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# taz.de -- Flüchtlingsfamilien in Dresden: Lauter neue Sachsen
> „Kinder haben es einfacher“, sagt die Afghanin Mina Faizi. Sie spüren das
> Provisorium, gewöhnen sich aber an neue Umgebung schneller als ihre
> Eltern.
Bild: Ein Stinkefinger gegen Ausländer ist zu verkraften, findet Khaled. Er un…
DRESDEN taz | Dresdner, die sich noch eine Gründerzeit- oder
Jugendstilwohnung leisten können, blicken eher verächtlich auf den
Stadtteil Gorbitz. Dabei zählt der Westhang mit seinem vielen Grün noch zu
den freundlichen Plattenbauvierteln der sächsischen Landeshauptstadt. Aber
durch den Wegzug, der seit mehr als zwanzig Jahren anhält, stehen
zahlreiche Wohnungen leer. Dorthin hat die Stadt nun Flüchtlingsfamilien
geschickt, die möglichst dezentral untergebracht werden sollen.
In den Straßen der Gorbitzer Platte, deren blumige Namen mit der
Schlichtheit der Normbauten kontrastieren, ist Julia Rump die wichtigste
Ansprechpartnerin der Neuankömmlinge. Die junge Religionswissenschaftlerin
und Islamspezialistin arbeitet für den Sächsischen Flüchtlingsrat. Ihre
Sozialarbeiterstelle wird von der Stadt bezahlt. Julia Rump läuft treppauf,
treppab durch enge Treppenhäuser, die Türen zu den Wohnungen öffnen sich
ihr bereitwillig. Neugierig kommen die Kinder angesprungen, selten sind es
weniger als drei. Zurückhaltend, aber freundlich reichen ihre Eltern die
Hand zur Begrüßung.
Es scheint, als würden Kinder ihre Kriegs- und Fluchterlebnisse besser
verarbeiten. Oder gewöhnen sie sich nur schneller an die neue Umgebung?
Wenn Familien um Asyl bitten, spüren auch die Kinder die Ungewissheit und
das Provisorium ihres Aufenthalts, bis es zu einer abschließenden
Entscheidung über den Asylantrag kommt. Doch anders als für ihre Eltern
kann es eigentlich keinen Wartezustand für sie geben. Kinder sind in der
Regel nicht nur kontaktfreudiger, die Schulpflicht zwingt sie auch zu einer
Integration, die ihren Eltern meist Mühe bereitet.
Bei Familie Faizi aus Afghanistan ist der achtjährige Mehran eindeutiger
Wortführer. Sein vierjähriger Bruder Mesam hingegen wirkt verschlossen,
auch im Kindergarten, so, als habe er Eindrücke seines jungen Lebens noch
nicht bewältigt. Der eineinhalbjährige Mostafa hingegen tappt unbekümmert
durch die sehr schlicht ausgestattete Vierzimmerwohnung und plärrt überall
dazwischen. Ihre Mutter Mina war in Afghanistan schon einmal
zwangsverheiratet. Ihr Vater hatte sie zur Begleichung einer
Casino-Spielschuld an einen älteren Mann verkauft. Schläge und Demütigungen
musste sie hinnehmen, bis sie von ihrem jetzigen Mann regelrecht entführt
wurde, berichtet sie.
## Taliban sind „Teufel“
Eine abenteuerliche Flucht führte das Paar zunächst in den Iran, wo die
drei Söhne geboren wurden. Doch eine wirkliche Zuflucht bot der Iran nicht.
Es gab kaum Möglichkeiten zu arbeiten, Der Schulbesuch würde schwierig
werden, ahnten sie. „Ungeliebt“ seien sie vor allem wegen ihrer
sunnitischen Herkunft gewesen, berichten auch die Kinder.
Seit etwa drei Jahren lebt die Familie nun in Dresden. Ihr Asylantrag wurde
abgelehnt. Über die Klage dagegen soll noch im März entschieden werden.
Mina müsste bei einer Abschiebung nach Afghanistan befürchten, von ihrer
eigenen Familie umgebracht zu werden.
Nicht nur deshalb erscheint auch Mehran eine Rückkehr ausgeschlossen. Die
Taliban seien „der Teufel“, formuliert der Achtjährige, der gar keine
eigenen Afghanistan-Erfahrungen mitbringt. Während den Eltern noch die
große Unsicherheit anzumerken ist, setzt er schon ganz auf die neue Heimat
Gorbitz.
## „Schule ist gut“
Die neue Bodenständigkeit liegt auch an den Freunden, die Mehran im
Wohngebiet und an der 135. Grundschule gewonnen hat. Auch zwei deutsche
Mädchen sind darunter. „Schule ist gut“, bekräftigt er kopfnickend. Ihre
Mutter machte dagegen ganz andere Erfahrungen im Haus. Als „Schlampe“ sei
sie schon beschimpft worden, erzählt sie, und dass sie anschließend geweint
habe. Mehran scheint ähnliche Attacken in der Schule locker wegzustecken.
Ausgerechnet mit einem russischen Jungen hat er sich „gekloppt“, weil der
gerufen hat: „Geh du, Ausländer, in dein Land!“ Mehran legt keinen Wert
darauf, in solchen Auseinandersetzungen stark zu sein, er möchte sich
lieber mit allen vertragen.
Deutsch hat er in diesen eineinhalb Schuljahren so gut gelernt, dass er der
Mutter helfen kann. „Kinder haben es einfacher“, bemerkt Mina lächelnd. Mit
den Freunden scheint es keine Konflikte zu geben. Draußen spielen sie
Fangen und Verstecken, in den Wohnungen hocken sie gemeinsam vor dem
Bildschirm. Bollywood-Filme und Spots aus dem Internet lassen auf eine
besondere Verbindung zum ehemaligen Nachbarn Indien schließen. Der große
Flachbildschirm sticht aus der einfachen Wohnungseinrichtung heraus, ebenso
das bequeme Sofa gegenüber. Die Verbindung zur Welt eben.
Umstandslos bekennt Mehran, dass er „auch gern mal reich wäre“, um sich
gleich mehrere Handys, Schuhe und ein Haus kaufen zu können. Zumindest
Neidgefühle auf den Status anderer kommen in Gorbitz nicht so leicht auf.
Auch deutsche Mitschüler müssen mit dem Sozialhilfesatz auskommen.
Glück hatten die Faizis, dass Sohn Mesam schnell einen Kindergartenplatz in
unmittelbarer Nähe bekommen hat. „Das Anmeldeproblem ist bei Flüchtlingen
besonders groß“, bemerkt Julia Rump angesichts der knappen Plätze in
Dresden. Und trotz Schulpflicht verläuft auch der Übergang vom heimatlichen
Schulsystem auf die deutsche Schule nicht problemlos. Zwar werden sie hier
in die gleiche Klassenstufe eingeschult, aber das Niveau und die
Anforderungen sind oft nicht vergleichbar. Hinzu kommt das Sprachproblem.
Flüchtlingskinder müssen möglichst eine Schule besuchen, die „Deutsch als
Zweitsprache“ als Fach anbietet. Das leisten aber bei Weitem nicht alle
Schulen. „Die Kinder begreifen dann sehr schnell, dass sie nicht
hinterherkommen!“, berichtet Julia Rump aus Erfahrung. Es bestehe die
Gefahr, dass die Kinder dann „einfach zumachen“.
## Kinderweltkarte an der Wand
Auch Mehrans bester Freund Khaled wohnt in Gorbitz. Khaled und seine
Schwester Judi leben seit einem Jahr in Deutschland. Die Familie Hatid ist
aus der umkämpften syrischen Stadt Aleppo geflohen. „Unser Zuhause ist
zerstört, das haben wir im Internet gesehen!“ Auf einer Kinderweltkarte an
der Wand der Dreiraumwohnung zeigen sie ihren Fluchtweg über die Türkei und
Bulgarien. Angst haben sie gehabt im Bürgerkrieg und träumen manchmal
davon, aber es scheint nicht so, als hätten sie ein Trauma mitgebracht. „Es
gefällt uns hier“, sagen beide, und es klingt wiederum viel offener als das
Wenige, was die Eltern sagen. Dabei sind die Mutter und die Kinder im
Asylverfahren bereits anerkannt worden sind. Die Eltern hoffen, einmal als
Arabisch-Übersetzer zu arbeiten.
In dem siebenjährigen Khaled steckt ein kleiner Patriot. Wenn er ein
erwachsener Mann ist, will er zurückkehren und für den Frieden in Syrien
kämpfen. „Bis sie aufhören und aufgeben!“ – „Aber keine Seite ist bes…
als die andere“, wendet die zehnjährige Schwester Judi ein. Beide wirken
robust. Ein Stinkefinger gegen Ausländer sei zu verkraften, meint Khaled
selbstbewusst. „Manche wollen, dass wir bleiben, andere nicht.“ Immerhin
gehen sieben Migrantenkinder in seine Schulklasse. Und im nahen
Familientreff „Puzzle“ haben die Geschwister auch deutsche Freunde.
Eine wahre Odyssee hat die georgische Familie Samkanaschwili seit dem
russisch-georgischen Krieg um Südossetien 2008 hinter sich. Über Polen und
Frankreich kamen sie nach Deutschland. Ihr Asylantrag vom Juli 2013 war
abgelehnt worden, wie Familie Faizi klagen sie dagegen. Mit vier Kindern
leben die Samkanaschwilis in einer Dreizimmerwohnung recht beengt, aber
immerhin für sich. Bei einem Kontingent von nur neun Quadratmetern Wohnraum
pro Person müssen manchmal mehrere Kleinfamilien in einer Wohnung
zusammenleben.
## Kleine Rempeleien
Die 13-jährige Natalie und die 14-jährige Ana möchten unbedingt in Dresden
bleiben. Sie schätzen vor allem die Ruhe und die Sicherheit hier. Ein
bisschen Heimat finden sie in der russisch-orthodoxen Kirche, wo sie
sonntags den Gottesdienst besuchen. Der achtjährige Giorgi schwärmt von der
georgischen Heimat, an die er sich persönlich kaum erinnern kann und wo die
Samkanaschwilis kein Ziel kennen, wohin sie schlimmstenfalls zurückkehren
könnten. Solche Heimatgefühle scheinen familiär geprägt zu sein und weniger
durch die Rempeleien verursacht, die auch Georgi in der Schule erlebt. Die
Mädchen erzählen dagegen sogar von Freunden, die bei ihnen Russisch lernen.
Vater Gennadi ist ausnahmsweise fast so redselig wie die Kinder, wenn auch
kaum auf Deutsch. Er schätzt den Umgang mit Ausländern in Dresden sogar
„wärmer“ ein als in Frankreich. Einen mentalen Unterschied zur georgischen
Heimat will er freilich nicht leugnen. „Dort helfen alle einander, hier
lebt jeder für sich!“ Weshalb er und die Kinder den Gast prompt zu einem
georgischen Abend einladen. Der vor zwei Monaten geborene Saba wird, so
hoffen alle, nie in das ihm unbekannte Land abgeschoben werden. „Das wird
ein Sachse!“, scherzen die Eltern. Doch es klingt eher nach Hoffnung als
nach Überzeugung.
21 Mar 2015
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Dresden
Kinder
Integration
Asylpolitik
Unterbringung von Geflüchteten
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