# taz.de -- Debatte Ukraine-Konflikt: Heißer oder kalter Krieg | |
> Eine Umsetzung des Minsker Abkommens vom Februar ist und bleibt ein | |
> Phantasma. Ein anderer Konflikt zeigt, dass die Lösung einfach sein | |
> könnte. | |
Bild: Tauziehen als Übung, bevor es an die Front geht: Das „Azov“-Bataillo… | |
Mal ehrlich: Würden Sie einen Vertrag verlängern, wenn Sie sehen, dass | |
bislang kein einziger der vereinbarten Punkte eingehalten wurde? Wohl kaum. | |
Und so stellt sich die Frage, ob ein Vertrag wie der im Februar vereinbarte | |
Waffenstillstandsvertrag von Minsk das Papier wert ist, auf das er gedruckt | |
wurde. | |
Ein neuer Vertrag muss her! Und dieser neue Waffenstillstandsvertrag muss | |
bescheidener ausfallen. Er sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass man | |
derzeit nicht die Wahl zwischen Krieg und Frieden hat. Man hat nur die Wahl | |
zwischen kaltem und heißem Krieg. Das bedeutet, der Konflikt in der | |
Ostukraine muss eingefroren werden. Und für ein erfolgreiches Einfrieren | |
eines blutigen Krieges gibt es ein Vorbild in der früheren Sowjetunion. | |
In einem anderen Konflikt auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion spielte | |
Minsk schon einmal eine wichtige Rolle: Im Südkaukasus haben vor gut zwei | |
Jahrzehnten über 30.000 Menschen im Konflikt um Nagorny Karabach ihr Leben | |
verloren; ein Konflikt, der in seiner Grausamkeit den ostukrainischen | |
Konflikt um Einiges übertraf. Dutzende von Armeniern waren Ende der 80er | |
Jahre in Aserbaidschan, Dutzende von Aserbaidschanern in Armenien Opfer | |
schrecklicher Pogrome geworden. | |
Am 5. Mai 1994 hatten sich Armenier und Aserbaidschaner im kirgisischen | |
Bischkek auf einen Waffenstillstand geeinigt. Wenige Wochen nach | |
Inkrafttreten dieses Waffenstillstands hatte die OSZE auf einer Konferenz | |
in Minsk eine „Minsk-Gruppe“ ins Leben gerufen, die den Waffenstillstand | |
überwachen und eine Plattform für Gespräche zur Regulierung des | |
Karabach-Konflikts bieten sollte. | |
## Verzicht auf eine Paketlösung | |
Seit 1994 überwacht die Minsk-Gruppe der OSZE den Waffenstillstand im | |
armenisch-aserbaidschanischen Konflikt. Kovorsitzende der Minsk-Gruppe sind | |
ein US-amerikanischer, ein französischer und ein russischer | |
Sonderbotschafter. Vor Ort überwachen mehrere Dutzend OSZE-Beobachter unter | |
der Leitung des polnischen OSZE-Botschafters Andrzej Kasprzyk den | |
Waffenstillstand. Kasprzyk steht im ständigen Kontakt zu den armenischen | |
und aserbaidschanischen Kommandeuren, die Beobachter besuchen regelmäßig | |
die Waffenstillstandslinie. | |
Dieser OSZE-Gruppe ist es gelungen, über zwanzig Jahre hinweg einen | |
brüchigen Waffenstillstand zu halten. Immer wieder kommen Soldaten bei | |
Schusswechseln ums Leben, doch seit 1994 gibt es keinen Krieg mehr zwischen | |
Armeniern und Aserbaidschanern. | |
Es gibt einen Waffenstillstand im Karabach-Konflikt, weil man im Protokoll | |
auf eine Paketlösung verzichtet hat. Paketlösungen bergen immer die Gefahr | |
in sich, dass das gesamte Paket ad acta gelegt wird, wenn einige Punkte des | |
Pakets nicht erfüllt werden. Eine weitere Gefahr von Paketlösungen ist die, | |
dass der Teufel im Detail steckt und man sich bei der Umsetzung nicht | |
einigen kann, mit welchem Punkt begonnen werden müsste. Ein „Wenn – Dann“ | |
kann die gesamte Umsetzung unmöglich machen. | |
Während der Krieg um Nagorny Karabach also beendet werden konnte, | |
scheiterten in der Folge alle weiteren Friedensbemühungen in diesem | |
Konflikt. Sie scheiterten an der Statusfrage von Nagorny Karabach und dem | |
Konflikt zwischen „Paketlösung“ und „etappenweiser Konfliktregulierung�… | |
Während die armenische Seite mehrere Fragen gemeinsam in eine „Paketlösung�… | |
eingebunden sehen wollte, hatte Aserbaidschan immer wieder für eine | |
„Schritt für Schritt“-Lösung plädiert. | |
## Grausamer als der Ukraine-Konflikt | |
Das armenisch-aserbaidschanische Waffenstillstandsprotokoll vom Mai 1994 | |
ist verglichen mit den 13 Punkte starken Minsker Waffenstillstandsabkommen | |
vom Februar 2015 zum Ukraine-Konflikt kürzer, bescheidener, nur in einem | |
einzigen Punkt, dem Waffenstillstand, konkret. Auf den ersten Blick scheint | |
es, als sei das Minsker Abkommen 2015 ausgeklügelter als das Dokument von | |
1994. Doch das Dokument von 1994 hat gerade wegen seiner Einfachheit und | |
Bescheidenheit bis heute Gültigkeit. | |
Eigentlich müsste die Ukraine doch auch schaffen, was Armeniern und | |
Aserbaidschanern 1994 gelungen ist. Viele Voraussetzungen sind | |
vergleichsweise sogar weitaus günstiger. So ist der | |
armenisch-aserbaidschanische Konflikt ein politischer und ein ethnischer, | |
während der ukrainische Konflikt „nur“ ein politischer ist. Zwischen | |
Armenien und Aserbaidschan gibt es kaum noch Kontakte, es gibt keine | |
diplomatischen Beziehungen, die Telefonverbindung zwischen Aserbaidschan | |
nach Armenien ist blockiert. Ukrainer aus von Kiew kontrollierten Gebieten | |
hingegen telefonieren ständig mit Ukrainern in Donezk oder Lugansk. | |
Der Karabach-Krieg war, so man das sagen kann, auch grausamer als der | |
Ukraine-Konflikt. Dem Karabach-Krieg waren schreckliche Pogrome auf beiden | |
Seiten vorausgegangen. In Aserbaidschan waren Fahrgäste aus dem Zug geholt | |
und misshandelt worden, nur weil sie armenische Namen trugen. Ukrainer | |
hingegen reisen heute zu Tausenden nach Russland, ohne von irgendjemandem | |
behelligt zu werden. Auch deswegen könnte und dürfte ein Waffenstillstand | |
in der Ukraine stabiler sein, als es der armenisch-aserbaidschanische ist. | |
## Man muss auf Zeit spielen | |
Sicherlich mag es unbefriedigend erscheinen, wenn in einem Konflikt „nur“ | |
eine Waffenruhe erzielt werden kann, alle anderen Probleme aber vorerst | |
ungelöst bleiben. Und es gibt viele Fragen, die neben einer Waffenruhe | |
geklärt werden müssen: der Wiederaufbau, die Freilassung von | |
Kriegsgefangenen, eine mögliche Bestrafung von Kriegsverbrechern, das | |
Abhalten von Wahlen und die Statusfrage. Die Zeit wird die Wunden etwas | |
heilen. Solcherlei Fragen zu lösen dürfte nach einer mehrjährigen | |
Waffenruhe einfacher werden als bei einer blutigen Auseinandersetzung. | |
„Step by Step“ vorzugehen ist bei derartigen Konflikten in der früheren | |
Sowjetunion erfolgversprechender als eine Paketlösung. Je übersichtlicher | |
und kürzer eine Waffenstillstandsvereinbarung ist, desto höher sind die | |
Chancen, dass sie eingehalten wird. Deswegen ist zu hoffen, dass die | |
nächste Vereinbarung von Minsk schlicht und einfach lautet: „Ab sofort | |
schweigen die Waffen.“ | |
17 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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