# taz.de -- Zukunft der Linkspartei: Linkspartei am Kipppunkt | |
> Eine Fraktion, die gegen die Partei agiert. Ein Klimapolitiker, der Autos | |
> liebt. Eine enttäuschte Basis. Kann die Linke die Spaltung überleben? | |
Bild: Fliegt davon: die Linke | |
BERLIN taz | Hitzerekord in der Arktis! 38 Grad wurden in diesem Sommer | |
gemessen, meldet die UN-Klimabehörde am 14. Dezember. Am Tag danach ist | |
Maximilian Becker immer noch frustriert und wütend. „Ich weiß momentan | |
nicht, wie ich Leute in meinem Bekanntenkreis davon überzeugen soll, in die | |
Linke einzutreten.“ Becker kommt aus Leipzig, er ist aktiv in der örtlichen | |
Klimabewegung Ende Gelände und seit Februar auch im Bundesvorstand der | |
Linkspartei. | |
Am Tag, an dem die Dynamik des Klimawandels erneut deutlich wird, wählt die | |
Bundestagsfraktion der Linken den Abgeordneten Klaus Ernst zum Vorsitzenden | |
das Bundestagsausschusses für Klima und Energie. Ausgerechnet | |
„Porsche-Klaus“! Der schnelle Autos liebt, sich für die Gaspipeline | |
Nordstream2 ins Zeug legt und vor einer Anbiederung an die Klimabewegung | |
warnte. Für die Partei ist [1][Klimapolitik mittlerweile ein Kernthema], | |
hereingetragen vor allem durch jüngere Mitglieder wie Becker, der 2016 in | |
die Linke eintrat. „Der Einsatz für Klimagerechtigkeit ist eines unserer | |
zentralen Politikfelder“, heißt es in einem Beschluss des Vorstands vom | |
Oktober. Becker hat auf diese Formulierung gedrängt. | |
Nicht nur er ist über die Wahl von Ernst an die Spitze dieses wichtigen und | |
einzigen Ausschusses für die Linksfraktion frustriert und wütend. [2][Eine | |
ehemalige Landesvorsitzende tritt nach 27 Jahren aus der Partei aus], der | |
langjährige abrüstungspolitische Sprecher Jan van Aken zieht sich aus Ärger | |
über die Fraktion aus dem Parteivorstand zurück und verwendet in seinem | |
Austrittsschreiben Begriffe, wie sie sonst im Zusammenhang mit korrupten | |
Regimen fallen. | |
Vor allem aber sind es jüngere Mitglieder und Aktivist:innen, die ihre Wut | |
und Enttäuschung in den sozialen Medien verbreiten. Tausende haben einen | |
einige Tage vor der Wahl initiierten offenen Brief unterschrieben und die | |
Linksfraktion aufgefordert, den Ausschussvorsitz anders zu besetzen. | |
Umsonst. | |
Die Seenotrettungskapitänin Carola Rackete, für viele Linke eine | |
Gallonsfigur, twittert: „Die Linke ist mit der Wahl von Klaus Ernst als | |
Vorsitzenden des Klimaausschusses scheinbar weiter im | |
Selbstzerstörungsmodus, indem sie genau die sozialen Bewegungen abschreckt | |
deren Inhalte sie eigentlich im Programm vertritt.“ Rackete hat mehr | |
Follower als die Linkspartei Mitglieder. | |
## 39 gegen 60.000 | |
Die Linkspartei, die es im September nur ganz knapp ins Parlament geschafft | |
hat, bewegt sich auf einen Kipppunkt zu. Wird sie in Zukunft noch | |
gebraucht, oder erledigt sie sich von selbst? Zumal sich nun der Eindruck | |
verfestigt, dass ein Grüppchen von 39 Abgeordneten über Richtung und | |
Themensetzung einer 60.000-Mitglieder-Partei entscheiden kann. Ein | |
Grüppchen, das Kritik negiert, Beschlüsse ignoriert und | |
Kommunikationskanäle dichtmacht. | |
Die morgendlichen Telefonate zwischen Partei- und Fraktionsführung, wie sie | |
im Wahlkampf üblich waren, sind längst wieder eingestellt. Parteichefin | |
Susanne Hennig-Wellsow spricht von einer Entfremdung zwischen Partei und | |
Fraktion. Wie konnte es so weit kommen? | |
Zum einen hat das [3][magere Wahlergebnis] dafür gesorgt, dass es | |
vorwiegend verdiente Parteikader, die auf vorderen Listenplätzen | |
abgesichert waren, in den Bundestag schafften, während | |
Nachwuchspolitiker:innen das Nachsehen hatte. Die Linke stellt nun | |
die zweitälteste Fraktion, und ihre Abgeordneten ticken oft traditioneller | |
als die Parteibasis. Die hat sich in den letzten Jahren erheblich verjüngt, | |
ein Fünftel der Mitglieder kam neu hinzu, zwei Drittel davon sind jünger | |
als 35. | |
Die arrivierte Zusammensetzung der Fraktion stärkt aber auch das | |
fraktionsinterne Machtbündnis aus, grob gesagt, ostdeutschen | |
Pragmatiker:innen und westdeutschen Orthodoxen. Die Mehrheiten sind | |
klar verteilt: Zwei Drittel der Abgeordneten gehören zum sogenannten | |
Hufeisen, der Rest muss sich hinten anstellen. Auch die beiden | |
Parteivorsitzenden Janine Wissler und Hennig-Wellsow, die beide neu im | |
Bundestag sind. Posten werden nach Loyalität und Machtinteressen vergeben, | |
Inhalte spielen kaum eine Rolle. | |
Im Zentrum dieses Zweckbündnisses: Fraktionschef Dietmar Bartsch, | |
gebürtiger Stralsunder, seit 44 Jahren Parteimitglied. Einer, dessen | |
Karriere in der SED begann, der sich später in PDS und Linkspartei über | |
verschiedene Ämter vom Schatzmeister, Bundesgeschäftsführer bis zum | |
Fraktionschef und Spitzenkandidaten für die Bundestagwahl hochgedient hat. | |
Ein vollendeter Funktionär, dessen Machtinstinkte verlässlich | |
funktionieren. Dessen politische Landkarte sich aber auf | |
Mecklenburg-Vorpommern beschränke, wie Genoss:innen lästern. | |
## Bloß nicht grüner als die Grünen | |
Bartsch und Ernst seien sich menschlich nie besonders nah gewesen, | |
berichtet ein Genosse, der beide lange kennt. Bartsch zündelte gegen Ernst, | |
als dieser Parteichef war, Ernst hielt sich umgekehrt nie mit öffentlicher | |
Kritik zurück, wenn es um den Führungsstil von Bartsch und dessen damaliger | |
Ko-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht ging. | |
Dass Bartsch ihn jetzt als Ausschussvorsitzenden durchgedrückt hat, mag zum | |
einen daran liegen, dass er die Renitenz des Bayern fürchtet. Bei der | |
Vergabe der Arbeitskreise war Ernst auf der Fraktionsklausur im Oktober | |
leer ausgegangen. Es liegt aber auch am politischen Kurs, den Ernst | |
verfolgt und den Bartsch teilt. | |
Die Linkspartei dürfe nicht „grüner werden als die Grünen“, betonen beide | |
immer wieder. Statt immer ehrgeizigere Klimaziele zu formulieren, müsse | |
sich die Linke auf ihren Markenkern konzentrieren, nämlich die soziale | |
Frage. Auch wenn Ernst nach seiner Wahl in einem Video der Fraktion betont, | |
er wolle die Interessen von abhängig Beschäftigten und sehr jungen Leuten | |
in der Klimabewegung zusammenbringen, nutzt er doch auch die Gelegenheit, | |
erneut für die Energiepartnerschaft mit Russland und für Nordstream2 zu | |
werben. Es wäre blanker Unsinn, so eine Rieseninvestition im Meer zu | |
versenken. | |
„Klaus hat da eine Mission“, meint Bernd Riexinger. Der Ex-Verdi-Sekretär | |
Riexinger und der ehemalige IG-Metaller Ernst kennen sich seit den 1990er | |
Jahren, sie haben die Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) | |
gegründet. Doch außer ihrem Alter – beide sind jenseits der 60 – und ihrer | |
Vita verbindet beide heute wenig. Riexinger hat maßgeblich die Gründung der | |
Bewegungslinken mit vorangetrieben, einer noch jungen Parteiströmung, die | |
die Linke als parlamentarischen Arm sozialer Bewegungen etablieren will und | |
die Anliegen von Fridays for Future bis zur Seenotrettung aktiv vertritt. | |
Am Dienstag ist Riexinger gegen Ernst für den Posten des | |
Ausschussvorsitzenden angetreten. Die Fraktion entschied sich mit 13 zu 23 | |
Stimmen klar gegen ihn. Dennoch wirkt Riexinger erstaunlich aufgeräumt, als | |
ihn die taz am Donnerstag in seinem Bundestagsbüro trifft. Es sei klar | |
gewesen, dass er verlieren würde. Jetzt sitzt er im Verkehrsausschuss. „Da | |
kann ich auch Klimapolitik machen.“ | |
## Ein alter Konflikt mit neuen Gesichtern | |
Was aber Riexingers gute Laune fast noch mehr beflügelt: Der neu | |
aufgeflammte Konflikt zwischen Partei und Fraktion entlastet ihn. Zusammen | |
mit Katja Kipping führte er die Partei bis zum Februar 2021. Auch in seiner | |
Amtszeit war das Verhältnis zwischen Fraktions- und der Parteispitze | |
angespannt. Nicht wenige führten das auf persönliche Konflikte zwischen | |
Wagenknecht, bis 2019 Fraktionschefin, und Riexinger als auch Kipping | |
zurück. | |
Doch hinter den persönlichen Animositäten, die es tatsächlich gibt, lauerte | |
ein grundsätzlicher Konflikt, der bis heute schwelt, nämlich um die | |
Ausrichtung der Partei. Für wen macht sie Politik: für den Dieselfahrer | |
oder die Lastenradlerin, die Klimaaktivistin oder den Braunkohlekumpel? | |
Während Linke wie Wagenknecht oder auch Ernst finden, die Linkspartei müsse | |
sich entscheiden, nämlich für Autofahrer und Kohlekumpel, werben Riexinger | |
wie auch andere für eine Versöhnung der Milieus, umschreiben das mit dem | |
sperrigen Begriff „Verbindende Klassenpolitik.“ | |
Eine Verengung auf Sozialstaat und Frieden, auf den Kampf gegen steigende | |
Benzinpreise und für niedrige Heizkosten hält Riexinger jedenfalls für | |
„hochgefährlich.“ „Eine Partei, der das Gespür für gesellschaftliche | |
Veränderungen fehlt, die ignoriert, dass gerade jüngere Wähler:innen | |
heute klimapolitisch sozialisiert sind, kann der 5-Prozent-Todeszone nicht | |
entkommen“, ist er überzeugt. | |
## Gnadenlos konstruktiv | |
Auch Lorenz Gösta Beutin, bis zum September klimapolitischer Sprecher der | |
Linksfraktion, dessen Listenplatz nicht mehr für den Wiedereinzeinzug | |
gereicht hat, meint: „Die Linksfraktion hängt der realen Entwicklung in der | |
Gesellschaft hinterher.“ Am Abend der Wahl von Ernst haben er und rund 30 | |
Klimapolitiker:innen der Partei sich spontan im Netz getroffen. | |
„Klar waren wir wütend über die Absurdität der Entscheidung. Ich finde | |
aber, es lohnt sich, um diese Partei zu kämpfen.“ | |
Man wolle deshalb nun „gnadenlos konstruktiv“ agieren, die Klimapolitik der | |
Linkspartei voranbringen und die Partei selbst als politisches Zentrum | |
etablieren. Denn eins habe die Unterschriftenaktion gegen Ernst doch | |
gezeigt: „In der Partei ist das Fenster für eine linke Politik der | |
Klimagerechtigkeit längst aufgestoßen worden.“ | |
Die Initiator:innen des Briefes – am Ende haben ihn 12.000 Menschen | |
unterschrieben – haben für Ende Januar zum virtuellen Treffen eingeladen. | |
Und auch Becker hat sich nach seinem Tief wieder aufgerappelt und ruft über | |
Twitter dazu auf, der Linkspartei beizutreten, „auch wenn ihr gerade | |
verzweifelt seid“. Wer bis Sonntag Mitglied geworden ist, erhält ein | |
Freiexemplar seines Buches „Anders wachsen.“ | |
Im Juni trifft sich die Linkspartei zum Programmparteitag. Hennig-Wellsow | |
und Wissler, die angetreten sind, um die Linke neu auszurichten und vor | |
allem wieder auf die Füße zu bringen, wollen dann erste Antworten vorlegen, | |
wie die Partei aus der Krise kommt. Unter anderem schlagen sie in einem | |
gerade veröffentlichten Papier vor, eine soziale und klimagerechte | |
Mobilitätswende zum Schwerpunkt zu machen. | |
Im Jahr darauf wird dann das Spitzenpersonal gewählt, auch im Hinblick auf | |
Bundestagswahl 2025. „Und das wird sehr wahrscheinlich ein anderes sein als | |
im letzten Wahlkampf“, verspricht Hennig-Wellsow. | |
Eine Kampfansage an Dietmar Bartsch. | |
19 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Partei-in-der-Krise/!5801484 | |
[2] /Protest-gegen-Ex-Parteichef-Klaus-Ernst/!5822574 | |
[3] /Linken-Absturz-bei-der-Bundestagswahl/!5800259 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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