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# taz.de -- Ukrainische Freiwillige und Kriegsgegner: Zwei Einzelkämpfer
> Die Nationalheldin Nadeschda Sawtschenko zieht freiwillig in den Krieg.
> Ruslan Kotsaba verweigert sich. In Haft sitzen beide.
Bild: Seit dem 13. Dezember im Hunrstreik: Nadeschda Sawtschenko.
KIEW taz | Nadeschda Sawtschenko und Ruslan Kotsaba kommen beide aus der
Ukraine und haben vieles gemeinsam: ihre Ehrlichkeit, die Authentizität,
ihre Kompromisslosigkeit und die Bereitschaft, für ihre Überzeugung
Freiheit und das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.
Beide sitzen in Untersuchungshaft. Beide kommen aus ukrainisch sprechenden
Familien, beiden fällt es schwer, russisch zu reden. Beide kennen den Krieg
in der Ostukraine nicht nur vom Hörensagen. Für beide kämpfen
internationale Menschenrechtsorganisationen. Die eine gilt vielen als
Heldin, der andere als Verräter.
Die 33-jährige Nadeschda Sawtschenko steht in Moskau vor Gericht. Ihr wird
vorgeworfen, am 17. Juni 2014 als Navigationsoffizierin eines ukrainischen
Hubschraubers die Koordinaten der russischen Journalisten Igor Korneljuk
und Anton Woloschin an den Bordschützen durchgegeben zu haben, der die
beiden dann tödlich getroffen hatte.
Sawtschenko bestreitet das. Sie sei bereits vor dem Tod der russischen
Journalisten in Gefangenschaft geraten, sagt sie. Außerdem schieße sie
nicht auf Unbewaffnete. Ihr Fall erregt international Aufsehen. Denn die
Ukraine wirft Russland die Entführung Sawtschenkos vor. Seit dem 13.
Dezember befindet sie sich im Hungerstreik.
## Seine Videobotschaft
Während Sawtschenko in Russland die Nahrungsaufnahme verweigert, verkündet
der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am 19. Januar 2015 die
Teilmobilisierung. Für den Journalisten Ruslan Kotsaba aus dem
westukrainischen Iwano-Frankiwsk ist das der Grund, eine 13-minütige
Videobotschaft in ukrainischer Sprache aufzunehmen, die er an den
Präsidenten und das ukrainische Volk richtet. Er erklärt, dass er sich an
dem „brudermörderischen Krieg“ nicht beteiligen werde. Gleichzeitig ruft er
die Menschen in der Ukraine auf, es ihm gleichzutun und den Kriegsdienst zu
verweigern. „Es darf nicht sein, dass Menschen im 21. Jahrhundert andere
Menschen töten, weil diese unabhängig von Kiew leben wollen.“ Er werde
lieber ins Gefängnis gehen, als seine Landsleute zu töten.
Innerhalb weniger Tage wird Kotsabas Videobotschaft auf YouTube über
100.000-mal geklickt. „Es freut mich, dass mein Beitrag innerhalb weniger
Tage von über 100.000 Leuten angeklickt worden ist“, bekennt Kotsaba damals
der taz. „Aber noch schöner wäre es, wenn sich jemand öffentlich mit mir
solidarisieren würde, öffentlich sagen würde, dass er ebenfalls den
Kriegsdienst verweigert.“ Am 8. Februar 2015 wird der Journalist in
Iwano-Frankiwsk festgenommen. Ein Richter ordnet 60 Tage Untersuchungshaft
an. Der Grund: Landesverrat und Behinderung der Streitkräfte. Im Fall einer
Verurteilung drohen Kotsaba, Vater zweier Töchter, bis zu 15 Jahre Haft.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert die
ukrainischen Behörden auf, den Journalisten sofort freizulassen.
## Ihr Traum vom Fliegen
Mehr als ein halbes Jahr befindet sich nun Nadeschda Sawtschenko in
russischer Gefangenschaft und wartet auf ihren Prozess. Seit sie denken
kann, träumt sie vom Fliegen, erzählt ihre Mutter, die 77-jährige Maria
Sawtschenko, der Presse. „Nadja war sechs Jahre alt, als wir auf die Krim
geflogen sind. Sie saß die ganze Zeit am Fenster und hat sich sofort in den
Himmel verliebt. Sie hat mich gefragt, warum wir Menschen eigentlich nicht
wie die Vögel fliegen könnten.“
Aber Nadeschda Sawtschenko will nicht einfach Pilotin eines
Verkehrsflugzeuges werden, sie möchte ein Kampfflugzeug steuern. „Ich habe
Nadja immer gesagt: Militär ist Männersache, das ist nichts für Frauen“,
erzählt ihre Mutter. „Doch Nadja wollte nie auf mich hören. Sie ist einfach
ihren Weg gegangen.“
Aber der Traum vom Fliegen bleibt Sawtschenko zunächst verwehrt. Dreimal
hat sich die Berufssoldatin, die 2004/2005 auch im Irak stationiert war, an
der Luftwaffenschule in Charkiw beworben – immer vergeblich. Man wolle
keine Frauen auf der Luftwaffenschule, gibt man ihr zu verstehen. Erst als
sich der Verteidigungsminister persönlich für sie starkmacht, darf sie in
Charkiw studieren, als einzige Frau unter 40 männlichen Rekruten. 2009
schließt sie die Schule als Navigationsoffizierin für Jagdbomber des Typs
Su-24 ab. Doch zu ihrer Enttäuschung wird sie nach ihrer Ausbildung in
Hubschraubern, nicht im Kampfbomber eingesetzt.
## Freiwiilligenbataillon Aidon
Im Frühjahr 2014 nimmt sich Sawtschenko unbezahlten Urlaub von der Armee
und macht sich auf eigene Faust in Richtung Luhansk auf. Unterwegs schließt
sie sich dem Freiwilligenbataillon „Aidar“ an. Sawtschenko bildet fortan
Kämpfer aus und gibt als Navigationsoffizierin im Hubschrauber dem Schützen
die Zielpositionen durch. Soweit man weiß, wird sie von den Aufständischen
der Republik Luhansk gefangenen genommen und nach etwa zwei Wochen an
Russland ausgeliefert. Sie gibt an, widerrechtlich entführt worden zu sein.
So wie Sawtschenko den Wandel in der Ukraine auf ihre Weise unterstützt,
handelt auch der 48-jährige Journalist Ruslan Kotsaba aus Überzeugung. Der
studierte Forstwirt schließt sich früh der Opposition an. Als die Menschen
2001 in der Ukraine gegen den damaligen Präsidenten Kutschma auf die Straße
gehen, weil dieser in den Mord an dem Journalisten Gongadse verwickelt sein
soll, ist Kotsuba genauso dabei wie 2004 bei den Massenprotesten der Orange
Revolution.
Auch 2014 demonstriert Ruslan Kotsaba regelmäßig auf dem Kiewer Maidan,
gegen Wiktor Janukowitsch. Im Mai 2014 stimmt er für den
Präsidentschaftskandidaten Poroschenko. Im Sommer 2014 macht sich der
freiberufliche Fernsehjournalist auf eigene Faust auf den Weg nach Luhansk.
Kotsaba ist bis dahin der einzige westukrainische Journalist, der sich
offen bei den Behörden der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk
akkreditiert und vor Ort recherchiert. Was Kotsaba in Luhansk erlebt,
erschüttert ihn zutiefst. Der Geruch faulenden menschlichen Fleisches lasse
ihn nicht mehr los. „Was ich in Luhansk gesehen habe, entsprach in keiner
Weise dem, was wir in unseren Medien immer erzählt bekommen“, sagt der
Journalist damals der taz. „Als ich dann von der Teilmobilisierung hörte,
habe ich in Gedanken die Gesichter Revue passieren lassen, die ich dort
gesehen habe, und mich entschieden: Ich werde auf diese Menschen nicht
schießen.“
Kotsaba veröffentlicht seine Erlebnisse hinter der Front, er interviewt für
den Fernsehsender 112 Ukraine Bewohner von Luhansk, die die Bombardierung
ihrer Stadt schildern. Er weigere sich, die Aufständischen als Terroristen
zu bezeichnen. Sein Fazit: Besser ein schlechter Friede als ein guter
Krieg.
Das Vorgehen der Polizei, die Kotsaba verhaftetet, erinnert ihn an Stalins
Geheimdienst NKWD. Auch in Haft gibt er sich unbeugsam. Er bereue nichts.
Die Politiker werden erst dann ernüchtern und ernsthaft verhandeln, wenn
ihnen das menschliche Kanonenfutter ausgehe, ist Kotsaba überzeugt.
## Zur „Heldin der Ukraine“ ernannt
Was Nadeschda Sawtschenko für die ukrainischen Patrioten bedeutet, die für
die Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen mit der Waffe in der Hand
oder der Sammelbüchse vor der Brust kämpfen, versinnbildlicht der
Journalist Ruslan Kotsaba für die Ukrainer, die sich weigern, in diesem
Krieg zu kämpfen. Doch kaum jemand tut dies so offen wie Kotsaba – aus
Angst vor Repressionen. Viele junge Leute entziehen sich – aber sie
verweigern nicht offiziell. „Von einer Bewegung kann ich deswegen leider
nicht sprechen“, räumt Kotsaba gegenüber der taz kurz vor seiner Verhaftung
ein. „Ich bin wohl ein Einzelkämpfer.“
Dennoch: Der Unwille der Ukrainer, in diesem Krieg zu kämpfen, wächst. Nur
so lässt sich erklären, dass man sogar erwägt, Strafgefangene in den Krieg
zu schicken. Unterdessen beobachtet die ukrainische Öffentlichkeit gespannt
die Vorbereitungen für den Prozess gegen Kotsaba.
Deshalb setzen Behörden, Regierung und Medien bei ihren Bemühungen, die
Wehrbereitschaft zu stärken, immer mehr auf das Vorbild der furchtlosen
Offizierin Nadeschda Sawtschenko. In der vergangenen Woche hat Präsident
Petro Poroschenko sie zur „Heldin der Ukraine“ ernannt. Die ganze
Gesellschaft bangt mit der Frau, die allein in Moskau mit ihrem
Hungerstreik den Kreml herausfordert. Kaum eine Nachrichtensendung, kaum
eine Zeitung, in der nicht über Sawtschenko berichtet wird.
Die Stimmung im Land ist polarisiert. Die Freilassung der beiden
Untersuchungshäftlinge würde ein Stück Deeskalierung bedeuten. Sehr
wahrscheinlich ist das nicht. Ein Mitglied des Menschenrechtsrats des Kreml
teilte vergangene Woche mit, Sawtschenkos Gesundheitszustand habe sich
bedrohlich verschlechtert. Die junge Frau könne „innerhalb weniger Tage“
sterben.
7 Mar 2015
## AUTOREN
Bernhard Clasen
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