# taz.de -- Debatte um die Volksbühne Berlin: Castorf geht und alle haben Angst | |
> Droht in Berlin der letzte Hort künstlerischen Widerstands der Marktlogik | |
> geopfert zu werden? Mehr Differenz in der Theaterlandschaft wäre gut. | |
Bild: Ein Säulentempel für Querdenker, das soll die Volksbühne bleiben. | |
Hysterie ist einer der entgrenzten Zustände, mit denen die Schauspieler der | |
Volksbühne in den 90er Jahren weltberühmt wurden. Jetzt, wo zumindest klar | |
ist, dass die ein Vierteljahrhundert währende Ära Castorf am | |
Rosa-Luxemburg-Platz 2017 zu Ende gehen wird, fackelt noch einmal ein | |
ultrahysterisches Feuerwerk in allen Theaterfarben ab: tragisch, komisch | |
und vor allem grotesk. | |
Normalerweise wäre der Vorgang Theateralltag. Eine großartige, legendäre | |
und deshalb auch 25 Jahre währende Intendanz endet, eine andere – über die | |
offziell bislang wenig bekannt ist – beginnt. Im Fall der Volksbühne lautet | |
die Erzählung jedoch längst anders: Ihr zufolge wird der letzte Hort des | |
künstlerischen Widerstands ohne Not Effizienzdenken und Marktlogik geopfert | |
– zugunsten eines mit dem Kunstmarkt identifizierten Kurators, der das | |
Ensembletheater in ein neoliberales Produktions- und Gastspielhaus | |
verwandeln wird. Ein Opfer, das eine ganze Lawine auszulösen droht: den | |
Abbau des deutschen Ensembletheaters. | |
Ins Werk setzt diesen Anfang vom Untergang des Theaterabendlandes der | |
ehemalige „Pop-Manager“ und Silicon-Valley-Fan Tim Renner und jetzige | |
Kulturstaatssekretär von Berlin, dem natürlich jedes tiefere Verständnis | |
fürs Literatur-, Ensemble- und Repertoiretheater abgehen muss. Zu dieser | |
Lesart hatte der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann, den | |
ersten Kracher gezündet. | |
Kurz nachdem Castorf selbst bekannt gegeben hatte, dass sein Vertrag nicht | |
über das Jahr 2017 verlängert werde und der Berliner Tagesspiegel das | |
Gerücht öffentlich machte, der belgische Kurator Chris Dercon, Direktor der | |
Londoner Tate Modern Gallery, solle die Volksbühne nach Castorf übernehmen, | |
beschwerte sich Peymann in einem Brief an „die Presse“ und den regierenden | |
Bürgermeister Michael Müller darüber, in die kulturpolitischen | |
Entscheidungen der Stadt Berlin nicht eingebunden worden zu sein. Mit der | |
Folge, dass nun der Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten, Tim | |
Renner, „die Fehlbesetzung des Jahrzehnts“, die „einst so ruhmreiche“ | |
Volksbühne zur „soundsovielten Event-Bude der Stadt“ (O-Ton Peymann) | |
verkommen lasse. | |
Peymann, den ästhetisch null Komma gar nichts mit der Volksbühne der | |
letzten 25 Jahre verbindet, hat allerdings eins mit Castorfs gemeinsam: | |
Auch er soll 2017 nach 17 Jahren den Intendantenstuhl räumen. Das | |
verbindet, selbst über tiefste Gräben hinweg. | |
## Drei Musketiere | |
Kaum drohten die von Castorf-Fans dankbar aufgegriffenen Peymann-Funken zu | |
verglimmen, warfen sich drei neue Musketiere für den Kollegen am | |
Rosa-Luxemburg-Platz in die Bresche. Ulrich Khuon (Deutsches Theater | |
Berlin), Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg) und Martin Kusej | |
(Residenztheater München) behaupteten, dass „Berlin keinen Aufbruch in die | |
Zukunft braucht, der mit der Abrissbirne daherkommt. Berlin braucht Frank | |
Castorf und sein Künstlerkollektiv.“ | |
Welche Abrissbirne jetzt noch mal? Und wie kommt es nur, dass auch dieses | |
Schreiben weniger nach Fürsorge als nach Besitzstandswahrung klingt? | |
Vielleicht erfüllt es ja seinen Zweck als Liebesdienst: Wenn Castorf ab | |
2017 frei inszeniert, weiß er schon mal, an welche Kumpels er sich wenden | |
kann. | |
Alle Eigeninteressen mal beiseite gelassen: Was ist dran an der Erzählung | |
vom „neoliberalen“ Ausverkauf der Volksbühne – und am gefürchteten Umbau | |
der deutschen Theaterlandschaft? Bevor Renner die Katze demnächst offiziell | |
aus dem Sack lässt, ist im Prinzip alles Kaffeesatzleserei; daran ändern | |
auch tröpfchenweise durchsickernde Gerüchte – Aufstockung des Etats, | |
Festhalten am Ensembleprinzip, womöglich Fusion mit anderen Spielorten – | |
wenig. | |
## Öffnungen für Quereinsteiger | |
Fest steht aber, dass die Volksbühne – wie auch in den nuller Jahren das | |
HAU mit seinen internationalen und Freie-Szene-Koproduktionen – selbst | |
maßgeblichen Anteil an der in Deutschland bislang nur in kleinsten Dosen | |
stattfindenden Entwicklung vom Ensembletheater zum Produktionshaus hat. | |
Schon in den 90er Jahren war die Volksbühne dank querdenkender Dramaturgen, | |
etwa. Carl Hegemann und Matthias Lilienthal, so etwas wie die dissidente | |
Mutter aller Event-Schuppen: die ganzen „Prater-Spektakel“, Öffnungen für | |
Quereinsteiger wie Schlingensief oder später Jonathan Meese, Allianzen mit | |
der Freien Szene, Pop-, Theorie- und Liebeskummerkongresse samt diskursivem | |
Rauschen trugen fast so sehr zum Ruhm des Hauses bei wie die wundersame | |
Häufung epochemachender Inszenierungen, von Marthalers „Murx den Europäer“ | |
über Castorfs „Pension Schöller“ und Polleschs „Stadt als Beute“ bis … | |
Dimiter Gotscheffs „Iwanow“. | |
Wobei damals schon Regisseure entweder ihre eigenen Leute und Teams | |
mitbrachten (wie Marthaler und Schlingensief) oder am eingeschworenen | |
Star-Ensemble scheiterten (wie Stefan Pucher und Johan Simons). Völlig | |
absurd ist es jedenfalls, die Volksbühne postum zum Ensembleparadies zu | |
verklären. | |
Unvergessen sind auch die sieben auf „Kokain“ folgenden, mehr als mageren | |
Jahre, in denen Castorf eine Krise nach der anderen schob und sich ein | |
regelrechter Exodus vollzog. Die Stars schmissen reihenweise hin oder | |
wurden gekündigt, das Ensemble schrumpfte in den einstelligen Bereich. Ein | |
regelrechter Dramaturgenverschleiß setzte ein, manche waren ausschließlich | |
zum Castorf-Trösten abbestellt. Der Meister inszenierte am liebsten | |
auswärts und war zuhause in drögen Brecht-Abenden kaum wiederzuerkennen. | |
Erstaunlicherweise hat die Kulturpolitik dem Haus in dieser Zeit die Stange | |
gehalten, und es hat die Kurve auch noch mal gekriegt: Aktuell sind | |
immerhin wieder elf Schauspieler fest beschäftigt, Pollesch und Herbert | |
Fritsch sorgen für ausverkaufte Vorstellungen, und zwischendurch dürfen | |
Schubladenverweigerer wie Vegard Vinge im Prater oder Ragnar Kjartansson | |
(der übrigens kürzlich erst in der Tate Modern performte) ihre schrägen | |
„Events“ zeigen. | |
## Was kommt | |
In Berlin gibt es, historisch bedingt, nicht weniger als fünf | |
Ensembletheater. Es wäre schön, wenn sie der Stadt erhalten bleiben. An | |
dreien davon wurde allerdings die Neubesetzung der Leitung so systematisch | |
verschleppt, so dass es seit mindestens 15 Jahren an diesen Bühnen keine | |
Profilveränderung mehr gab, von den erwähnten persönlichen Krisen mal | |
abgesehen. „Das ist unser Laden, den haben wir gemacht“, sagte Castorfs | |
Bühnenbildner Bert Neumann dem Tagesspiegel. Künstlerische Verdienste hin | |
oder her: Das lässt tief blicken. Solange man die Theater nicht als | |
Privateigentum betrachtet wissen möchte, ist es Aufgabe jedes | |
Staatssekretärs und Kultursenators, in diese Konstellation Bewegung zu | |
bringen. | |
Wenn Renner im Fall der Volksbühne auf einen Quereinsteiger wie Dercon | |
setzen sollte, wäre das weniger wegen des Berufsbilds Kurator als wegen der | |
Inspirationsquelle Kunst ein interessantes Zeichen. Denn „Kuratoren“ gibt | |
es tatsächlich an Berliner Bühnen schon einige, etwa die nicht- oder nicht | |
primär Regie führenden Intendanten Shermin Langhoff, Ulrich Khuon und der | |
designierte Oliver Reese. Gerade das diskuranstoßende Gorki Theater hat von | |
Langhoffs Kontakten in postmigrantische Künstlerkreise zweifellos | |
profitiert. | |
Kurator und Ensemble schließen sich jedenfalls keineswegs aus. Trotzdem | |
gäbe es mit Dercon auf die vermutliche Programmatik des Hauses bezogen | |
einen Zuwachs für freie, interdisziplinäre Projekte und Koproduktionen, die | |
bislang vor allem vom unterfinanzierten HAU und dem Festival „Foreign | |
Affairs“ der Berliner Festspiele präsentiert werden. | |
## Makel der Austauschbarkeit | |
Umgekehrt besteht aber seit Jahrzehnten dieselbe Problematik an den | |
Berliner Ensembletheatern: überall ähnliche Kompromissmischungen aus Kanon, | |
neuer Dramatik, „Events“, teilweise sogar mit denselben Regisseuren | |
(Michael Thalheimer, David Marton, Leander Haußmann usw.). | |
Je austauschbarer die Theater geworden sind, desto größer wird freilich die | |
Sehnsucht nach so etwas wie Castorfs einst so radikalem | |
Künstlerregietheater mit starkem Kernensemble, das an der Volksbühne | |
sporadisch noch aufflackert. Finden sich wirklich keine | |
SchauspielregisseurInnen unter 45 mehr, die Lust haben, so etwas neu zu | |
versuchen? Es muss ja nicht für immer sein. | |
22 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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