| # taz.de -- Jüdisches Neujahrsfest in der Ukraine: Sieben Tage Schtetl | |
| > Zum jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana pilgern zehntausende Juden aus | |
| > aller Welt nach Uman zum Grab des Rabbi Nachman. | |
| Bild: Wer das Neujahrsfest in Uman verbringt, wird Glück haben im neuen Jahr, … | |
| Uman taz | In Uman halten die Reisenden auf der langen Fahrt zwischen Kiew | |
| und Odessa für gewöhnlich nur, um den Landschaftspark Sofijiwka zu | |
| besuchen, den ein Graf um 1800 anlegen ließ. Ansonsten ist Uman eine | |
| Provinzstadt mit kleinen Häusern und den typischen sowjetischen | |
| Plattenbauten. Nur für eine Woche im Herbst schwillt der Besucherstrom an. | |
| Dann kommen 30.000 jüdische Pilger, und die Straßen füllen sich mit frommen | |
| Männern in traditionellen schwarzen Gewändern, mit Schläfenlocken und | |
| mächtigen Hüten. Sie kommen, um am Grab des Rabbi Nachman Rosch ha-Schana, | |
| das jüdische Neujahrsfest, zu feiern. In diesem Jahr begannen die | |
| Feierlichkeiten zum Beginn des Jahres 5776 nach jüdischem Kalender am | |
| Sonntagabend und dauerten bis Dienstag. | |
| Die Pilger sind Anhänger des Chassidismus, einer Bewegung, die im 18. | |
| Jahrhundert im Judentum Osteuropas geboren wurde. Seinen Mitgliedern, den | |
| Chassidim, war nicht nur das Studium von Thora und Talmud wichtig, sondern | |
| ebenso Mystik, Lebensfreude und eine enge Bindung an den Rabbi. Er wurde | |
| als Zaddik, als Gerechter, verehrt. Einer ihrer letzten war Rabbi Nachman, | |
| der 1772 in der heutigen Westukraine geboren wurde und 1810 in Uman | |
| gestorben ist. Bereits 1811 sollen erstmals Chassidim zu Rosch ha-Schana zu | |
| seinem Grab gepilgert sein. | |
| In den Vierteln um das Mausoleum ist es eng. Barov Ihman ist aus Israel | |
| angereist, erzählt er. Einmal im Leben sollte ein Chassid zum Grab des | |
| Rebbe reisen, sagt er. Ihman hat diese Pflicht längst erfüllt. Er ist | |
| bereits das zwölfte Mal hier. Doch dann hebt er an zu klagen: Jedes Jahr | |
| werde die Anreise teurer und die Einheimischen nähmen für die Übernachtung | |
| auch nicht wenig. „Es kommt vor, dass in einem Zimmer bis zu zehn Pilger | |
| schlafen“, berichtet er. „Für einen einzigen Schlafplatz nehmen sie bis zu | |
| 200 Dollar!“ | |
| Die Wohnungen in direkter Nähe des Grabs sind ein halbes Jahr im voraus | |
| ausgebucht. Waleri Below, ein Anwohner, ist gesprächig: „Ein Eigentümer, | |
| der seine Dreizimmerwohnung mit Stockbetten vollstellt, kann bis zu 3.000 | |
| Dollar verdienen.“ Ja, natürlich vermiete er auch. Er spreche sogar | |
| Hebräisch, erzählt Below, und könne auch Exkursionen anbieten. | |
| ## „Die Müllabfuhr schafft das nicht“ | |
| Viele seiner Gäste bezeichnet Below inzwischen als „Freunde“, aber den | |
| Ansturm sieht er zwiespältig. „Die Besucher machen viel Müll und die | |
| Müllabfuhr schafft das nicht“, schimpft er. Below ist nicht der Einzige, | |
| der klagt. Die Viertel beim Mausoleum sind mit Müll übersät, die Mülleimer | |
| quellen über. Obwohl die Stadtreinigung zusätzliche Arbeiter einsetzt, | |
| kommt sie nicht hinterher. | |
| In diesem Jahr gibt es auch einen Konflikt zwischen den Betreibern der | |
| Zeltstadt, in der viele Pilger übernachten, und den Anwohnern. Die | |
| Zeltstadt habe gesetzwidrig kommunale Fläche eingezäunt und dadurch den | |
| Zugang zum Fluss versperrt, erklärt Ludmilla Kiriljuk, die | |
| Vizebürgermeisterin von Uman. Einheimische haben den Zaun wieder | |
| niedergetreten. Jetzt haben sich die Gemüter beruhigt, hofft sie, denn die | |
| Stadtverwaltung habe erlaubt, den Zaun wieder aufzurichten. | |
| Damit es künftig ruhiger bleibt, werden in Uman während des Festes | |
| zusätzlich 400 Polizisten eingesetzt. Einige von ihnen können schon ein | |
| wenig Hebräisch. Und auch Israel schickt 15 Polizisten. „Sie können alle | |
| Russisch, alle sind in der Sowjetunion geboren und alle sind Mitglieder | |
| einer gut ausgebildeten Spezialeinheit“, erzählt Pressesprecher Michail | |
| Zingerman. | |
| ## Menschen aus Amerika, Israel, Australien | |
| Aber nicht für jeden in Uman sind die Pilger nur Geldquelle oder Ärgernis. | |
| Wladimir Zwerew hat sich vor einem mächtigen Zelt aufgebaut. Es ist die | |
| provisorische Synagoge und Zwerew ist Wachschützer – ehrenamtlich. „Es gibt | |
| wenige Ort in der Ukraine, wo man Menschen aus aller Welt sehen kann – | |
| Amerika, Israel, Australien“, begründet er sein Engagement. „Und im | |
| nächsten Jahr werden dann noch mehr kommen“, freut er sich. „Denn sie | |
| wissen, dass in Uman Ordnung herrscht.“ | |
| Die hiesige jüdische Gemeinde hat zum Fest die Stadtverwaltung auf ihre | |
| Weise erfreut und 13.000 Dollar auf ein Sonderkonto überwiesen. Damit will | |
| sie die Einwohner Umans unterstützen, die als Freiwillige in Osten des | |
| Landes den Separatisten gegenüberstehen. | |
| Am 15. September sind die ersten Pilger zwar wieder abgereist, doch noch | |
| bis Freitag kann man in Uman zwischen Pilgern spazieren, als wäre man in | |
| einem jüdischen Schtetl. Und dann pegelt sich auch das Stromnetz wieder | |
| ein. „Es ist während der Feiertage extrem überlastet“, verrät der | |
| Elektriker Wassili. „Die Chassiden durften das Licht von Sonntagabend an | |
| nicht mehr ausschalten.“ Doch bald kann sich Wassili wieder entspannen. | |
| In der Stadtverwaltung beginnt man hingegen die Einnahmen zu zählen. Im | |
| letzten Jahr haben die Pilger der Stadt 2 Millionen Griwna beschert, etwa | |
| 80.000 Euro. Vizebürgermeisterin Kiriljuk dürfte auch in diesem Jahr | |
| zufrieden sein. Rebbe Nachman bleibt ein Segen, 205 Jahre nach seinem Tod. | |
| Aus dem Russischen Thomas Gerlach | |
| 18 Sep 2015 | |
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