| # taz.de -- Bewohner Kobanis kehren zurück: Die Trümmerkommune | |
| > In einer zerstörten Stadt, umzingelt von feindlichen Kämpfern, machen die | |
| > Bewohner Kobanis ein politisches Experiment. | |
| Bild: Eine Familie im Zentrum Kobanis. Inzwischen wohnen wieder rund 100.000 Me… | |
| Kobani taz | Auf den Straßen stehen immer noch die ausgebrannten Panzer des | |
| „Islamischen Staats“. Als hätte jemand den Krieg nur kurz angehalten. | |
| Autowracks rosten am Straßenrand, manche liegen auf dem Dach, wie von | |
| riesigen Händen zerquetscht. Ein paar Fahrzeuge transportieren Lebensmittel | |
| und Benzin durch die Stadt. Sie fahren Schlangenlinie um die knietiefen | |
| Krater. | |
| Es ist nur wenige Monate her, da hat die Welt um die syrische Stadt Kobani | |
| gebangt. Es ging auch um Symbolisches: War der Islamische Staat schon bis | |
| an die türkische Grenze vorgedrungen? Konnte man ihn von der Türkei aus | |
| sehen? Schließlich entschieden sich die USA mit Saudi-Arabien, Katar und | |
| Jordanien für Luftangriffe – gerade noch rechtzeitig. Heute liegt die Front | |
| in einem Ring 40 Kilometer um die Stadt herum. Und die Welt hat ein wenig | |
| das Interesse verloren. | |
| Dabei brauche man dringend internationale Unterstützung, sagt Enver Muslim, | |
| der Übergangspräsident des Kantons Kobani. Er ist ein kräftiger Mann, der | |
| sich auf Twitter mit Maschinengewehr zeigt, aber am langen Holztisch des | |
| Verwaltungsgebäudes verloren wirkt. Selbst hier sind die Wände zerschossen. | |
| Ende 2014, als der IS bis zum Westteil Kobanis vorgerückt war, wurde auch | |
| im Verwaltungsgebäude gekämpft. „Die Regierung hat sich mit Kalaschnikows | |
| verteidigt“, sagt Muslim. Von der Decke hängen noch die Kronleuchter, | |
| Hinterlassenschaften aus der Zeit Assads. | |
| An manchen Tagen bilden sich in der Mittagshitze Menschenschlangen am | |
| syrisch-türkischen Grenzübergang bei Kobani. Die vor den Islamisten | |
| geflohenen Bewohner drängen zurück in ihre Heimat. Inzwischen sollen sich | |
| rund 100.000 Menschen in den Trümmern der Stadt eingerichtet haben. Abends, | |
| wenn die Sonne untergeht, flackern Lagerfeuer in den verwüsteten | |
| Straßenzügen. Man sieht Schemen von Menschen, die sich um das wärmende | |
| Feuer scharen. Mit den Familien aus den türkischen Flüchtlingscamps sind | |
| auch Kinder zurück in die Stadt gekommen. Sie spielen im Schutt, unter dem | |
| noch viele Sprengkörper liegen. Immer wieder hört man ihr Lachen. | |
| ## Beißender, süßlicher Geruch von Leichen | |
| Mit bloßen Händen, Spitzhacken und Schubkarren versuchen die Bewohner | |
| Kobanis, ihre Stadt von den Trümmern zu befreien. Der türkische Staat lässt | |
| nicht genügend Räumfahrzeuge über die Grenze, schimpft Muslim. Auch | |
| Minensuchgeräte fehlen. Die Türkei betreibt ein Machtspiel, sagt Muslim, | |
| das Leben kostet. Viele Rückkehrer treten auf die Minen, die der IS | |
| zurückgelassen hat. Je länger die kurdische Verwaltung auf die Geräte | |
| wartet, desto mehr Menschen werden verstümmelt. | |
| Wenn die Mittagssonne die Stadt aufheizt, steigt zwischen den Trümmern ein | |
| beißender, süßlicher Geruch auf, der sich in die Kleidung frisst und die | |
| Gedanken vernebelt. Es ist der Gestank verwesender Leichen. Unter den | |
| Trümmern liegen noch tote Islamisten. Die Leichensäcke sind knapp geworden. | |
| „Daaisch“, murmelt der Kämpfer Ates verächtlich, das arabische Akronym f�… | |
| den Islamischen Staat, und fächert sich Luft zu, während er zwischen dem | |
| Schutt einen Berg hinaufsteigt. Ates heißt übersetzt Feuer. In den | |
| kurdischen Volksverteidigungskräften YPG und der Fraueneinheit YPJ spricht | |
| man sich zumeist mit Kampfnamen an. Ates will zum Stützpunkt auf dem | |
| Mischtenurhügel, einem der wenigen Orte in der Stadt, wo der Handyempfang | |
| ausreicht, um zu telefonieren. Erst im Januar gelang es den Einheiten von | |
| YPG/YPJ unter großen Verlusten, den strategisch wichtigen Hügel zu erobern | |
| und die letzten IS-Milizionäre aus der Stadt zu vertreiben. Auch Ates war | |
| dabei. An Hand und Hüfte wurde er von Schüssen verwundet, sagt er. Er zeigt | |
| seine Narben und grinst. | |
| Einige Geschäfte haben wieder geöffnet. Es gibt Reis, Gemüse, Zigaretten, | |
| das meiste über die türkische Grenze geschmuggelt. Gezahlt werden kann mit | |
| türkischer oder syrischer Lira, auch mit Dollar und Euro. Am Straßenrand | |
| gibt es vereinzelt Werkstätten, die reparieren, was noch zu reparieren ist. | |
| Die Menschen, die nach Kobani zurückkehren, tun es auch, weil es dort | |
| inmitten des Bürgerkriegs für die Kurden eine einmalige Chance gibt: Sie | |
| können eine selbstverwaltete Stadt aufbauen. Rojava nennen sie das Gebiet, | |
| in dem Kobani liegt, Westkurdistan. Dort kontrollieren sie inzwischen auch | |
| Afrin und Cizire, zwei weitere Kantone im Norden Syriens. Die kurdische | |
| Bevölkerung hat dort eine basisdemokratische Verwaltung installiert. | |
| ## Ein politisches Experiment unter Extrembedingungen | |
| In den Stadtteilen Kobanis gibt es Kommunen, die jeweils für rund tausend | |
| Bewohner zuständig sind, für deren Strom- und Lebensmittelversorgung zum | |
| Beispiel, aber auch dafür, Konflikte zu lösen. Aus den Kommunen heraus | |
| werden Stadtteilräte gewählt, die wiederum aus ihren Reihen die regionale | |
| Räteverwaltung wählen. Doch die Wahl bedeutet keinesfalls – wie im | |
| Parlamentarismus –, dass die gewählten Menschen über den Rest bestimmen, | |
| betont Muslim, der Übergangspräsident. Sie führen nur die Anweisungen der | |
| Basis aus. Dafür sorgt das imperative Mandat: Jede, jeder kann gewählt, | |
| aber auch immer abgewählt werden. | |
| Dieses politische Experiment findet unter Extrembedingungen statt. Kobani | |
| ist eingekeilt. Im Westen, Süden und Osten wird die Stadt vom Islamischen | |
| Staat bedroht, dort wird um jeden Quadratmeter gekämpft. Und aus dem Norden | |
| betrachtet die Türkei misstrauisch das kurdische Projekt. Die türkische | |
| Regierung hat kein Interesse daran, im Nachbarland Syrien ein positives | |
| Beispiel für kurdische Selbstverwaltung entstehen zu lassen. Mit Spannung | |
| erwarten deshalb die Menschen von Kobani die Parlamentswahlen in der | |
| Türkei. Den neuesten Prognosen zufolge könnte die HDP, ein Zusammenschluss | |
| einiger linker und kurdischer Parteien, an diesem Sonntag den Einzug ins | |
| türkische Parlament schaffen – und damit das Regime der rechtskonservativen | |
| AKP schwächen. | |
| Die kurdische Befreiungsbewegung will die Kantone Afrin, Kobani und Cizire | |
| vereinen. Vorerst sollen Korridore zwischen den Gebieten freigekämpft | |
| werden, um die Versorgungslage zu verbessern. | |
| ## Geisterhafte Szenerie | |
| Jeden Tag rollen zerbeulte Militärfahrzeuge mit Nachschub Richtung Front. | |
| In einem überfüllten Geländewagen sitzen Kämpfer und Kämpferinnen, diesmal | |
| sind auch Journalisten dabei. Aus den Fenstern sieht man die Umrisse von | |
| Dörfern, die meisten Häuser stehen leer. Je weiter es Richtung Front geht, | |
| desto geisterhafter wird die Szenerie. Vereinzelt streunen ein paar | |
| Straßenhunde umher. Auch einige Kämpfer sind zwischen den Lehmhäusern | |
| unterwegs. Auf die Wände der Häuser sind immer wieder die schwarzen | |
| Graffiti des IS gemalt. | |
| Es wird wohl noch dauern, bis die Bewohner der Dörfer in ihre Häuser | |
| zurückkehren, zu groß ist die Angst vor einem erneuten Vormarsch des IS und | |
| vor den Minen, die die Islamisten zurückgelassen haben. | |
| Der Geländewagen nähert sich der Westfront, am Horizont sieht man das | |
| türkise Wasser des Euphrats. Er hält vor einem Stützpunkt der YPG. Sie | |
| haben ihn erst vor einigen Wochen eingenommen, berichtet der Kommandant der | |
| dort stationierten Einheit. Der Euphrat markiert die Front. Auf der anderen | |
| Seite des Flusses weht die schwarze Fahne des IS. | |
| 7 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Anselm Schindler | |
| Tim Krüger | |
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