# taz.de -- Wolodymyr Selenskyj in Berlin: „Ein Kontinent ohne Krieg“ | |
> In Berlin beraten mehr als 60 Länder über den Wiederaufbau der Ukraine. | |
> Präsident Selenskyj sendet einen klaren Appell. | |
Bild: Empfang mit Standing Ovations: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selen… | |
BERLIN taz | Wolodymyr Selenskyj steckt mitten in einem diplomatischen | |
Reisemarathon. Stopp eins an diesem Dienstag: Berlin. Im Bundestag spricht | |
der ukrainische Präsident am Nachmittag. Die Abgeordneten begrüßen ihn mit | |
Standing Ovations. Ins Plenum begleitet wird er von Bundespräsident | |
Frank-Walter Steinmeier, von Kanzler Olaf Scholz, von Bundestagspräsidentin | |
Bärbel Bas. „Respekt“, wird Bas später in ihrer Begrüßungsrede sagen. | |
Inmitten des [1][Schrecken des Krieges] denke Selenskyj auch ans Morgen. | |
Auf einem Tisch vor dem Rednerpult liegen drei Blumenkränze in den Farben | |
Blau-Gelb. Das komplette Bundeskabinett ist gekommen, der Plenarsaal | |
bestens besetzt. An der Stelle, wo normalerweise die AfD-Abgeordneten | |
sitzen, bleiben allerdings alle Stühle leer. Für sie ist Selenskyj ein | |
Redner im Tarnanzug, ein Kriegs- und Bettelpräsident. Für die | |
Bundestagspräsidentin ist er der Hoffnungsträger, der die Ukraine in die EU | |
und in die Nato führen soll – und der nicht nur die Ukraine, sondern auch | |
Europa verteidigt. Es fallen jede Menge Schlagworte: Freiheit, | |
Unabhängigkeit, die gemeinsame historische Verantwortung. Und das | |
Versprechen von Bas, von den Abgeordneten, von der Bundesregierung, auch | |
mit dafür zu sorgen, dass die russischen Kriegsverbrechen geahndet werden. | |
Das sei man der Ukraine, den verschleppten Kindern und den | |
Zivilist:innen schuldig. | |
Auch Selenskyj wählt große Worte. „Europa ist größer als wir alle“, sagt | |
der ukrainische Präsident am Rednerpult. Und: „Wir werden diesen Krieg | |
nicht vererben. Europa soll ein Kontinent ohne Krieg sein.“ Berlin ist im | |
Ausnahmezustand, als der unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen lebende | |
Präsident durch die Hauptstadt fährt. Im Messezentrum im Westen der Stadt | |
ist er zuvor zu etlichen Gesprächen für den Wiederaufbau der Ukraine | |
verabredet. | |
Es geht um Geld für sein Land im Krieg. Um sehr viel Geld, das die | |
Weltgemeinschaft zwar vollmundig zugesagt hat. Aber je länger die russische | |
Invasion andauert, desto mehr Überzeugungskraft muss Selenskyj leisten. | |
Schätzungen der Weltbank zufolge wird der Wiederaufbau mindestens rund 450 | |
Milliarden Euro kosten. Doch wer investiert in ein Land im Krieg, in dem | |
Unternehmer:innen damit rechnen müssen, dass ihre Investitionen | |
zerbombt werden? | |
## „Wideraufbau ist Widerstand“ | |
[2][„Wiederaufbau ist Widerstand“] – dieser Satz fällt immer wieder in d… | |
unterschiedlichsten Panels. Geworben wird um privates Kapital, das | |
einerseits ukrainischen Firmen zugutekommen und zugleich ausländischen | |
Unternehmen die Ukraine als Wirtschaftsstandort von morgen schmackhaft | |
machen soll. Schließlich soll die Ukraine eines Tages in die Europäische | |
Union aufgenommen werden. Es geht um Jobs, um Steuereinnahmen, darum, dass | |
die Ukrainer:innen eine Perspektive auf ein gutes Leben haben mit einer | |
funktionierenden Infrastruktur, mit einer Energie- und Wasserversorgung, | |
mit Schulen, Kitas, einem laufenden öffentlichen Nahverkehr. Alles also, | |
was seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine bombardiert und | |
zerstört wird. | |
„Energie ist für Russland eine Waffe“, sagt Präsident Selenskyj am Morgen | |
bei der Eröffnung der Konferenz. Die Hälfte der ukrainischen | |
Stromkapazitäten seien durch russische Angriffe zerstört worden. Und er | |
spart auch nicht mit praktischen Beispielen: In den letzten Stunden habe | |
Russland 135 Tonnen an Gleitbomben Richtung Ukraine geschickt. Gleitbomben | |
haben eine besonders hohe Schlagkraft und können großflächig zerstören. | |
Russland hat diese Bomben mehrfach bei Angriffen auf Wohngebäude | |
eingesetzt. | |
„Der beste Wiederaufbau ist der, der nicht stattfinden muss“, sagt | |
Bundeskanzler Scholz, als er die zweitägige Konferenz mit rund 2.000 | |
Teilnehmer:innen aus mehr als 60 Ländern am Dienstagmorgen eröffnet. | |
„Russland wird mit seinem imperialistischen Angriffskrieg nicht | |
durchkommen.“ Fehlen darf in seiner Rede auch nicht das seit fast zwei | |
Jahren anhaltende politische Mantra: So lange wie nötig werde man die | |
Ukraine unterstützen. | |
Die Wiederaufbaukonferenz ist der Versuch, ins Gedächtnis zu rufen, dass | |
die Bundesregierung und die internationalen Verbündeten nicht nur mit | |
Waffenlieferungen helfen, sondern auch zivil. Doch was die Ukraine, | |
insbesondere an der hart umkämpften Front in der Region Charkiw im Osten | |
des Landes braucht, ist Artillerie und Luftabwehr. Auch Scholz kommt in | |
seiner Rede nicht darum herum, dies zu betonen – und an die politischen | |
Vertreter:innen der Konferenz zu appellieren, sich an der Initiative | |
für mehr Luftverteidigung zu beteiligen. Die Bundesregierung selbst will | |
ein weiteres Patriotsystem liefern. | |
## Geld ist das zentrale Thema | |
„Die Ukraine braucht moderne Luftabwehrsysteme. Sonst kann alles, was wir | |
wieder aufbauen, wieder zerstört werden“, sagt Denys Myronenko, Leiter des | |
Bereichs Intelligente Infrastruktur bei Siemens Ukraine. „Als Unternehmen, | |
das bereits am Wiederaufbau in der Ukraine beteiligt ist und entsprechende | |
Ausrüstung liefert, wünschen wir uns schnellere Entscheidungen und weniger | |
Bürokratie.“ Und er fordert auch, dass die Ukraine ein klares und | |
transparentes System für die Mobilisierung von Arbeitskräften vorlegt. „Wir | |
haben Projekte, aber keine Arbeitskräfte.“ Im Kampf gegen Korruption müsse | |
auch noch einiges getan werden – mehr will er dazu nicht sagen. Aber dass | |
er in Berlin bereits einige Verträge mit deutschen Firmen unterzeichnen | |
konnte, stimmt Myronenko zuversichtlich. | |
Geld ist aber das zentrale Thema für den Wiederaufbau. EU und | |
Bundesregierung unterstützen eine internationale Allianz für einen Fonds | |
zur Wirtschaftsentwicklung. Auch die Debatte um eingefrorene russische | |
Vermögen und deren Zinsen nimmt wieder Fahrt auf. Beim G7-Gipfel in Apulien | |
am Donnerstag und Freitag will die Bundesregierung das Thema „pushen“, | |
heißt es. „Der Kampf gegen Putin ist ganz vorne in unseren Köpfen“, so | |
formuliert es Penny Pritzker, die US-Beauftragte für den wirtschaftlichen | |
Wiederaufbau der Ukraine. | |
Ein Stück weit versucht sie damit das wochenlange Gezerre um US-Hilfen für | |
die Ukraine im Kongress zu entschuldigen oder zumindest zu beschwichtigen. | |
Auch sie hofft auf den G7-Gipfel. Der Fachkräftebedarf sei enorm, so | |
Pritzker, die humanitäre Lage sei sehr ernst. 824 Milliarden US-Dollar | |
sieht man für die Energieinfrastruktur in der Ukraine vor – und zudem | |
Risikogarantien für US-Firmen. | |
## Ukraine: Rücktritt von Agenturchef für Wiederaufbau | |
Reformen sind allerdings Voraussetzung. Bereits bei der ersten | |
Wiederaufbaukonferenz 2022 im schweizerischen Lugano verständigten sich die | |
internationalen Verbündeten und die Ukraine auf mehrere Prinzipien, die | |
erfüllt werden müssen, um dauerhafte Hilfen zu gewährleisten. Es geht um | |
den Kampf gegen Korruption, um die Dezentralisierung der Energieversorgung, | |
um einen inklusiven Wiederaufbau mit erneuerbaren Energien. | |
Allerdings erschweren auch politische Entscheidungen in der Ukraine | |
Fortschritte beim Wiederaufbau. Am Vorabend der Konferenz ist der Leiter | |
der staatlichen Agentur für Wiederaufbau und Entwicklung der Infrastruktur, | |
Mustafa Najem, zurückgetreten. Als Grund nannte er die Weigerung des | |
ukrainischen Premiers Denys Schmyhal, seine Dienstreise nach Berlin zu | |
genehmigen. Najem fügte hinzu, dass seine Agentur in den letzten sechs | |
Monaten ständig mit Widerstand und künstlichen Hindernissen seitens der | |
Regierung konfrontiert gewesen sei. | |
Najems Rücktritt folgt einer Reihe von personellen Veränderungen bei den | |
ukrainischen Beamten, die für den Schutz und den Wiederaufbau der | |
Infrastruktur verantwortlich sind. Vorausgegangen war Mitte Mai der | |
Rücktritt des ukrainischen Ministers für Infrastruktur, Oleksandr Kubrakov. | |
Dies hatte zur Folge, dass die ukrainische Delegation bei der | |
Wiederaufbaukonferenz praktisch ohne hochrangige Beamte auskommen musste, | |
die für die Umsetzung von Projekten zum Wiederaufbau der Infrastruktur | |
verantwortlich sind. Dies sorgte für heftige Kritik, da sie das Vertrauen | |
der westlichen Partner zu verspielen droht. | |
Es bleibt eine große Frage: Wie kann der Weg zum Frieden gelingen? Große | |
Hoffnung liegt auf [3][der Friedenskonferenz in der Schweiz am Wochenende]. | |
Rund 90 internationale Delegationen werden laut Bern auf dem Bürgenstock | |
erwartet – nicht aber Russland. „Die Konferenz ist bereits ein Erfolg“, | |
bemüht sich Selenskyj klarzustellen. Gesprochen werden soll über | |
Ernährungssicherheit, über nukleare Sicherheit und militärische Hilfe. Das | |
Ergebnis würde wie auch in Berlin am Dienstag ein Zeichen der Solidarität | |
für die Ukraine sein. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fasste | |
seine Hoffnung so zusammen: „Glaubt weiter an die Ukraine.“ Die Zeit läuft. | |
11 Jun 2024 | |
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[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
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[3] /Friedenskonferenz-in-der-Schweiz/!6012997 | |
## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
Anastasia Magasowa | |
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