rabbi liberal, ist auch die Gemeinde | |
liberal, ist er konservativ, ist auch die Gemeinde konservativ | |
ausgerichtet.“ Doch in Dnipropetrowsk setzt man auf die Basis. | |
## Umfangreiches Sozialprogramm | |
„Rabbi, nimm meine Kinder“, bekomme dieser immer wieder von todkranken, | |
alleinerziehenden Müttern zu hören, berichtet Rostovtsev. Und natürlich | |
nehme der Rabbi die Kinder auf. Die jüdische Gemeinde von Dnipropetrowsk | |
betreibt ein umfangreiches soziales Programm. Neben einem Altenheim werden | |
außerdem 50 Waisenkinder betreut, das „Menorah“ dient außerdem als | |
Anlaufstelle für Flüchtlinge jüdischen Glaubens aus den umkämpften Gebieten | |
von Donezk und Lugansk dient. | |
Natürlich kümmerten sich auch Staat und Freiwilligenorganisationen um die | |
Flüchtlinge, sagt Rostovtsev. Aber niemandem sei es ein Anliegen, sie auch | |
mit koscherem Essen zu versorgen. Wobei man natürlich Flüchtlingen aller | |
Religionen helfe, beeilt er sich zu sagen. Seine Tochter sei dem Projekt | |
„Medikamente für Mariupol“ engagiert, um der bedrohten Bevölkerung der | |
Hafenstadt zu helfen. | |
„Die Juden der Ukraine sehen ihr Schicksal eng mit der Ukraine verknüpft“, | |
sagt Oleg Rostovtsev. Viele seien durch die Sowjetunion traumatisiert. „Wer | |
siebzig Jahre in einem Gefängnis gelebt hat, fühlt sich wie ein Löwe, der | |
in einem Käfig aufgewachsen ist. Auch der Löwe wird zunächst | |
Schwierigkeiten haben, in der Savanne zurechtzukommen“, lautet sein | |
gewagter Vergleich. Derzeit durchlaufe die Ukraine eine wichtige Phase als | |
Nation. „Das Interessante daran ist, dass Juden, Ukrainer, Russen, | |
Armenier, Nationalisten, alle gemeinsam eine Ukraine wollen“, redet sich | |
Rostovtsev in Emphase. | |
In Israel funktioniere es nicht, holt Rostovtsev aus, dass sich jüdische | |
und arabische Israelis als ein Volk fühlen. Aber hier in der Ukraine | |
scheine eine gemeinsame Identität verschiedener Gruppen möglich. Alle | |
Menschen in der Ukraine erlebten gemeinsam die Bedrohung von außen. Die | |
russische Aggression schweiße zusammen, wenn es sie nicht gäbe, würden die | |
inneren Widersprüche im Land viel stärker zum Tragen kommen. | |
## Reden mit dem Rechten Sektor | |
„Nehmen wir den Rechten Sektor“, sagt der Pressesprecher. „Im Westen ist | |
man oft durch dessen paramilitärisches Auftreten irritiert. Auch ich bin | |
nicht mit allem einverstanden, was die Organisation will. Die Leute vom | |
Rechten Sektor sind politische Nationalisten, nicht ethnische | |
Nationalisten. Deswegen sind sie auch zu einer Zusammenarbeit mit Juden | |
bereit. Man muss auch sagen, wenn wir die Freiwilligenbataillons an der | |
Front nicht hätten, würden wir schlecht dastehen.“ | |
Auch Oleg Rostotsev war bei den Maidan-Protesten dabei. „Ich habe dort nie | |
etwas Antisemitisches gehört. Der Staat war angesichts der russischen | |
Aggression lange gelähmt. Und die Freiwilligen haben in dieser Situation | |
Aufgaben übernommen, die der Staat nicht leisten konnte. Wenn es in einem | |
Haus brennt, frage ich doch nicht die Feuerwehrleute, welche politische | |
Einstellung sie haben. Dann bin ich vielmehr froh um jeden, der mir hilft, | |
den Brand zu löschen.“ | |
In seiner Funktion als Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde führt Oleg | |
Rostovtsev Gespräche mit den Ultranationalisten, bringt auch Besucher aus | |
Russland mit ihnen in Kontakt. Wieder bemüht er einen Vergleich. „Auch mir | |
gefällt an meinem Körper nicht alles, ich mag meine Pickel nicht, aber ich | |
akzeptiere meinen Körper. Und wir bauen hier eine Nation auf, die für alle | |
da ist: Juden, Armenier, Ukrainer und auch die Nationalisten. Russland | |
wollte uns Juden lange als fünfte Kolonne aufbauen, weil wir zu 98 Prozent | |
russischsprachig sind. Doch das ist nicht gelungen.“ | |
Nicht alle denken so wie das Vorstandsmitglied Oleg Rostovtsev. In der | |
Voksalnaja-Straße Nr. 5, nur fünf Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, hat | |
die Gewerkschaft „Schutz der Arbeit“ ihr Büro, die vor allem Arbeiter der | |
berühmten Raketenfabrik „Juschmasch“ vertritt. Man miete den Raum fast | |
kostenlos, sagt Gewerkschaftssprecher Jewgenij Derkatsch. Es klingt | |
glaubwürdig: Wasserflecken an der Decke, regelmäßige Stromausfälle, ein | |
knarrender Holzfußboden machen deutlich, dass man sich in einem Raum | |
befindet, für den ein Vermieter nur wenig verlangen kann. | |
## „Die ukrainische Gesellchaft ist zutiefst gespalten“ | |
Die PCs im Büro sind alle mindestens 15 Jahre alt, alle Mitarbeiter tragen | |
abgewetzte Hosen. Die Stühle scheinen aus einem alten Theater zu stammen, | |
jeweils drei rot gepolsterte, miteinander verbundene Stühle sind auf beiden | |
Seiten eines kleinen Holztisches montiert. In der Ecke stehen Fahnen, eine | |
anarchistische, eine ukrainische und Fahnen verschiedener Gewerkschaft. | |
Daneben, auf dem Fensterbrett, ein Megafon. Wenn der Strom nicht gerade mal | |
wieder ausfällt, surrt der Ventilator. An eine Klimalanlage ist nicht zu | |
denken. | |
In dem zwei mal fünf Meter großen Raum wird es bereits ab dem zweiten | |
Besucher eng. Einer davon ist an diesem Tag Michail, der als Ingenieur bei | |
„Juschmasch“ arbeitet. Seinen Nachnamen hält er für „unwichtig“. Mich… | |
fühlt sich von der jüdischen Gemeinde in Dnipropetrowsk nicht vertreten. Er | |
berichtet, dass er von Kurzarbeit bedroht ist. Koschere Lebensmittel könne | |
er sich gar nicht leisten. „Die ukrainische Gesellschaft ist zutiefst | |
gespalten“, sagt er. „Und die Juden in der Ukraine sind von dieser Spaltung | |
genauso betroffen.“ | |
In der jüdischen Gemeinde, meint Michail, hätten diejenigen das Sagen, die | |
dem früheren Gouverneur und Oligarchen Igor Kolomojskij ergeben seien. Eine | |
Zusammenarbeit mit dem Rechten Sektor lehnt der Ingenieur rigoros ab. Er | |
kann nicht verstehen, warum die jüdische Gemeinde sogar Geld für den | |
Rechten Sektor sammelt. | |
„Bei den letzten Wahlen habe ich für den Oppositionsblock abgestimmt. Der | |
wird uns eher einem Frieden näherbringen als die politischen Kräfte, die | |
mit dem Rechten Sektor zusammenarbeiten.“ Auch im Oppositionsblock, erklärt | |
Michail, gebe es führende Vertreter der jüdischen Gemeinde. Einer von ihnen | |
ist der Rada-Abgeordnete Rabinowitsch, der gleichzeitig auch Präsident des | |
Ukrainischen Jüdischen Kongresses ist. | |
11 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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