# taz.de -- Frauen in Kirkuk: Emanzipation im Café | |
> Die Bilder kämpfender Kurdinnen in Kobani gingen um die Welt. Im | |
> irakischen Kirkuk ist dagegen schon das Kellnern ein Akt weiblichen | |
> Aufbegehrens. | |
Bild: Kein Alkohol, aber Frauen. „Wir sind ein anständiges Lokal“, sagt de… | |
KIRKUK taz | Etwas stimmt nicht mit dem Bab al-Har. Es ist nicht die wild | |
gemusterte Tapete des Cafés, es sind nicht die Köpfe von Löwen, Tigern, | |
Adlern aus falschem Gold, die zwischen den Sofas stehen. Es ist nicht der | |
frisch gepresste Orangensaft, der fast lilafarben ist. Es sind die Mädchen. | |
Plötzlich wird einem klar, dass tatsächlich etwas nicht stimmte in diesen | |
Tagen in Kirkuk. Auf der Straße, in den Geschäften. Die Frauen. Es gab | |
keine. | |
Passanten, Ladenbesitzer, der Zimmerservice – in Kirkuk sind es nur Männer. | |
Auch hier im Bab al-Har, dem angesagtesten Café der nordirakischen Stadt, | |
sind ausschließlich Männer versammelt. Bis auf die Kellnerinnen, die | |
unermüdlich auf ihren hohen Absätzen zwischen den Tischen hin und her | |
flitzen, in kurzem Rock und mit etwas Dekolleté. Rank und schlank sind sie | |
nicht. „Es sind Frauen, darauf kommt es an“, sagt ein 28-jähriger | |
Ingenieur, während er sich, um seine Rechnung zu begleichen, auf die | |
Banknoten in seiner Brieftasche statt auf einen Hintern zu konzentrieren | |
versucht. | |
„Unsere Gesellschaft ist extrem konservativ. Es herrscht die Vorstellung, | |
dass Frauen zu Hause bleiben. Sie sind Ehefrauen und Mütter, nichts | |
anderes, schon weil in der Familie meist ein Einkommen ausreicht. In der | |
Schule gibt es Geschlechtertrennung, Mädchen gehen nicht allein auf die | |
Straße, am besten überhaupt nicht aus. Sex vor der Ehe ist verboten. | |
Deswegen sind wir auf der Jagd nach Fleisch. Wir sind ausgehungert. Es | |
kommt nicht darauf an, ob sie hübsch sind. Hauptsache, es sind Frauen.“ | |
Der Mann entschuldigt sich und entfernt sich für einen Moment. Es ist sechs | |
Uhr, Zeit für das Gebet. | |
## Überall Zweiteilung | |
Und doch sind wir unter Kurden. Seit dem Rückzug des Islamischen Staats | |
(IS) und der irakischen Armee im Juni 2014 haben die kurdischen Peschmerga | |
die Kontrolle über Kirkuk übernommen. Jenseits der irakisch-syrischen | |
Grenze, die eigentlich nur auf dem Papier besteht, verteidigen Frauen mit | |
der Kalaschnikow die Stadt Kobani. Sie sind das Aushängeschild von Rojava, | |
des syrischen Kurdistan: das neue Idol der europäischen Linken. | |
Während der gesamte Mittlere Osten zwischen Islamisten und Generälen | |
zerrieben wird, zwischen alten und neuen Regimen, stets gleichermaßen | |
autoritär, erproben die Kurden in den drei Provinzen Afrin, Kobani und | |
Qamischli eine Art Basisdemokratie, wie aus einem Handbuch der | |
Politikwissenschaften für Harvard-Studenten. Sie versuchen, den | |
Nationalstaat, konfliktträchtiges Erbe des Kolonialismus, durch | |
Selbstbestimmung und möglichst dezentrale Strukturen zu überwinden: eine | |
Gesellschaft, in der jeder eine Minderheit ist und niemand über die jeweils | |
anderen bestimmen kann. Direktdemokratie, kollektive Entscheidungen. Die | |
sozialen Rechte stehen im Vordergrund. Ebenso die Gleichheit der | |
Geschlechter. Der Frauenanteil liegt bei 40 Prozent, jede Position wird | |
doppelt vergeben: an einen Mann und eine Frau. | |
„Sogar an der Front gibt es diese Zweiteilung: Die Kämpfer gehören jeweils | |
einer der zwei Hauptparteien an. Sie teilen alles auf, bis zum kleinsten | |
Auftrag, bis zum letzten Dollar. Aber im allgemein herrschenden Desaster | |
stehen wir als die Helden des Augenblicks da“, sagt Younis. Der Fotograf | |
arbeitet viel für ausländische Medien. „Die Mehrzahl von euch Journalisten | |
kommt für drei Tage hierher, benutzt, um Geld zu sparen, die Aktivisten als | |
Dolmetscher und fährt enthusiastisch wieder nach Hause, überzeugt, dass die | |
Kurden den Nahen und Mittleren Osten retten werden. Die Mädchen von Kobani | |
geben ein völlig irreführendes Bild ab“, sagt er. „Keine Fotografie, | |
sondern eine Postkarte. Der Kampf für Emanzipation wird noch lange dauern.“ | |
## Zentrum der Erdölindustrie | |
An der Front von Kirkuk kämpfen keine Frauen. Es kämpft überhaupt keine | |
einzige Frau an einer der tausend Fronten im Irak. | |
Die Ansichten von Younis teilt in gewisser Hinsicht auch Azad, der Besitzer | |
des Bab al-Har. 2007 hat er das Café eröffnet, 2011 die ersten Frauen | |
angestellt. Mit seinem Lokal will er zur Modernisierung des Iraks | |
beitragen, sagt er. Bis in die 60er Jahre sei der Irak ein normales Land | |
gewesen. „Es war wie Europa, Lokale wie das meine waren nichts | |
Ungewöhnliches.“ Aber mit Saddam Hussein kam der Versuch der Arabisierung | |
des Landes, vor allem hier im Norden, mit der erzwungenen Umsiedlung von | |
Zehntausenden Kurden. | |
Damit einher ging die Rückkehr des Islam als Kultur und nicht nur als | |
Religion. Die Verstaatlichung des Öls habe ebenfalls eine Rolle gespielt, | |
sagt Azad – Kirkuk ist das Zentrum der irakischen Erdölindustrie. Die | |
Kontakte zu westlichen Ausländern seien abgeschnitten worden, vorher hätten | |
viele englische Ingenieure hier gelebt. „Ganz allmählich sind wir ein immer | |
verschlosseneres Land geworden. Unter Saddam durften Frauen nicht einmal | |
eine Zigarette rauchen.“ | |
Heute hingegen dürfen sie in einem Café arbeiten. Außerdem in Berufen, die | |
traditionell Frauen offenstehen, im Gesundheitswesen oder als Lehrerin: wo | |
es sich vermeiden lässt, mit Männern außerhalb ihrer Familie | |
zusammenzukommen. „Der Emanzipationskampf steht erst am Anfang“, sagt auch | |
Azad, „aber ich hoffe, dass mein Bab al-Har den Weg weist.“ Im Moment ist | |
sein Lokal das einzige in Kirkuk, Geschäfte eingeschlossen, in dem es | |
weibliche Angestellte gibt. „Es ist ein anständiges Lokal“, fügt er hinzu. | |
„Wir schenken keinen Alkohol aus.“ | |
## Studium abgebrochen | |
Sarah ist 27 und hat traurige Augen. Sie ist ausschließlich schwarz | |
gekleidet, mit Schnürstiefeln im Bondagelook, entblößten Schultern, viel | |
Make-up. Auf dem Kopf wippt eine Seidenschleife im Moulin-Rouge-Stil. Sie | |
stammt aus Bagdad, hat in Beirut Physik studiert, hinkte aber mit den | |
Prüfungen hinterher, am Ende ist sie hierhergekommen. Ihren Uniabschluss | |
hat sie bis heute nicht gemacht. Keine der jungen Frauen stammt aus Kirkuk. | |
Das sei undenkbar, meint Azad. „Alle haben sie irgendwie familiäre | |
Probleme. Nichts Dramatisches, aber für sie ist es oft eine Flucht. Und | |
dieses Café eine Art Zuflucht“, fügt er nach einer kleinen Pause hinzu, | |
während Sarah knapp erklärt, sie habe Probleme mit der zweiten Frau ihres | |
Vaters gehabt. | |
„In Bagdad als Kellnerin zu arbeiten ist nichts Ungewöhnliches, man steht | |
nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aber hier, anders als in Bagdad | |
oder anderen Großstädten, beschützt dich der Eigentümer. Du fühlst dich | |
keinem Risiko ausgesetzt.“ Deswegen bevorzuge sie Kirkuk, sagt Sarah. In | |
Bagdad gebe es so viele Milizen, die Stadt sei außer Kontrolle. „Kirkuk ist | |
sicher. Hier explodiert höchstens einmal pro Woche eine Autobombe.“ | |
Das Bab al-Har ist die ganze Woche über gut besucht. Männer jeden Alters, | |
jeder Schicht, Studenten, Rechtsanwälte, Ingenieure, Ärzte, Angestellte und | |
Unternehmer verbringen hier Stunden auf den Sofas mit dem Leopardenmuster, | |
rauchen Wasserpfeife oder plaudern sichtlich entspannt: Tatsächlich sind | |
sie alle damit beschäftigt, begierig den Mädchen nachzustarren, die stolzen | |
Schrittes zwischen den Tischen defilieren. Die Kunden rufen sie unter dem | |
geringsten Vorwand herbei, sie sollen sich vorbeugen, um den Aschenbecher | |
zu leeren, den Tisch abwischen. Noch einen Kaffee bringen. Nüsse zum | |
Knabbern. | |
## „Ich bin stolz auf meine Arbeit“ | |
„Da ist viel Heuchelei im Spiel“, gibt Azad zu. „Das gilt auch für mich.… | |
erster Linie führe ich dieses Café und bin überzeugt, dass es für die | |
Entwicklung in Kirkuk, unserer Gesellschaft wichtig ist. Trotzdem würde ich | |
meiner Frau oder Schwester nie erlauben, hier zu arbeiten.“ | |
Sarah ist sich bewusst, dass viele nicht wissen, „was sie von mir halten | |
sollen. Sie sind unschlüssig, ob ich ein normales Mädchen oder eine halbe | |
Prostituierte bin. Aber ich bin stolz auf meine Arbeit. Ich verdiene nicht | |
sehr viel, aber ich ernähre mich selbst. Ich bin von keinem Mann abhängig, | |
muss mich niemandem unterordnen. Die Arbeit, selbst die demütigendste, ist | |
immerhin Arbeit. Ich kann erhobenen Kopfes herumlaufen.“ | |
Um draußen herumlaufen zu können, muss sie sich erst umziehen. Sie schlüpft | |
in ihre normalen Kleider und schminkt sich ab, bevor sie nach Hause geht. | |
In ein Viertel in einem weit entfernten Teil der Stadt. Wo niemand weiß, | |
was für einer Arbeit sie nachgeht. | |
Aus dem Italienischen Sabine Seifert | |
25 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Francesca Borri | |
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