# taz.de -- Kurdensprecher über Lage in Kobani: „Der Westen muss uns helfen�… | |
> Vier Monate nach dem Ende der Kämpfe in Kobani ist die Versorgungslage | |
> katastrophal, sagt Idriss Nassan Alirahim von der Selbstverwaltung der | |
> Kurden. | |
Bild: Keine Elektrizität, kein Wasser, kaum Benzin: die Stadt Kobani braucht E… | |
taz: Herr Nassan, Europa hat keinen Finger gerührt, als der Islamische | |
Staat Ihre Stadt angegriffen und eingenommen hat. Fühlen Sie sich von der | |
EU verraten? | |
Idriss Nassan Alirahim: Europa hat höchstens sein eigenes Interesse | |
verraten. Das nämlich wäre der Kampf gegen den IS. Viele Dschihadisten | |
stammen aus Ländern wie Frankreich oder Deutschland und gehen dahin zurück. | |
Europa hat anfangs tatsächlich nur zugesehen, wie der IS Waffen in Stellung | |
gebracht, Kobani zerstört und Menschen getötet hat. Aber nachdem die YPG … | |
. . . die syrisch-kurdische Miliz . . . | |
… und die Bewohner von Kobani bewiesen haben, dass sie sich auch unter | |
Lebensgefahr und großen Verlusten verteidigen können, hat auch die EU etwas | |
getan. | |
Das sagen Sie jetzt nur, weil Sie auf Hilfe Europas angewiesen sind und es | |
sich nicht verderben wollen. Die Einzigen, die wirklich geholfen haben, | |
sind die USA. | |
In der Anti-IS-Koalition waren über 40 Länder, darunter viele europäische. | |
Und der französische Präsident François Hollande hat im Februar die | |
PYD-Führerin Asia Abdullah empfangen. Das war eine wichtige Geste. Er hat | |
damit signalisiert, dass er die Kurden für einen Akteur hält, der | |
Demokratie schaffen kann. Aber insgesamt haben Sie recht: Europa hat sich | |
zu spät und zu wenig engagiert. | |
Vor vier Monaten hat die syrische Kurdenpartei PYD Kobani für vom IS | |
befreit erklärt. Die Kämpfe sind aber nicht vorbei. | |
Nein, sind sie nicht. Nicht nur Kobani selbst wurde befreit, auch rund 350 | |
der insgesamt 450 Dörfer des Kantons. Die übrigen, nahe der Provinz Rakka, | |
sind noch in IS-Hand. Die Front verläuft derzeit etwa 40 Kilometer von | |
Kobani entfernt. Die Kämpfe gehen weiter, es gibt auch jetzt noch | |
Todesopfer. Wir müssen die IS-Dschihadisten töten, um in der Zukunft sicher | |
zu sein. Jetzt ist die Zeit dafür. | |
Wie viele Menschen sind bislang gestorben? | |
Insgesamt sind bis heute 40 Zivilisten gestorben, mehrere Hundert Kämpfer | |
der YPG und der Freien Syrischen Armee und über 3.000 ISler. | |
Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte geht von rund 1.800 | |
getöteten Dschihadisten aus. Wichtiger ist aber die Frage: Kann man wieder | |
in Kobani leben? | |
Zu Zeiten der IS-Herrschaft war die Einwohnerzahl auf bis zu 7.000 | |
gefallen, die Stadt war fast vollständig leer. Jetzt kommen jede Woche etwa | |
6.000 Zivilisten zurück. Rund 100.000 Menschen leben heute wieder in | |
Kobani. Das ist knapp ein Drittel der ursprünglichen Bevölkerung. Das Leben | |
aber ist für sie sehr schwierig. | |
Weshalb genau? | |
Es gibt keine Elektrizität, kein Trinkwasser und auch kein fließendes | |
Wasser. Manche Häuser haben Brunnen, das Wasser muss aber mit kleinen | |
Pumpen an die Oberfläche gebracht werden. Die Menschen sind deshalb auf | |
kleine Generatoren angewiesen. Das Benzin dazu muss aus der Türkei | |
importiert, meist geschmuggelt werden, wie fast alles andere auch. Deshalb | |
ist es sehr teuer, derzeit umgerechnet etwa 2 Euro je Liter. Das können | |
sich viele Menschen nicht oft leisten. | |
Warum kann das Benzin nicht legal über die Grenze gebracht werden? | |
Der Grenzübergang ist halb offen und halb geschlossen. Das hängt stark von | |
der politischen Stimmung der türkischen Regierung ab. Und es hängt davon | |
ab, wer etwas herüberschicken will. Manchmal sagt die Türkei, es ist okay, | |
und lässt die Hilfe durch, manchmal müssen die Lieferungen monatelang | |
warten. Die Türkei behauptet, sie kontrolliere die Grenze so stark, um | |
Terrorismus zu bekämpfen. Aber die Türkei selbst ist mit dem Terrorismus in | |
Berührung. Und viele IS-Kämpfer kommen über die Türkei. Das ist also nicht | |
der Grund für die Blockade der Grenze. | |
Sondern? | |
Die Türkei will keine Entwicklung der kurdischen Gebiete, weder auf noch | |
außerhalb ihres Territoriums. Das hat sie selbst so gesagt. | |
Können Sie nichts aus dem Nordirak, über die anderen beiden Kantone | |
Rojavas, nach Kobani bringen? | |
Nein, unmöglich. Alles kann nur über einen Umweg durch die Türkei nach | |
Kobani gelangen. Die Gebiete zwischen den drei kurdischen Kantonen werden | |
nach wie vor vom IS kontrolliert. Es gibt keine sichere Verbindung. Dazu | |
müsste vor allem der Distrikt Tall Abyad, nördlich der IS-Hochburg Rakka, | |
freigekämpft werden. Wir bitten die internationale Gemeinschaft dazu seit | |
Langem um Hilfe – bisher ohne Erfolg. Die geschlossene Grenze ist wohl das | |
größte Problem für die Aufräumarbeiten. | |
Weshalb? | |
Höchste Priorität haben der Wiederaufbau der Infrastruktur, die | |
medizinische Versorgung, Essen und Trinkwasser. Eine der Voraussetzungen | |
dafür ist aber, den Schutt, die Munition, die Leichen und Explosivstoffe zu | |
entfernen, die noch überall herumliegen. Dafür braucht es schweres Gerät | |
und das haben wir praktisch nicht. Die Stadtverwaltung von Diyarbakir | |
unterstützt uns dabei. Das ist aber nicht genug. Würde auch die | |
internationale Gemeinschaft uns Maschinen zur Verfügung stellen, wäre es | |
leichter. | |
Haben Sie ausgerechnet, was der Wiederaufbau kosten würde? | |
Es gibt ein Komitee hierfür, das schätzt, dass die Kosten wohl in die | |
Milliarden Dollar gehen. Aber das liegt in weiter Ferne. Erst mal geht es, | |
wie gesagt, um das Funktionieren der Grundversorgung, die Bedürfnisse der | |
Zivilbevölkerung. | |
Gibt es dafür internationale Unterstützung? | |
Leider sehr wenig. Die deutsche Regierung hat über die Welthungerhilfe | |
2.200 Lebensmittelpakete geschickt. Wir haben nun mit dem Auswärtigen Amt | |
geredet. Wir haben sie gefragt, warum es keine Hilfe für uns gibt, obwohl | |
unsere Region von moderaten Kräften demokratisch regiert wird. | |
Wie war die Reaktion des Auswärtigen Amtes? | |
Sie haben versprochen, das zu diskutieren. Wir hoffen auf Bewegung. | |
Wer kümmert sich heute um die Gesundheitsversorgung? | |
Das sind im Wesentlichen vier NGOs: Danish Church Aid, Ärzte ohne Grenzen, | |
Handicap International, medico international. Dazu gibt es ein privates | |
Krankenhaus. Aber alle sind auf äußere Hilfe angewiesen. Es gibt nur sehr | |
wenig Medizin, bei schweren Erkrankungen müssen die Patienten in die | |
Türkei. Die Bedingungen für diesen Transfer sind hart. Manchmal müssen die | |
Kranken tagelang an der Grenze warten oder können nur illegal einreisen. | |
Rojava begeistert viele Sympathisanten in Europa so, dass sie manchmal zu | |
vergessen scheinen, dass es in Syrien liegt. Welche Vorstellungen haben die | |
Kurden für einen Transformationsprozess? | |
Wir wollen Demokratie in Syrien. Und die Syrer, die gegen Assad | |
demonstriert haben, wollen das auch. Mit ihnen können wir zusammenkommen | |
und über eine demokratische Lösung sprechen. Die ist nur ohne Assad | |
vorstellbar. Der würde das niemals akzeptieren. | |
Das klingt jetzt reichlich simpel: Hier Assad, da alle anderen, die | |
irgendwie Demokratie wollen. Tatsächlich sind die Assad-Gegner extrem | |
heterogen und viele politisch völlig inkompatibel. Wie ist da ein | |
gemeinsamer Prozess möglich? | |
Ich sprach von den demokratisch gesinnten Kräften. Jenseits von denen ist | |
das Problem mit einigen Oppositionsgruppen tatsächlich, dass sie ähnlich | |
denken wie Assad. Sie vertreten islamistische oder chauvinistische | |
Positionen, wollen eine sunnitisch-arabische Herrschaft errichten und | |
akzeptieren die anderen Gruppen nicht. Deswegen gibt es bislang noch kein | |
echtes Projekt für ein zukünftiges Syrien. Uns schwebt eine Lösung nach dem | |
Vorbild Rojavas vor: Ein multi-ethnisches, multireligiöses, demokratisches | |
Gemeinwesen. Wir haben alle moderaten Kräfte in Syrien aufgefordert, unser | |
Modell zu diskutieren. | |
Wäre es eine Lösung, das Land zu teilen? | |
Wir fordern das nicht. Aber die internationale Gemeinschaft muss den | |
moderaten Gruppen helfen, damit die islamistische Nusra-Front oder andere | |
Dschihadisten ihre Herrschaft nicht ausbauen. Sonst droht tatsächlich die | |
Teilung. | |
Das Schicksal Syriens hängt vom Verhalten des Westens ab? | |
Natürlich. Nur wenn der Westen den prodemokratischen Teil der Gesellschaft | |
unterstützt, kann der sich gegen die anderen durchsetzen. | |
Ist der prodemokratische Teil der Gesellschaft in Syrien heute nicht | |
entweder tot oder vertrieben? | |
Nein. Bei uns in Rojava beispielsweise gibt es arabische Gruppen, darunter | |
auch Teile der FSA, mit denen wir zusammenarbeiten. Sie denken nicht | |
religiös oder chauvinistisch. Mit ihnen haben wir sogenannte | |
Volksverteidigungseinheiten aufgestellt. Solche Gruppen gibt es auch in | |
Städten außerhalb Rojavas, die vom IS kontrolliert werden. Dort können sie | |
sich aber nicht offen zeigen. Wenn es uns gelingt, auch dort gemeinsame | |
Volksverteidigungseinheiten zu bilden, können wir den Konflikt beenden. | |
Aber dazu brauchen wir Hilfe. Die USA und die EU sagen immer, sie wollen | |
die moderaten Kräfte stützen. Dann sollen sie es bitte auch tun. | |
Im vergangenen Jahr hat Human Rights Watch „willkürliche Verhaftungen und | |
Verletzungen von Verfahrensrechten“ durch die PYD in Rojava beklagt, die | |
Selbstverwaltungsbehörden hätten nichts gegen ungeklärte Morde und | |
Verschleppungen unternommen. Die Lage sei zwar fundamental anders als in | |
den IS-Gebieten, dennoch gebe es schwere Menschenrechtsverletzungen. Welche | |
Konsequenzen wurden aus diesen Vorwürfen gezogen? | |
Der Gesellschaftsvertrag, die Basis der politischen Verwaltung in den drei | |
Kantonen von Rojava, basiert auf den internationalen Menschenrechten. Wir | |
schauen genau darauf, deswegen haben wir Human Rights Watch alle Türen | |
geöffnet und sie haben diesen Bericht gemacht. Was die Inhaftierten angeht: | |
Natürlich sitzen in Rojava Menschen in Gefängnissen, aber nicht nur aus | |
politischen Gründen … | |
… nicht nur? | |
Es gibt Amnestien. In Syrien herrscht Chaos und Krieg, es braucht viele, | |
anstrengende Schritte zur echten Demokratie. Dabei machen wir Fehler, aber | |
wir korrigieren diese Fehler jeden Tag ein bisschen mehr. | |
15 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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