# taz.de -- Binnenflüchtlinge in der Ukraine: In der sicheren Ungewissheit | |
> Etwa 35 Euro zahlt der Staat einem Flüchtling pro Monat – aber nur sechs | |
> Monate lang. Viele leben seit mehr als einem Jahr in Provisorien. | |
Bild: Swetlana Lewkowska leitet den ukrainischen Arbeitersamariterbund. | |
Kiew/Charkiw taz | Vitali Klitschko trifft mit einer Viertelstunde | |
Verspätung ein. Weitere 15 Minuten braucht der Bürgermeister von Kiew, um | |
richtig anzukommen. Fahles Gesicht, hängende Schultern, immer und immer | |
wieder ballt er die Fäuste, ringt nach Worten. „Ich kann Ihnen unsere | |
Arbeit nicht als einen Erfolg präsentieren“, sagt er schließlich. Fast zwei | |
Millionen Binnenflüchtlinge gibt es in der Ukraine, allein in Kiew sind | |
100.000 untergekommen. Die meisten bei Freunden und Verwandten, | |
ursprünglich wollten sie nur ein paar Wochen bleiben. Jetzt leben viele | |
seit über einem Jahr in Provisorien. | |
Er komme gerade von der Einweihung einer Flüchtlingsunterkunft, berichtet | |
Klitschko und versucht sich an einem Vergleich. Beim Boxen habe man den | |
Gegner immer vor sich und wisse genau, in welcher Runde man gerade kämpft, | |
erklärt der Exboxer. Dies hier aber sei etwas völlig anderes, räumt der | |
Bürgermeister in ihm ein. „Ich muss gestehen, ich bin deprimiert.“ | |
Etwas von dieser Stimmung lässt sich auch in einem Kindersanatorium am | |
Rande der Stadt erahnen. Marina steht in einer riesigen Halle, hinter sich | |
endlose Reihen prall gefüllter weißer Plastiktüten mit der Aufschrift ASB. | |
Der Arbeiter-Samariter-Bund hat sie mit Mehl, Zucker, Dosenfleisch, | |
gezuckerter Milch, Öl, Marmelade, Grieß, Sardinen, Waschpulver und | |
Toilettenpapier füllen lassen – der Monatsration für einen Bedürftigen. | |
Tausend solcher Tüten verpackt die 33-jährige Marina pro Tag. | |
Sie ist selbst Flüchtling und froh über die Beschäftigung, die sie ablenkt. | |
Marina ist vor einem Jahr aus dem ostukrainischen Luhansk, das damals von | |
Separatisten belagert wurde, geflohen. Umgerechnet 35 Euro im Monat zahlt | |
der Staat jedem Flüchtling – ein halbes Jahr lang. Danach ist Schluss. Etwa | |
250 Euro kostet die Kaltmiete in Kiew im Schnitt – mindestens. Die meisten | |
Flüchtlinge sind daher auf die deutschen Fresspakete mit dem ASB-Logo | |
angewiesen. | |
## Großzügige Metro | |
Auf die eigene Regierung ist die 70-jährige Swetlana Lewkowska nicht gut zu | |
sprechen. Seit zwanzig Jahren leitet sie den Ukrainischen Samariterbund, | |
den lokalen Partner des deutschen ASB. | |
Von Anfang an habe sie gegen eine absurde Bürokratie ankämpfen müssen, | |
erzählt Swetlana in perfektem Deutsch. „Wir wollten damals einen mobilen | |
häuslichen Pflegedienst nach deutschem Modell einführen. Das hätte nur 300 | |
Hrywnja gekostet“, erzählt die Leiterin - statt der 3.000 Hrywnja, die der | |
Staat für die stationäre Unterbringung eines Bettlägerigen monatlich | |
aufbringen musste. „Doch statt zu helfen, hat uns das | |
Gesundheitsministerium Knüppel zwischen die Beine geworfen“, seufzt | |
Swetlana Lewkowska. „Ohne die Unterstützung der Partner gäbe es uns heute | |
nicht.“ Das System, resümiert sie, habe sich bis heute nicht geändert. | |
Die resolute Frau gehört zur Generation der Kriegskinder. Sie weiß, wie es | |
ist, Not zu leiden. Stolz präsentiert sie das Freiwilligenzentrum „Das | |
besondere Kind“ gleich nebenan. Es ist eine Zuflucht für 16 | |
Flüchtlingskinder mit Behinderung und ihre Eltern. Die Möbel sind aus Holz, | |
duftende Piroggen stehen auf dem Tisch. „Ich hatte einen Antrag bei der | |
Großhandelskette Metro gestellt. Sie bewilligten dann 15.000 Euro. Ich habe | |
gesagt, ich brauche aber 40.000. Und die habe ich bekommen“, berichtet | |
Swetlana Lewkowska – und verschweigt, dass sie im Dezember 2014 vom | |
deutschen Botschafter die Verdienstmedaille verliehen bekam. | |
## Im Kämpferlook | |
In der Kiewer Innenstadt sitzen unterdessen Waleri, Igor und Oleksandr im | |
Restaurant „Mafia“ bei Rippchen und Bier. Die drei Maidan-Kämpfer ziehen | |
die Blicke auf sich – Militärhosen, Krücken und ein Lodern in den Augen. | |
Alle drei wurden bei den Unruhen schwer verletzt und in einem Prager | |
Krankenhaus behandelt. Im Unterschied zu dem orientierungslosen | |
Bürgermeister Klitschko wissen sie genau, wo der Feind sitzt – im Moskauer | |
Kreml, aber auch im ukrainischen Parlament und natürlich in den fetten | |
Karossen mit Donezker Kennzeichen. | |
„Guck dir die Fresse da drüben an“, zischt Oleksandr. Ein Besoffener in | |
straff sitzenden Markenklamotten hat demonstrativ sein Bein ausgestreckt. | |
Die Kellnerinnen in ihren kurzen Röcken müssen bei jedem Gang darüber | |
hüpfen. Der Dicke quiekt vor Vergnügen. „Ich muss nicht in seinen Pass | |
gucken, um zu wissen, dass er aus Donezk ist!“ Oleksanders Stimme bebt vor | |
Zorn. „Hier ist die Telefonnummer unserer Selbstverteidigung“, winkt er | |
eine Kellnerin heran. „Wenn der Typ frech wird, sagt den Jungs Bescheid, | |
die kommen sofort!“ | |
Es ist bald ein Jahr her, dass die letzten Zelte auf dem Maidan weggeräumt | |
wurden. Doch die drei Veteranen denken nicht ans Aufhören. Sie haben | |
Freiwilligeninitiativen gegründet, sie heißen „Phönix Ukraine“ oder „L… | |
der Unbesiegten“, sie sammeln Spenden und mischen sich ein – gefürchtet, | |
bemitleidet, bewundert. | |
In Charkiw, 400 Kilometer weiter östlich, ist der Patriotismus deutlich | |
gedämpfter. Nur 40 Kilometer entfernt sind Zehntausende russische Soldaten | |
stationiert. Bei jedem Flugzeug, das vorüberzieht, zuckt man unwillkürlich | |
zusammen. Es gibt mehr Camouflage, mehr Krieg. Hier weinen sie nicht erst | |
nach der zweiten Frage, sondern schon bevor man überhaupt zu fragen | |
anfängt. | |
## Wo die Vorfahren ruhen | |
Sina ist 54 Jahre alt und nur noch ein Schatten – schmale Hosen, helle | |
Bluse, die Hände wie zum Gebet gefaltet. „Viele aus meiner Stadt Perwomajsk | |
sind nach Russland ausgereist“, beginnt sie zu erzählen. „Mein Vater ist | |
auch Russe, aber Mama ist in Charkiw geboren. Was soll ich in Russland? Die | |
Heimat ist dort, wo die Vorfahren ruhen“, fährt sie fort. „Ich bin | |
Ukrainerin!“ Sina seufzt: „Wenn ich doch für immer in Charkiw bleiben | |
könnte. Diese Ungewissheit ist am schlimmsten.“ | |
Sina steht im Eingang eines heruntergekommenen Pionierlagers. „Kamille“ | |
heißt es und liegt in einem Wäldchen außerhalb von Charkiw. Sie wartet auf | |
eine der Tüten mit dem ASB-Aufdruck. Als sie endlich an die Reihe kommt, | |
entfährt ihr ein tiefer Seufzer. Nein, kein Foto bitte! Schon ist sie weg. | |
Die Tüten finden auch den Weg in das im Januar eröffnete deutsche | |
Transit-Modulstädtchen nahe Charkiw – eins von mehreren. Es ist ein | |
Deutschland in Miniatur, viel Schotter und Plastik, mit | |
Siemens-Waschmaschinen und Behindertentoiletten. Auch wenn die | |
Flüchtlingsheime noch so verschieden sind, die Schicksale ihrer Bewohner | |
ähneln sich. | |
Die 59 Jahre alte Maria ist vor einem Jahr mit ihrem Mann geflüchtet. Kurz | |
zuvor hatte die Familie ihr neues Haus in Luhansk fertig gebaut. Deswegen | |
hätten ihre Söhne wohl bis zuletzt nicht geglaubt, dass die Eltern wirklich | |
weggehen, erzählt Maria. „Wir saßen in der Küche und beteten. Schafft es | |
die ukrainische Armee? Schafft sie es nicht? Sie war ja nur noch drei | |
Kilometer entfernt.“ Maria sucht nach einem Taschentuch. „Aber dann musste | |
sie doch zurückweichen“, sagt sie bitter. „Ich habe meinen Kindern gesagt, | |
unter euren Separatisten, diesen Banditen, werde ich nicht leben!“ | |
Maria hat eine Erklärung dafür, warum die Beziehung mit dem ältesten Sohn | |
in die Brüche gegangen ist. „Seit er bei der orthodoxen Kirche des Moskauer | |
Patriarchats aktiv geworden ist, war er wie ausgewechselt“, erinnert sie | |
sich. „Ich glaube, die goldenen Kuppeln der Kirchen werfen das göttliche | |
Licht zurück und weisen es ab“ schimpft sie. | |
## Immer wieder Anschläge | |
Auf dem Freiheitsplatz in Charkiw, der mit knapp zwölf Hektar der größte | |
Platz Europas ist, stehen immer noch Euromaidan-Zelte. Wjatscheslaw ist | |
Russe. Der 21-Jährige trägt eine Wyschywanka, das traditionelle | |
Ukrainerhemd mit Stickereien, und verteilt mit bezauberndem Lächeln | |
blau-gelbe Bändchen. Dabei spricht er exzellent Ukrainisch, was für diesen | |
Teil des Landes keine Selbstverständlichkeit ist. Aus dem russischen | |
Krasnodar sei er abgehauen, erzählt er, weil er dort nicht mehr leben | |
könne. „Ich bin hier, damit die Russen nicht herkommen.“ | |
Diese Haltung teilt allerdings nicht jeder in Charkiw. Erst vor Kurzem | |
setzten prorussische Aktivisten eines der Zelte in Brand. Provokationen | |
sind an der Tagesordnung. Zwanzig Anschläge habe es in der Stadt in den | |
letzten zwölf Monaten gegeben, heißt es in der Verwaltung. | |
Stimmt nicht, allein fünfzig in diesem Jahr, behauptet die Organisation | |
Ukrop-Hall. „Hall“ steht für das ehemals gediegene Hotel „Charkiw“ am | |
Freiheitsplatz. „Ukrop“ ist die Abkürzung für „Ukrainische Opposition�… | |
ist aber auch das russische Wort für „Dill“. Inzwischen wird es von Russen | |
abwertend für Ukrainer benutzt. | |
Eine ganze Etage ist im Hotel mit Uniformen, Militärstiefeln und Ausrüstung | |
vollgestopft. Plakate, Postkarten, bunt bemalte Patronenholzkisten – | |
Pop-Art für Kriegsgeräte. Mehrere Freiwilligeninitiativen haben hier ihren | |
Sitz. Sie sammeln Spenden, füttern Webseiten, quittieren Bestellzettel und | |
organisieren Fahrten an die Front. Boris, 46, rühmt sich, gleich auf zwei | |
Abschusslisten der Separatisten zu stehen. Ob ihm das nicht Angst einflößt? | |
„Eher habe ich Angst, das Handtuch zu werfen. Wenn ich das mache, versinkt | |
alles im Chaos!“ | |
Zum Abschied gibt es Kühlschrankmagneten, Charkiw-Motive aus Porzellan. | |
Warum nicht gleich einen ausprobieren? Das Mini-Charkiw fällt sofort zu | |
Boden. „Macht nichts“, sagt eine Frau, die danebensteht. „Scherben bringen | |
Glück!“ Sie versucht zu lächeln – und bricht in Tränen aus. | |
Diese Recherchereise wurde vom [1][ASB Deutschland] unterstützt. | |
24 Jul 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.asb.de/de | |
## AUTOREN | |
Jarina Kajafa | |
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